Der Biografist

Zu Alfred Anderschs ,Realismus‘ und den Bemühungen seiner Verehrer

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

In den 1947/48 verfassten Programmschriften beansprucht Alfred Andersch für sich und andere deutsche Nachkriegsliteraten den Mut zum Klartext, einem nach dem Nationalsozialismus überfälligen. Wie „Der Anti-Symbolist“ so bündig formuliert: „Aufgabe der deutschen Literatur: revolutionärer Realismus.“ Warum revolutionär, erläutert ein berühmt gewordener Vortrag des 33-Jährigen auf dem zweiten Treffen der Gruppe 47 („Deutsche Literatur in der Entscheidung“): Mit der neuen Klarheit hebe sich die junge Literatur von beiden Lagern der älteren Autorengeneration ab – von den Inneren Emigranten, die nach zwölf Jahren erzwungenem Symbolismus nicht mehr „die Kraft unmittelbarer Aussage“ aufbrächten, aber auch von Exilanten wie Alfred Döblin und Heinrich Mann, die ihre Romane mit Tendenz und Predigt aufgeladen hätten, daher mindere Realisten seien. Den Werken dieser Geflohenen glaubt der in Nazi-Deutschland gebliebene Newcomer den „reinen Realismus“ vorauszuhaben. „Realistische Literatur“, so heißt es zuversichtlich, „ist Literatur aus Wahrheitsliebe; die Wahrheit aber spricht immer für sich selbst, sie hat keine Tendenz und keine Predigt nötig.“ Annonciert wird also ein ästhetischer Einschnitt.

Grund genug, die Wahrheitsliebe von Anderschs Werken zu untersuchen – sollte man meinen. Doch damit tut sich seine Gemeinde schwer. Auf die Totalentwertung des Œuvres durch den Erzählerkonkurrenten W. G. Sebald („Between the devil and the deep blue sea“, 1993), hat sie mit totaler Lobrede reagiert; selbst zur einfachsten Unterscheidung, der zwischen rühmlichen und weniger rühmlichen Werkphasen, will es nicht reichen.

Affektiv verständlich ist der Abwehrreflex insofern, als Sebald in Anderschs Erzählen nur Lüge und Kolportage sehen wollte. Dem Polemiker den Willen zur Weißwäsche entgegenzusetzen, ist dennoch keine gute Idee. Schon deshalb nicht, weil eine zentrale Abwehrtechnik der Verehrer zu durchsichtig ist. Um die Störung aus Norwich als grundloses Eifern abtun zu können („moralisch ebenso rigoros wie schlecht recherchiert“, Dieter Lamping), lässt man den forcierten Wahrheitsanspruch von 1947/48 seit Jahr und Tag unter den Tisch fallen. Als könne man so vergessen machen, dass das Programm des aufstrebenden Andersch die kritische Relektüre seiner Schriften allererst auf Touren gebracht hat. Ausgelöst wurde sie nicht nur durch Stephan Reinhardts Andersch-Biografie (1990) mit ihren unerfreulichen Informationen zum Verhalten des Autors im Nationalsozialismus. Provoziert wurde sie durch einen narrativen Umgang mit den Fakten, der es mit dem revolutionären Realismus nicht allzu genau nahm.

Für die Hoffnung auf eine kollektiv vergessliche Germanistik ist Lampings Festrede in der Februar-Ausgabe von literaturkritik.de nur eines von vielen Beispielen. Sie ist aber ein besonders eindrucksvolles, enthält sie doch eine hübsche Konzession: 4% des Textes müssen Anderschs „Schwächen unterschiedlicher Art“ schon eingeräumt werden. Die freilich können, folgt man dem Experten, so gravierend nicht sein. Sie betreffen entweder nur Schriften, die ohnehin keiner mehr kennt („seine fantastischen Geschichten“), oder beschränken sich auf „Überfrachtungen“ – wobei das Problem auch bei Anderschs zeitgenössischen Lesern zu suchen ist („überfordert“). Und die Selbststilisierungen des Autors? Liegen im Rahmen des bei Autobiografen Üblichen, also bitte.

