Wie die Perlen einer Kette

Die Berliner Psychoanalytikerin Karin Zienert-Eilts untersucht das Leben Karl Abrahams im Licht der Konflikte der psychoanalytischen Bewegung

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War Karl Abraham (1877-1925) – „der erste Psychoanalytiker in Deutschland“, Begründer der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung (BPV) und im Zeitraum 1914-1918 sowie 1925 Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) – ein „trockener Schleicher“ wie ihn Sigmund Freud und C.G. Jung in ihren Briefen nicht gerade schmeichelhaft nannten? Einen „trockenen Schleicher“ nannte schon Goethes Faust seinen Famulus Wagner und so schrieb auch der literarisch sehr beflissene Freud an C.G. Jung am 27. August 1907: „Ihre Schilderung seines [Abrahams] Charakters hat so den Stempel des Zutreffenden, daß ich sie ohne weitere Prüfung annehmen möchte. Nichts gegen ihn einzuwenden, und doch etwas, was die Innigkeit ausschließt. Ein wenig ,trockener Schleicher‘, sagen Sie, und das muß mit Ihrem offenen, andere mit sich fortreißenden Wesen hart kontrastieren.“

Um der Abwertung Karl Abrahams ein Ende zu setzen, nimmt sich die Psychoanalytikerin Karin Zienert-Eilts in ihrem Buch „Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext der psychoanalytischen Bewegung“ vor, „ein plastisches Bild“ dieses Psychoanalytikers zu malen, welches ein differenzierteres und ausgewogeneres Urteil über ihn ermöglichen würde. „Korrektheit“, „Vertrauen in die Rationalität“, „Selbstreflexion“, „Zurückhaltung und Selbstbeherrschung“ nach dem Ideal „sine ira et studio“ und ein unverbrüchlicher Optimismus sind laut Zienert-Eilts die wichtigsten Eigenschaften Abrahams gewesen. Freud selbst hatte Abraham attestiert, ein „Führer zur Wahrheitsforschung“ und „integer vitae scelerisque purus“ („untadelig im Leben und frei von Verbrechen“) zu sein. Mehrere Aussagen von weiteren Zeitgenossen Abrahams und vor allem unveröffentlichte Briefe zwischen Ernest Jones und Abraham sowie zwischen Abraham und Max Eitingon sollen den „Schatten, der auf dem Charakterbild Karl Abrahams“ liegt, ebenfalls zerstreuen.

Nach einem kurzen Überblick über die voranalytische Karriere Abrahams führt das Buch seine Leser durch die höchst turbulente und konfliktreiche frühe Geschichte der Psychoanalyse vom Jahre 1907/1908 an, als Abraham Psychoanalytiker wurde, bis zum Jahr 1925, als Abraham starb. Den wichtigsten Stationen und Höhepunkten dieser Konflikte ist der Großteil des Buches gewidmet: Der jahrelangen und seit Abrahams Assistenzzeit am Burghölzli stammenden Animosität zwischen ihm und C. G. Jung, den Kontroversen um das 1912/1913 gegründete Komitee (den geheimen Bund zwischen Freud und seinen engsten Mitarbeitern Sándor Ferenczi, Otto Rank, Karl Abraham, Ernest Jones, Hanns Sachs und Max Eitingon), der „Angelegenheit Liebermann“, der Rivalität Abrahams mit Max Eitingon und insbesondere der Krise um den Abfall Otto Ranks. Eine letzte Meinungsverschiedenheit, welche einen weiteren „Schatten“ auf Abraham warf, war der um den Film „Geheimnisse einer Seele“ 1925 entbrannte Streit zwischen Freuds Wiener und Berliner Anhängern.

Im Ganzen gesehen sind hier weniger die konkrete Verantwortung, Schuld oder überhaupt Handlungsweise Abrahams für den Leser von Interesse – obwohl genau diese im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses der Autorin stehen – als vielmehr die zusammenhängende und recht detaillierte Darstellung und Neubeleuchtung einer ganzen Kette von Konflikten, die aus der Geschichte der Psychoanalyse nicht wegzudenken sind, die historisch geworden sind und die die Geschichte der Psychoanalyse sind. Insofern ist das Buch aber auch eine Gratwanderung zwischen der Biografie des Psychoanalytikers Karl Abraham „im Kontext der psychoanalytischen Bewegung“ und der Untersuchung einer höchst bedeutenden Zeitspanne psychoanalytischer Geschichte im Licht der Biografie einer ihrer Zentralgestalten.

Mit der Herausarbeitung von Freuds Ambivalenz Karl Abraham gegenüber, die sie unter anderem mit Freuds Charakterisierung Abrahams als „zu preußisch“ illustriert, leistet die Autorin einen Beitrag auch zum besseren Verständnis der „wechselvollen Beziehung“ der beiden Psychoanalytiker, die bisher bis auf wenige Ausnahmen sehr einseitig als ungetrübt betrachtet und „unter weitgehender Auslassung der Konflikte und der negativen Seite“ behandelt wurde. Sowohl die „Dreiecksdynamik“ zwischen Freud, C.G. Jung und Abraham als auch die in seinen letzten Lebensjahren sehr bedeutungsvolle Freundschaft Abrahams mit Freuds ehemaligem Alter Ego Wilhelm Fließ ergänzen das Bild der spannungsreichen Interaktion zwischen Freud und Abraham und zeigen zudem Freuds „Beeinflussbarkeit in den Dreiecksdynamiken“ auf – etwa seine Neigung, in Konflikten „nicht neutral zu bleiben, sondern demjenigen mehr Gehör zu schenken, der sich privat an ihn wandte […]“. Und nicht zuletzt seinen Wankelmut und Frustration, womit das tradierte Bild vom heroischen Freud wieder einmal durchkreuzt wird und Freud beinahe wie ein Gegenpol zum beständigen, gleichmütigen Abraham erscheint: „Freud, erschüttert durch Rank, verärgert über Abraham und enttäuscht von Ferenczi, stürzte sich [nach der Rank-Affäre] ratsuchend und emotional mehr und mehr auf Eitingon […]“.

