Anatomischer Atlas
Weshalb Arno Schmidts Karl-May-Studie Schule machen sollte
Von Lutz Hagestedt
Manche Autoren des 19. Jahrhunderts geben uns Rätsel auf, darunter Charles Sealsfield (1793–1864), ein Vorläufer Karl Mays. Dessen Hauptwerk, die Novellensammlung „Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken“, wird immer wieder nachgedruckt, und teils wird auch nur isoliert die wichtige Auftakterzählung mit dem Titel „Die Prärie am Jacinto“ herausgegeben. Ein Grund dafür mag sein, dass die meisten anderen Erzählungen des Zyklus doch recht schauerlich zu lesen sind.
Ähnlich wie bei May freilich ist die Riege der Sealsfield-Anhänger emsig bemüht, ihren glühend verehrten Autor gegen alle Kritik zu verteidigen. Günter Schnitzler beispielsweise, Herausgeber einer ansprechenden und wohlfeilen Edition des „Kajütenbuchs“, beruft sich auf Hugo von Hofmannsthal, der Sealsfields Kabinettstück „Die Prärie am Jacinto“ 1912 in seine berühmte Anthologie „Deutsche Erzähler“ aufgenommen hatte. Hofmannsthals bewusste Entscheidung für Sealsfield, so Schnitzler, sei der Grund dafür, dass ein „modernes und angemessenes Verständnis“ des Autors Sealsfield heute noch möglich sei. Doch muss Schnitzler, um dies behaupten zu können, nicht nur Sealsfield idealisieren, sondern auch Hofmannsthal, indem er diesem stupende Kenntnisse der Literatur des 19. Jahrhunderts attestiert. Der „umfassend gebildete, über eine beinahe unvergleichliche Kenntnis der Literatur“ verfügende Dichter habe Sealsfields „Prärie am Jacinto“ als „wichtiges Zeugnis unbestreitbarer Hochschätzung“ in seine Anthologie aufgenommen. Und dies wiege um so schwerer, als Hofmannsthal über eine „unvergleichliche Kenntnis der Literatur wie der bildenden Kunst, der Philosophie wie der Musik“ verfügt habe.
Soll man das glauben? Meines Wissens war Hofmannsthal keineswegs ein großer Leser und Kenner des 19. Jahrhunderts; vielmehr, so meine Mutmaßung, war er eher ratlos und hat schließlich eine Ubw-Entscheidung getroffen, als er „Die Erzählung des Obersten Morse“ in seine Anthologie aufnahm. Denn ähnlich wie die „Sitara“-Welt Karl Mays ist auch die exotische Welt Sealsfields von erotomanischen Verklemmtheiten und Organ-Abbildungen aller Couleur durchgeistert. Selbst das „Kajütenbuch“ ist in letzter Instanz nicht viel anderes als die delikate Darstellung eines „Gesamtleibes“, und es wäre ohne weiteres möglich, mit Arno Schmidts Methode diesen „Anatomischen Atlas“ Sealsfield’scher Prägung philologisch und psychologisch besser zu bestimmen als bisher – als leidenschaftliche Unterleibsphantasie nämlich, in der natürlich auch die Gedärme sexualisiert sind.
Genau dieser unterschwellige „Verdacht“ nicht ganz geheurer Bedeutungsebenen mag dazu geführt haben, dass viele Herausgeber von Sealsfields Œuvre sich berechtigt, ja gezwungen sahen, Stückwerk zu publizieren. Erregte doch „das ‚Kajütenbuch‘ als Ganzes […] ästhetisches Unbehagen“. So schon 1967 Walter Weiss in einem hellsichtigen Aufsatz. Dieses Unbehagen bezieht sich, so meine These, primär auf das latent Sexuelle, das den Naturschilderungen Sealsfields ebenso wie seinen sozialen Lebensbildern eignet. Um aber eine solche Ubw-Lesart zu verhindern, hat der Autor diese ‚abdominale‘ Leiblichkeit quasi als ‚landeskundliche‘ Studie camoufliert. Folgt man den Spuren Arno Schmidts, so gewinnt man die Erkenntnis, dass Sealsfield ein bildschöpferischer Vorgänger Karl Mays gewesen sein muss, der mit seinen Körperlandschaften die erhitzte Phantasie seiner Leser zusätzlich anzuheizen wusste. Winnetous Schöpfer jedenfalls imitierte Sealsfield bis in die sprachliche Gestik hinein.