Mein Vorschlag, liebe Leser, ist, dass wir sie uns einmal anschauen: die ganz normalen Selbststilisierungen und die vielseitig realistischen Erzählungen, von denen der Kenner zu berichten weiß. Diskrepanzen zwischen Programm und Praxis des Erzählers zu benennen, bedeutet im Übrigen nicht, ihn herabzuwürdigen. Die Perspektive wäre genau umzukehren.

Anderschs Werk ist stark genug, Kritik auszuhalten; einer glättenden Lektüre bedarf es nicht. Abgesehen davon, dass sich viele seiner Arbeiten vom Vorwurf penetranter Selbstüberhöhung, wie ihn Sebald erhob, unberührt zeigen – so etwa das Meisterwerk von 1980, „Der Vater eines Mörders“, das in der Philippika aus England nicht zufällig übergangene –, abgesehen davon also bleibt das Œuvre dieses Autors wegen einiger erzählmoralischen Problemzonen lesenswert. Sie zeugen von symptomatischen Schwierigkeiten, im Nachkriegsdeutschland Realismus zu realisieren.

1. Kunst der Auslassung

In den „Kirschen der Freiheit“ (1952) präsentierte sich Andersch als Innerer Emigrant und kleiner Widerständler, weil Deserteur. Ausgespart blieb im „Bericht“, so der Untertitel, eine Erzählung mit reichlich Blut-und-Boden-Vokabular (1942), die Akkreditierung in der Reichsschrifttumskammer (RSK) als Nebenerwerbsschriftsteller, vor allem die dafür nötige Scheidung von der – nach nazistischer Rassen-Arithmetik – halbjüdischen Ehefrau (1943). Sebalds Textbefund lautete: Selbststilisierung mit gezielten Selektionen, die das nach Kriegsende Vorteilhafte, die Desertion, in den Vordergrund rücken („Hemingway-Glanz“) und dafür die Konformismen zum Verschwinden bringen. Dieser Befund trifft zu.

Wie hat sich Volker Wehdeking zu ihm verhalten, der Andersch-Monograf der 1980er-Jahre? Er fragt händeringend, wie man Andersch das „Durchlavieren im Krieg“ verübeln könne, wo doch die Diktatur des „Dritten Reichs“ „keinen Widerstand zuließ“. Sebalds „Selbstgerechtigkeit“ bleibe „ein Rätsel“ (literaturkritik.de 11/2008). So insinuiert man, der Unmensch aus Norwich habe politischen Widerstand im Nationalsozialismus gefordert – was einem Nachgeborenen natürlich schlecht zu Gesicht stünde. Allein, die Unterstellung des moralischen Rigorismus geht ins Leere, Heldentaten hat niemand verlangt. Dem Herausforderer missfiel vielmehr, dass sich Andersch als Erzähler nach 1945 mit einer „Aura des Widerständlerischen“ umgab, die in Spannung zur konformistischen Phase im Nationalsozialismus stand. Ein auf das Gefälle zwischen Nach- und Vorher, Selbstdarstellung und Realvita abhebender Ansatz, wenig rätselhaft.

Mit dem Allerweltswort „Durchlavieren“ wird man auch nicht glücklich. Es verwischt den Unterschied zwischen Anpassungen wie Schweigen und Rückzug, zu denen sich Menschen im Nationalsozialismus gezwungen sehen durften und die als Nachgeborener zu bekritteln anmaßend wäre – und solchen Anpassungen, zu denen auch in der nationalsozialistischen Diktatur niemand gezwungen war. Dazu zählt das Publizieren-Wollen noch unter den Bedingungen der NS-Kulturbürokratie, mit der Folge, einer ,halbjüdischen‘ Ehefrau auch offiziell den Laufpass zu geben, obwohl deren jüdische Mutter kurz zuvor deportiert wurde. Derlei Verhalten zu kritisieren ist also „selbstgerecht“. Interessante Semantik.

