„Wir leben von diesem Hass“

Franz Jungs Autobiografie „Der Weg nach unten“

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Jungs Autobiografie erschien erstmals vor gut fünfzig Jahren. Damals, 1961, löste das Buch wütende Proteste aus. Die meisten der in seinem Bericht dargestellten Personen lebten noch, und viele fühlten sich verkannt, Jung hatte weder auf politische oder künstlerische Ideologien noch auf einzelne Personen irgendwelche Rücksichten genommen, auch auf sich selbst nicht. Das kam nicht gut an.

Einen kleinen Nachruhm erfuhr er dann einige Jahre später im Umkreis der 1968er. Es gab eine Gruppe von Interessierten, übrigens sowohl Ost- als auch Westdeutsche, die Jung für sein revolutionäres Engagement ebenso wie für seinen konsequenten Anti-Stalinismus verehrten und im engen Kontakt untereinander sein Andenken bewahrten. Daraus erwuchsen eine Neuauflage des „Wegs nach unten“ sowie eine Gesamtausgabe der Schriften Jungs (beides in der Hamburger Edition Nautilus) ebenso wie die Biografie „Das Verschwinden des Franz Jung“ des langjährigen Ostberliner Jung-Forschers Fritz Mierau.

Wer aber war dieser Franz Jung? Geboren wurde er 1888 im schlesischen Neiße, in die bescheidenen Verhältnisse einer katholischen Familie. Schon als Schüler unternahm er erste Versuche, innerlich von dort wegzukommen. Mit der Aufnahme des Studiums (unter anderem Kunst und Volkswirtschaft) – das er nie abschloss – befreite er sich dann ganz aus diesem provinziellen Milieu, fand Anschluss an künstlerische Kreise, begann zu schreiben. Gleichzeitig arbeitete er auch als Wirtschaftsjournalist.

Dieses ungewöhnliche Doppeltalent als Schriftsteller und Finanzexperte prägte seine Person. Jung gehört zu den erfolgreichen Schriftstellern seiner, der expressionistischen, Generation. Aber anders als viele seiner Künstlerkollegen hatte er auch nie Probleme damit, Geld zu verdienen, wirtschaftliche Unternehmungen zu organisieren. Als drittes, vielleicht sogar wichtigstes Talent, trat dazu ab dem Ende des Ersten Weltkriegs das politische: Jung entdeckte für sich das Ideal der Revolution. Hier fand er das Gemeinschaftsgefühl, das er in seiner Familie so schmerzlich vermisst hatte. Für dieses Ideal hat er seitdem gelebt, es gegen Angriffe von allen Seiten verteidigt. Alle seine künftigen Projekte sind aus diesem Zusammenhang heraus zu verstehen.

Trotz dieser sympathischen Grundhaltung bleibt dem heutigen Leser der Autobiografie die Person Jung zunächst einmal fremd. Das mag an der künstlerischen Form liegen: Dem Buch fehlt das Warme, das Persönliche – der Autor schrieb es als Groteske. Das wird besonders deutlich an der Beschreibung der Kindheit im schlesischen Neiße. Hier vermisst der interessierte Leser wichtige Informationen zur Familienkonstellation sowie zur Charakteristik der Hauptfigur, die zum Verständnis der erzählten Vorgänge nötig wären. Obwohl Jung viele Details genau und anschaulich schildert, versteht man nicht wirklich, was eigentlich in dieser Familie vorgefallen ist. Unmittelbar spürbar wird dagegen die geistige und emotionale Enge des Elternhauses. Was ihn von dort wegtrieb, das ist klar. Jung schildert Zustände, die er erlebt hat, authentisch, aber er erklärt nicht, vor allem nicht individuell psychologisch.

Diese Technik setzt sich fort: Jung macht aus seinem Leben keine stimmige Geschichte, er gibt ihm keine Entwicklung, die er erläutern könnte. Stattdessen reiht er beispielhafte Episoden aneinander, die jeweils eindringliche Schlaglichter auf einzelne Lebensstationen setzen. Familiäres bleibt dabei im Hintergrund, Lebensgefährtinnen und Kinder werden nur erwähnt, wo es unumgänglich ist.

Umso mehr erfährt man über die geschäftlichen und gesellschaftlichen Kreise, in denen sich der Autor bewegt hat. Überall, wo sich im Deutschland der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts etwas bewegte, war Jung vor Ort und mischte mit, so scheint es: in der Münchner Bohème um Erich Mühsam ebenso wie bei der expressionistischen Zeitschrift „Aktion“ oder beim Berliner DADA. Dass Jung auch selbst schrieb und veröffentlichte, kommt dabei nur am Rande zur Sprache, es ist ihm nicht wichtig.