Zur Analyse dieser bedenklichen ‚Ausdruckslandschaften‘ und Gesellschaftsbilder im Œuvre Sealsfields müsste man also Schmidts Vorgehensweise adaptieren und auch seine ‚Verschreibkunst‘ imitieren. Mittels „queerer“ Sealsfield-Lektüren ließe sich dann die verborgene bzw. offenbare (latente) Promiskuität seiner Weltentwürfe erweisen. Als Paradebeispiel mag dazu die kleine Novelle „Der Fluch Kishogues oder Der verschmähte Johannistrunk“ gelten, eine Omnipotenzphantasie in Old Shatterhands Manier.
Kishogue, ein „gewaltig glorioser Bursche“, geistig schlicht, aber sexuell potent, wurde eingelocht. Ähnlich wie Karl May. Denn weil er seine ‚Sämereien‘ lustvoll unter die „munteren Dirnen“ der „sieben Pfarrgemeinden“ seines Sprengels verteilt hat (und auch die schmuckste Tochter von Peter Flanegan bedachte), muss er ins „Loch“. Dieser „rührige Bursche“ hat es einfach zu doll getrieben, und nun soll er „das Strecken und Recken“ auf dem „hölzernen Sofa“ der Folter kennenlernen. Doch Kishogue scheint seine Zeit hinter Gittern recht behaglich zu verbringen: es ist in seinem Gefängnis ein geschäftiges Kommen und Gehen, ein „Aus- und Einlassen und Auf- und Zuriegeln“, vulgo ein lebhaftes Koitieren mit wechselnden Besuchern. Sogar die „Assisen“, die Mitglieder des Schwurgerichtes, halten ihren „Ass“ hin, und der Richter, der über Kishogue zu Gericht sitzt, wird mit seiner damenhaften „gepuderten Perücke“ gar als „Weibel“ bezeichnet: ein „Männlein“, heißt es zudem, „das hin und her schnellte“. Der Knast als ‚Klappe‘ also, und fast tut es den Honoratioren der Grafschaft leid, diesen „gewichsten Burschen“ am Ende hängen zu sehen. Vielleicht, weil Kishogue es mit dieser Spielart des „Hantierens“ wohl doch zu arg trieb, bekommt er schließlich die Hanfbraut zu spüren.
Arno Schmidt argumentierte unter anderem mit der Wortebene, ihrer Lautgestalt und ihrer Schreibweise, um den sexuellen Identitäten von Karl Mays Protagonisten auf den Grund zu kommen. Wie wichtig dies ist, lässt sich jedoch nicht nur bei ihm, sondern auch bei Mays Vorbild Sealsfield zeigen, wobei unbedingt Textausgaben mit dem originalen Lautstand zu konsultieren sind. Dies demonstrieren insbesondere jene Editionen, die ohne Not „queer“ zu „quer“ verändern, damit prekäre Ubw-Lesarten von vornherein ausgeschlossen sind und schlichteren Lektüren weichen können. Arno Schmidt aber hat die Geschlechtsidentität konstruierter (fiktiver) Realitäten ernsthafter und umfassender befragt, als es die Oberflächenbefunde nahelegten. Seinem analytischen Zugriff eignete dabei etwas Denunziatorisches (und wohl auch Homophobes), dennoch sollte er als heuristisches Verfahren und als rezeptionsästhetischer Ansatz ausgebaut werden. Ein „modernes und angemessenes Verständnis“ des Autors Sealsfield wäre heute noch möglich, wenn man Schmidts Methode folgte: Mögen sie auch philologisch prekär sein, die Ergebnisse rechtfertigen seine Lesart.
Charles Sealsfield: Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken.
Hg. von Günter Schnitzler und Waldemar Fromm.
Langen Müller, München 2003.
Jahrbuch der Charles-Sealsfield-Gesellschaft, 15.
384 Seiten, 24,99 Euro.