Für den Berichterstatter von 1952 war seine Entscheidung von 1943 ein moralisches wie ein kompositorisches Problem. Wir erinnern uns: Die Autobiografie der „Kirschen“ erzeugt den Sog einer geschlossenen und finalisierten Geschichte. Geschlossen, da sie aus einer einzigen Kette von Fluchten besteht: 1930 aus dem kleinbürgerlichen Elternhaus in die KPD, 1933 aus der gelähmten Partei in private Kunststudien („totale Introversion“), 1944 aus der Wehrmacht in die Freiheit von der Uniform. Finalisiert, da die Handlung auf die Desertion zuläuft; Letztere markiert einen Wiederholungszwang mit glücklichem Ausgang. Wie 1933 entzieht das erzählte Ich sich unter dramatischen Umständen einem Kollektiv, doch während das damalige Ich, wie die meisten anderen Genossen nach der faschistischen Machtübernahme, nur die Faust in der Tasche geballt hat, holt das von 1944 das Versäumte in einem Alleingang nach. Es wählt mit der Flucht aus der Wehrmacht die selbstbefreiende Tat, wieder ein Dégagement und eine Selbstabsonderung, diesmal aber auf politmoralisch hohem Niveau.

Das heißt, die wiederholte Selbstdeutung des Erzählers, in seinem Leben von Anfang bis Ende einen „unsichtbaren Kurs“ gehalten zu haben, unsichtbar noch für das erzählte Ich, sichtbar hingegen für das erzählende, wird durch die Handlungsführung plausibilisiert. Nur dass die faktual auftretende Erzählung eine Kursabweichung unsichtbar macht, ein Kapitel im wirklichen Leben, das sich in die Linie eigensinniger Entfernungen vom Kollektiv nicht fügt: eben den Blut-und-Boden-Text von 1942, die Anmeldung bei der RSK und die Verleugnung der ,halbjüdischen‘ Ehefrau. Das kompositorisch Unpassende streicht der Berichterstatter zugunsten narrationsinterner Stimmigkeit, um den Preis laxer Wahrheitsliebe.

Während Sebald das im Bericht Ausgelassene 1993 sichtbar macht, lässt ein Mainzer Literaturwissenschaftler es in einem Aufsatz von 2000 wieder verschwinden. Dieter Lamping arbeitet die Flucht als Leitmotiv der „Kirschen“ heraus, merkt auch an, dass „Andersch für seinen Bericht nur die Episoden seines Lebens aus[wählt], in denen etwas von dem Lebens-Sinn, der Flucht in die Freiheit, greifbar ist“, übergeht jedoch selbst in den Fußnoten, was der Autor dafür ausgeblendet hat.

Derlei Analyse mit Auslassung, in der Andersch-Philologie nach wie vor der gute Ton, weil artig ,immanent‘, ist schon wegen der vom Autor gewählten Gattungsbezeichnung abzulehnen, wenn auch diskretionswissenschaftlich verdienstvoll. Was der Exeget beschweigt, zählt nicht zu den lässlichen, auch in einem Bericht unvermeidlichen Selektionen; es war eine sinnverzerrende Auslassung, die aus einer zwischen Anpassung und Opposition schwankenden Vita eine politisch vorzügliche machte. Schweigt der Sekundärtext zur Sinnverzerrung, stabilisiert er sie. Positiv ausgedrückt: Autor und Interpret harmonieren prächtig – der eine lässt aus, der andere lässt die Auslassung aus (strukturelle Kopplung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung, für Bochumer Leser).

In der Werkausgabe von 2004 behält Herausgeber Lamping seine Linie bei; in den fünfseitigen „Hinweisen zur Interpretation“ der „Kirschen“ erwähnt er die Auslassung erneut mit keinem Wort. Nun aber tritt er die Flucht nach vorn an. Im Begleitkommentar des Bands 1 erweckt er den Eindruck, es gebe in Anderschs Vita gar keine wunden Punkte, die im Nachhinein hätten kaschiert werden müssen.

Begründung: Dass Andersch sich von seiner ersten Frau getrennt hat, um unter den Bedingungen des Nationalsozialismus Autor werden zu können, könne schon deshalb nicht stimmen, weil er die Befreiung von der RSK-Mitgliedschaft beantragt hat, keine Aufnahme. „Andersch ist somit tatsächlich ein Beispiel dafür, dass man in der Nazi-Zeit auch veröffentlichen konnte, ohne Mitglied der Reichsschrifttumskammer zu sein.“ Zwischen dem Wunsch zu publizieren und der Scheidung bestehe folglich kein ursächlicher Zusammenhang. Eine frohe Botschaft, die das Verfahren des Autors wie auch das seines Assistenten völlig legitim erscheinen lässt: 1943 hat sich ja ohnehin nichts Nennenswertes zugetragen. Sofort herrschte wieder ausgelassene Stimmung in der Gemeinde. Allein, die Botschaft verdankte sich schlechter Recherche.