Entscheidend geprägt wurde Jung durch das Erlebnis der Revolution von 1918/19. Ihn erfasste der „Rausch der Illegalität“, wie Fritz Mierau es nannte. Jung hatte zwar bei den regulären Kommunisten keine Chance (er war ihnen zu renitent), aber er führte für den Spartakusbund in Berlin Aktionen durch, stachelte später für die kommunistische Splitterpartei KAP Aufstände im Eichsfeld an. 1920 entführte er sogar ein Schiff nach Ruslland, um die Anerkennung der KAP durch die Kommunistische Internationale zu erreichen. Als er später in Holland verhaftet wird, rettet ihn der 1920 erworbene sowjetische Pass. Jung bleibt einige Jahre in Russland, als erfolgreicher Organisator von Wirtschaftsunternehmen. Als die Parteibürokratie ihm gefährlich zu werden beginnt, flieht er zurück nach Deutschland, arbeitet (zunächst unter falschem Namen) in der Theaterszene um Erwin Piscator, später als Börsenmakler, der unter anderem Kredite in die Sowjetunion vermittelt.

Als Hitler an die Macht kommt, ist Jung sowieso auf der Flucht – ihm ist schon wieder einmal ein Unternehmen geplatzt. Die Vorgänge des Jahres 1933 kann er so als eine Art Außenseiter beschreiben: Er fasst sie unter dem Motto „Rette sich, wer kann!“ zusammen, zeigt damit deutlich: Es haben beileibe nicht alle gejubelt, als Hitler sich zum Diktator machte.

Jungs Bericht endet mit der Schilderung seines Exils in Ungarn. Das Kriegende erlebt er als internierter Staatenloser in einem Lager in Italien. Die folgenden, sicher sehr interessanten Jahre nach 1945 sind leider nicht mehr Thema des Buches.

Was den „Weg nach unten“ so interessant macht, das sind nicht nur diese historischen Schilderungen, es ist auch die Art und Weise, wie der Autor sich selbst stilisiert. Fast könnte man die Figur, als die er sich darstellt, eine Verkörperung des Expressionismus nennen. Da ist die Verachtung des Elternhauses und der wilhelminischen Gesellschaft, zudem die gefühlsintensive Ausdrucksweise, die aber nie individuell oder gefühlig sein will – und vor allem die Stilisierung der eigenen Person als selbstständig, rücksichtslos Handelnder und die Lust an Grenzüberschreitung und Umsturz: „wir müssen es zugestehen: wir leben von diesem Hass“, schreibt er über sich und seine Weggefährten. Dass Jung auch Schriftsteller ist (also jemand, der reflektiert und künstlerisch formt), dafür schämt er sich fast. Dass er intensiv Liebender, auch treu sorgender Vater ist (seinen Sohn Peter hat er einige Zeit zu Hause erzogen, während seine Lebensgefährtin arbeiten ging), das erklärt er zur Nebensache.

Im Vordergrund stehen die gesellschaftlichen und geschäftlichen Aktionen, die er kraftvoll und geschickt vorantreibt bis zum jeweiligen Scheitern. Eines der am häufigsten benutzten Verben in dieser Autobiografie ist „explodieren“. Grenzen der Legalität werden dabei lustvoll überschritten, auch moralische Grenzen gelten der Figur Jung wenig: Wenn er Schreibmaschinen braucht, raubt er auch schon einmal das Büro eines guten Freundes und revolutionären Weggefährten aus (so geschehen 1919 in Berlin); den engen Weggefährten Piscator überschüttet er in seinem Bericht seitenlang mit Hass und bemerkt abschließend über dessen Theaterprojekt: „Vielleicht hat das Amoralische daran mich angezogen.“ Und auch mit sich selbst geht er erbarmungslos um, in immer neuen Phantasien von Untergang, Verhaftung, Selbstmord. „Vielleicht hätte man schon damals besser daran getan, mich totzuschlagen“ heißt es zum Beispiel über seine Aktivitäten in der Revolutionszeit – und über die Exiljahre in Ungarn: „Ich selbst konnte mir in all den Jahren nichts Glücklicheres vorstellen, als mich selbst umzubringen: zerstampft, zerschmettert, runtergestürzt in den Abgrund“.

Das ist manchmal kein Lesevergnügen, und es ist auch nicht in jedem Detail glaubhaft. Aber es ist aufrichtig, aufrichtigerer jedenfalls als vieles, was über dieses 20. Jahrhundert in Deutschland geschrieben wurde. Insofern bieten die erzählten Episoden historisch wertvolle Einblicke in viele Brennpunkte dieser Zeit: Wie das eigentlich so war während der Novemberrevolution, wie sich der sowjetische Staat etablierte oder Piscators Bühne, darüber erhält man in diesem Buch – frei von Vorbehalten – aufschlussreiche Auskünfte, ebenso über die Stimmung im Jahr 1933 oder die letzten Tage Mussolinis. Vor allem aber repräsentiert Jung in seiner Person das explosive Gemisch, das diese Zeit ausgemacht hat, und er zeigt in seiner Person, dass diese zerstörungslustige Jahrhunderthälfte, die uns heute schon so fremd erscheint, durchaus auch ihr Gutes gehabt hat. Vielleicht sollte man diese Zeit nicht nur von den Katastrophen her denken, mit denen sie endete – es gab in ihr auch einen guten Geist, wie er sich in Franz Jung offenbart.

Titelbild

Franz Jung: Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit.
Edition Nautilus, Hamburg 2013.
436 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783894017774

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