Erfreulicherweise hat das Buch also mehr zu bieten als die bloße Bestandsaufnahme der positiven und negativen Urteile über Abraham. Es ist auch mehr als ein Charakterporträt Abrahams, mehr als eine Richtigstellung von Jungs „bitterbösem“ Urteil vom „trockenen Schleicher“ Abraham, wie man beim Lesen stellenweise befürchten mag. Durch die minutiöse, wenn auch nicht ganz unvoreingenommene Klärung von Abrahams Rolle in den Konflikten und seiner Funktion in der Gruppendynamik gelangt die Autorin bis zur Ebene der psychoanalytischen Politik und überschreitet somit – eher unbeabsichtigt, wie es scheint – die reine Biografie und die rein psychologisierende Charakterzeichnung. Es gelingt ihr, zentrale Tendenzen wie die Polarisierung und Lagerbildung als Charakteristika und Spezifika psychoanalytischer Geschichte zu benennen und den „schleichenden Zersetzungsprozess“ psychoanalytischer Institutionen zu Abrahams Zeit zu registrieren.

Äußerst fragwürdig ist es dagegen, diese Prozesse nur damit zu erklären, dass sie – wie die negativen Urteile über Abraham übrigens auch – „in Affekten wurzeln“. Und gelinde gesagt verwunderlich ist es, dass Zienert-Eilts in ihrer Biografie fast vollkommen und von vornherein darauf verzichtet, sich auf Abrahams wissenschaftliches Werk einzulassen, obwohl sie ihn in Anlehnung an Ernst Falzeders treffende Formulierung als „wissenschaftliches Schwergewicht“ bezeichnet und überdies ausdrücklich von der „wissenschaftlichen Ebene als Grundlage der Beziehung“ zwischen Freud und Abraham spricht. Diesen Verzicht bekundet Zienert-Eilts schon in ihrer Einleitung: „In meiner Arbeit werde ich nicht detaillierter auf das theoretische Werk Karl Abrahams, dessen Implikationen und spätere Weiterentwicklung eingehen. Dies bleibt einer nächsten Arbeit vorbehalten.“

Abgesehen von einer Analyse von Abrahams Segantini-Studie (1911) beschränkt sich der Aufweis der wissenschaftlichen Relevanz von Abrahams Werk auf folgende summarische Bemerkung zu Beginn des Buches: „Seine wissenschaftliche Bedeutung für die Psychoanalyse liegt vor allem in der Erforschung der manisch-depressiven Psychosen, der Entwicklung einer Theorie der Depression und der Konzeptualisierung der präödipalen Organisationsstufen der Libido […]“. Diese Leistungen werden aber unverzüglich in die „Ideengeschichte“ verwiesen, während die von der Autorin im weiteren Verlauf des Buches gezeichnete Geschichte lediglich eine Geschichte der Affekte und der Affektbeherrschung, der „emotionalen Verwicklungen“ und der auf Affekten basierenden, „wie Perlen einer Kette“ aneinandergereihten gruppendynamischen Konflikte in der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung ist.

Auch Freud ignorierte die Rolle der Affekte in der von ihm ins Leben gerufenen psychoanalytischen Bewegung nicht, doch er erkannte deutlich und unmissverständlich die dialektische Verschränkung zwischen wissenschaftlichen Divergenzen und „affektgesteuerten Reaktionen“, zum Beispiel wenn er über Abraham schrieb, er sei „keiner von jenen, die wissenschaftliche Gegnerschaft in persönliche Gehässigkeit umsetzen […]“. Etwas überspitzt und im Ton der gerade zitierten Äußerung gesagt, vernachlässigt Zienert-Eilts in ihrem Buch die „wissenschaftliche Gegnerschaft“ und bleibt nur bei der „Gehässigkeit“ und den „kriegerischen“ Affekten als Grundlage und Motor der psychoanalytischen Bewegung stehen. Aus dieser verkürzten Perspektive betrachtet, kristallisiert sich dann zwangsläufig als höchste Leistung des von der Autorin sehr positiv gezeichneten Abraham nicht dessen wissenschaftliches Werk, sondern dessen Fähigkeit heraus, „durch Beherrschung der Affekte […] der Sache der Psychoanalyse zu dienen.“

Kein Ruhmesblatt für die von Karl Abraham jahrelang bestimmte psychoanalytische Bewegung also, das sich aus Zienert-Eilts’ Buch herauslesen lässt. Zum Glück ist ihre Sicht infolge der Ausblendung der wissenschaftlichen Ebene nur bedingt und nicht ohne Einschränkung annehmbar.

Titelbild

Karin Zienert-Eilts: Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext der psychoanalytischen Bewegung.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2013.
352 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783837922912

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