Der Herausgeber befindet sich in einem Irrtum, der einem aufgrund des verwirrenden Begriffs „Befreiung“ leicht unterlaufen kann. „Tatsächlich waren“, so Volker Dahm vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, „die ,befreiten Mitglieder‘ (eigentlich ein Paradoxon) in ihren Rechten und Pflichten gegenüber der Kammer in jeder Hinsicht den regulären Mitgliedern gleichgestellt […]. Das bezieht sich auch gerade auf die Abstammung […].“ Für den „Kriegsbefreiungsschein“, den Andersch von der RSK erhielt, war ein Antrag auszufüllen, „der selbstverständlich auch die Frage nach der Rassezugehörigkeit enthielt“. Auch die Nebenerwerbsschriftsteller, befreit von den Beitragszahlungen, mussten, um eine Publikationsgenehmigung zu erhalten, die ,Rassezugehörigkeit‘ der eigenen Person wie die des Ehepartners angeben. Und man wies sie darauf hin, dass sie jederzeit in der Lage sein müssten, für sich und den Ehepartner den ,Ariernachweis‘ zu führen. So wurde für den Kandidaten Andersch die ,Halbjüdin‘ Angelika zum Hindernis. Deshalb die Scheidung, für die es keine andere Notwendigkeit gab.

Andersch, der seit 1940 eine Beziehung zur Nichtjüdin Gisela Groneur unterhielt, hätte mit der amtlichen Trennung von Angelika bis nach Kriegsende warten können, um eine Gefährdung von Ehefrau und Kind auszuschließen. Doch solange mochte er als Jungautor nicht warten. Die Details betreffen nicht nur eine Privatbeziehung (wie Wehdeking suggeriert), sondern auch den Beginn einer Schriftstellerkarriere. Kühn ist im Übrigen die Mutmaßung von Lamping (ebenfalls im Begleitkommentar), Andersch habe seine schriftstellerische Tätigkeit „nicht unbedingt“ in Abhängigkeit vom Antrag gesehen. Warum hat er ihn dann gestellt? Beschäftigungstherapie oder Fingerübung?

Statt mit argumentativen Verrenkungen, die zur ansonsten hohen Editionsqualität so gar nicht passen, könnte man es mit etwas Common Sense versuchen. Dann käme man zu differenzierenden Wertungen: So unsympathisch der Egoismus von 1943 ist, so verständlich ist Anderschs Entscheidung, ihn im Bericht zu verschweigen. Der Wortführer der frühen Gruppe 47 hätte vom (im Doppelsinn) Komplex RSK/Angelika nicht sprechen können, ohne einen Ansehensverlust in seinem ,nonkonformistischen‘ Umfeld zu riskieren. Menschen machen Fehler und wollen später ihr Gesicht wahren – wer könnte sich darüber erheben? Eine Verpflichtung zur Selbstdemontage besteht nicht, das wäre Sebalds Furor entgegenzuhalten. Das unrühmliche Kapitel Lebensgeschichte zählte zu dem im literarischen Feld nach Kriegsende Unsagbaren.

Wer die Lücke im Bericht aber ,beiseite lässt‘ oder bagatellisiert, und dies als Germanist, erweist seiner Disziplin einen Bärendienst. Sebald, dem seine Außenseiterrolle im literaturwissenschaftlichen Feld gefiel, sagte 1993 der Germanistik nach, sie habe um Anderschs neuralgische Stellen den „für ihre Branche charakteristischen Eiertanz aufgeführt“. Damals war die Unterstellung noch abwegig. Durch welches Wunder hätten die Kommentare der 1980er-Jahre sehen können, was der Held der Peripherie selbst erst mit ungewollter Hilfe des Biografen Reinhardt sah? Heute ist die Lage eine andere. Lamping ist es gelungen, die Unterstellung nachträglich ins Recht zu setzen.

