Ein Panorama der Angst

Annette Pehnt zeichnet in ihrem „Lexikon der Angst“ Bilder alltäglicher Ängste

Von Annamarie SchimmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annamarie Schimmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Betrachtet man die umfangreiche Liste der Bücher, die den Begriff „Angst“ im Titel tragen, fällt eines sofort auf: Es handelt sich zumeist um Kriminalromane und Thriller oder um psychologische Selbsthilfeliteratur. Das mag zum Einen daran liegen, dass der potentielle Leser bei Unterhaltungsliteratur durch die Distanz der Fiktion eine Lust an der Angst empfinden kann, einen Nervenkitzel mit Sicherheitsnetz. Zum Anderen zeigt die große Zahl an Selbsthilfebüchern, dass viele Menschen Angst als ein beherrschendes Gefühl wahrnehmen, das sie gerne überwinden würden.

Mit Annette Pehnts „Lexikon der Angst“ liegt nun ein Buch vor, dessen Titel zunächst eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Emotion vermuten lässt. Doch das ist es nicht. Es enthält kurze Geschichten, ja vielmehr Situationen oder Bilder, die von Angst handeln und  alphabetisch nach ihrem Titel geordnet sind. Nimmt man den Titel „Lexikon“ im Sinne eines Nachschlagewerks beim Wort, so muss hier betont werden, dass man zwar nach Lust und Laune im Buch einzelne Lemmata nachschlagen kann, Definitionen von Angst werden einem jedoch verweigert. Vielmehr fächert Pehnt verschiedene fiktionale Bilder von Angst auf, die stets in der dritten Person geschildert werden. Sowohl auf Namen als auch auf äußerliche Beschreibungen der Figuren wird zugunsten der möglichen Leseridentifikation verzichtet. Dabei legt Pehnt aber offensichtlich Wert darauf, alle Altersgruppen, mögliche Berufsstände sowie beide Geschlechter gleichrangig zu Wort kommen zu lassen. Doch, und das ist eine Stärke dieses Erzählbandes, sind diese Distinktionen gar nicht notwendig, um eine Identifikation möglich zu machen. Diese geschieht durch Assoziationen und das Abrufen von bekannten Ängsten – wer hat nicht Angst davor, aus Versehen die Herdplatte nicht ausgestellt zu haben? Oder fürchtet sich vor einem Flugzeugabsturz, Verkehrsunfall, dem Verlust eines geliebten Menschen oder dem Tod? Dagegen wirken einige Geschichten wiederum fremd, mitunter sogar irritierend, wenn beispielsweise in „Friedensstifter“ die Angst vor Engeln die Figur zum ewigen Zurückstecken verdammt.

So ist in „Keller“ die Angst des ältlichen Vaters vor der Habgier seiner Kinder kein unbekannter Topos. Der Vater hat in seinem Keller seine Ersparnisse versteckt und vermutet hinter allen Verhaltensweisen der Kinder, die vom Leser durchaus auch als reine Fürsorge gelesen werden können, Versuche den Vater zu überlisten und das Geld an sich zu nehmen. Als der Sohn eines Tages den Keller aufräumen will, wird der Vater von der Angst übermannt, dass er das Versteck finden könne. Dabei vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart mit der alles beherrschenden Angst. Der Vater erinnert sich wie der Sohn früher gesungen habe, „bevor er dann in den Stimmbruch kam und nicht mehr zu wachsen aufhörte. Wenn er im Keller weiterwächst, wird er an die Regale stoßen, die Blumentöpfe werden zersplittern, das Geld wird in den Staub rutschen, wo es niemand mehr finden kann, und er wird den Sohn im Keller nicht mehr loswerden, weil die Kellertreppe zu eng ist.“

Dieser metaphorischen Darstellung von Angst stellt Pehnt in „Kooperation“ ihre Unausdrückbarkeit gegenüber. Nichts kann die Todesangst des siebenjährigen Mädchens vertreiben. Es wird zum Schulpsychologen geschickt und soll anhand von Spielzeugfiguren das Wovor ihrer Angst benennen. Als das Mädchen dies nicht kann, wird ihr mangelnde Kooperationsbereitschaft vorgeworfen.

Die Autorin porträtiert auf diese Weise die heutige Gesellschaft, in der es Unerklärliches und Unlösbares nicht mehr geben darf. Zudem wird hier besonders deutlich, was Angst ist oder vielmehr eigentlich nicht ist: etwas Konkretes. Die Angst vor der Möglichkeit des Todes, der Gefahr, dem Verlust, der Freiheit, aus seinem Leben etwas anderes zu machen und dabei zu scheitern („Doppelglas“), dies sind moderne Formen der Angst, die sich nicht durch Versicherungen abwenden lassen.

In „Vorsehung“ wird eindringlich die Flugangst eines Mannes geschildert, der an eine nicht weiter benannte höhere Kraft eine Art Pfand adressiert. Die für seine Rückkehr ausgemachte Schnupperstunde in der Reitschule soll dem Mann garantieren, dass das Flugzeug nicht abstürzt. Diese sinnlos erscheinende Versicherung vor der Gefahr zeigt, wie angesichts des Gefühls des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit in der Angst nach Möglichkeiten der Sicherheit gesucht wird, so weit sie auch von der Ursache der Angst entfernt sind.

Diese Versicherung bleibt dem siebenjährigen Mädchen verwehrt. „Sie gibt sich Mühe, weil sie die Angst gerne verlieren möchte, es wäre schön, einfach nur vor Gewitter Angst zu haben, und wenn es nicht mehr donnert, ist auch die Angst vorbei.“ Angst ist omnipräsent, der Mensch empfindet sie eben nicht nur angesichts einer akuten Bedrohungssituation, sondern auch in scheinbar ungefährlichen Situationen. Folgt man Kierkegaard, der in seiner Schrift „Der Begriff Angst“ von 1844 die Angst als „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“ bezeichnet, so ist der einzige Weg seine Angst zu überwinden, sich ihr zu stellen. Die Flucht vor ihr vergrößert sie nur und – wie am Ende von „Kooperation“ – lässt das Kind nicht mehr schlafen.

Pehnt, deren 2007 erschienenes Buch „Mobbing“ letztes Jahr verfilmt wurde, beobachtet auf minutiöse Weise das Verhalten des Einzelnen. Menschen haben nicht nur verschiedene Ängste, sie nehmen sie auch unterschiedlich wahr. Allen gemein ist, dass die Angst ohne Vorwarnung und mit plötzlicher Macht in das tägliche Leben herein bricht und es in Unordnung bringt. Die Figuren sind gezwungen, ihr Leben auf die Angst auszurichten, wodurch sie zum lebensbestimmendem Moment wird.

Annette Pehnt hat ein Lexikon der Angst geschrieben, das nicht versucht verschiedene Formen von Angst zu definieren und noch weniger eine Anleitung zur Angstbekämpfung sein will. Sie schafft es vielmehr auf prägnante Weise, ein Panorama von Menschen mit ihren vielfältigen alltäglichen Ängsten, Problemen und Bedürfnissen zu zeichnen, in dem sich mit Sicherheit jeder wiederfinden kann.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Annette Pehnt: Lexikon der Angst.
Piper Verlag, München 2013.
176 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056137

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