2. Biografismus

Für eine Wiederentdeckung der „Kirschen“ spricht neben der narrativen Stringenz gerade ihr ,unwahres‘ Moment. Real ist zwar nicht der vom Erzähler konstruierte, geradlinige Lebenslauf, dafür aber der gesellschaftliche Druck, der ihn 1951/52 zum Konstruieren bewegt. Im Zwang zur vorteilhaften Selbstpräsentation liegt die soziale Wahrheit des Berichts. Ihr narratives Symptom ist der plötzliche Sprung in der erzählten Zeit: von 1938 direkt zum Juni 1944 (Fahnenflucht) – eine Ellipse von gleich sechs Jahren. Bei der Erstlektüre übrigens, 1988, fand der Verfasser sie sehr ansprechend („gibt keine Längen beim Alfred“).

Erkennbar ist der Antrieb der Konstruktion nur, wenn man Leben und Werk in Beziehung setzt – was Andersch-affine Germanisten seit 20 Jahren als Biografismus abzulehnen pflegen (das heißt, seit unschöne Informationen zur Vita vorliegen, vorher hatte man damit keine Probleme). Der Biografismus-Vorwurf hat es zum Evergreen der Forschung gebracht, doch klingt er etwas sonderbar – womöglich, weil der Biografist par excellence Andersch hieß. Mit der Desertionsgeschichte der „Kirschen“ nutzte dieser Autor wie kein anderer die eigene Vita zur Selbstdurchsetzung im literarischen Feld. Dem Bericht verdankte er den Durchbruch, das ursprüngliche symbolische Kapital, das den Folgewerken allererst Aufmerksamkeit verschaffte. Auch hob er die „Kirschen“ später scharf von seinen Romanen ab, ordnete sie nachdrücklich der Gattung Autobiografie zu, für die (folgt man Philippe Lejeune) ein Wahrheitspakt zwischen Autor und Leser gilt.

Und da soll man sich für die Wahrheitsliebe nicht interessieren dürfen? Warum sie etwas litt, liegt jedenfalls auf der Hand: Genötigt war der Berichterstatter zum Auslassen des Unvorteilhaften, nicht zur Selbstüberhöhung.

Dass er aus maximal sechs Wochen Haftzeit im Konzentrationslager Dachau – 1933, als Jungkommunist – ein „Vierteljahr“ macht, gegenüber den Amerikanern 1944 und der Schweizer Einwanderungsbehörde 1964 gar sechs Monate, lässt sich noch als rührende Übertreibung und Quantité négligeable einstufen. Von einem „lumpigen[n] Vierteljahr“ zu berichten, also im Gewand der Bescheidenheit zu renommieren, ist weniger schön. 2008 stellte der Historiker Johannes Tuchel fest, dass ein gewisser SS-Brigadeführer Eicke erst nach Anderschs Entlassung in Dachau eintraf. In den „Kirschen“ lasen wir: „Oder zahlt man nicht zu teuer, wenn man den Revolver vergißt, den einem der Brigadeführer Eicke angedroht hat für den Fall, dass man noch einmal nach Dachau käme […].“ Mit dem imaginierten Revolver, dem Übergang ins Reich der Fabel, beginnt sich abzuzeichnen, dass man es a) mit einem faktual auftretenden Erzähler zu tun hat, der b) Unrühmliches verschweigt und zugleich c) die biografischen Trümpfe strapaziert. Letzteres auch, wenn er die Desertion nicht einfach als gerechtfertigte Flucht verstanden wissen will, sondern in die Nähe des Widerstands rückt: „Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni statt.“

Wer 1943 so handelt wie Andersch, sich nach Kriegsende aber auf die Schulter klopft, macht sich angreifbar – ganz einfach. Es ist das Verhältnis von Verschwiegenem und Erzähltem, mit dem sich die Schere zwischen „revolutionärem Realismus“ und Erzählpraxis öffnet. Dafür spricht auch ein Sachverhalt, den 2008 zwei Siegener Forscher erhellten und der auf den ersten Blick gar nichts mit dem Erzähler zu tun hat, sondern nur mit dem Privatmann.

Bekanntlich mokierte sich Sebald besonders darüber, dass Andersch seine erste Frau gegenüber der RSK verleugnet, um sie dann ein Jahr später, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, wieder für sich zu reklamieren. Im Licht des Aktenfunds, den Jörg Döring und Rolf Seubert vor sechs Jahren vorlegten, erweist sich die Wiederentdeckung Angelikas tatsächlich als pikant. Aus dem betreffenden Dokument (der ,Deutschen Dienststelle‘) geht hervor, dass Andersch die vorübergehende Entlassung aus der Wehrmacht im März 1941 nicht, wie wohl im Familienkreis kolportiert und selbst noch von Sebald angenommen, der KZ-Haft verdankte, sondern der „jüdischen Versippung“.

Daraus ergibt sich zunächst ein Dreischritt, der Sebalds Rede vom „Ehemanöver“ bestätigt. Ob die Entlassung nun auf eigene Initiative erfolgte oder automatisch, 1941 profitiert Andersch von einer ,halbjüdischen‘ Ehefrau, von der er sich praktisch, durch den Wechsel zu Gisela, schon entfernt hat. Die Dankesschuld hindert ihn nicht, sich zwei Jahre später der schriftstellerischen Ambitionen wegen von der ,Halbjüdin‘ scheiden zu lassen. Aus dem privaten Vor- ist mittlerweile ja ein Nachteil geworden. Und als es gilt, vor den Amerikanern einen literarischen Opferstatus zu belegen, ist er so frei, sich als Ehemann einer ,Halbjüdin‘ auszugeben („prevented from free writing, up to now, my wife being a mongrel of jewish descent“). Warum nicht noch einmal von der Ex profitieren? Liberté toujours.

Das von den Siegenern zutage geförderte Dokument scheint mir jedoch nicht nur die biografische, sondern auch die Werkebene zu berühren. Es erklärt uns ja, warum Andersch im Herbst 1943 wieder zum Kriegsdienst eingezogen wurde: weil das Hindernis der Ehe mit einem ,jüdischen Mischling‘ nicht mehr bestand. Wenn der spätere Deserteur aber mit der Scheidung erst die Voraussetzung für die Wiedereinberufung schuf; die Scheidung wiederum dem RSK-Antrag geschuldet war; und, wie Tuchel dokumentiert, Andersch bewusst war, welche Folgen der Antrag haben konnte – im Lebenslauf vom Februar 1943 schreibt er von seiner „wahrscheinlich bevorstehende[n] Wieder-Einberufung“ ‒, dann ergibt sich eine ironische Konstellation.

Die Publikationsgenehmigung der RSK war Andersch so wichtig, dass er neben der Trennung von einer ,Halbjüdin‘ auch eine Fortsetzung der Soldatenexistenz in Kauf nahm. (Ins Bild passt, dass er der Kammer einen heroischen Lebenslauf vorlegt, in dem sich der Kandidat rühmt, an der „Vernichtungsschlacht in Lothringen u. d. Vogesen, Besetzung Ostfrankreichs, Besetzung Nordfrankreichs“ teilgenommen zu haben.) In der Desertionsgeschichte lernen wir dann jemanden kennen, den die Wehrmacht aus dem Dasein als schöngeistiger Eigenbrötler riss. „Ich hatte nur die Ästhetik der Kunst und mein Privatleben, und das zerstörten sie durch Gestellungsbefehle“, die offenbar aus dem Nichts kamen. Gut ein Drittel seiner Autobiografie verwendet Andersch darauf zu schildern, wie er sich aus einer Misere, die über ihn hereingebrochen sei, befreit – auf die elaborate Darstellung der Fahnenflucht, die „Tat […], die meinem Leben Sinn verlieh“, den 6. Juni 1944. Dass er in den Verein, dem er so spektakulär den Rücken kehrt, 1943 auch durch eigenes Zutun geraten ist, im Unterschied zu Millionen anderen Wehrmachtssoldaten, ist vernachlässigenswert. Sagen wir so: Den Realismusbegriff hat er reformiert.

Doch was folgt daraus? Dass Andersch ein böser Bube war? Oder war er ein normaler Autobiograf, dem eifrige und eifernde Junggermanisten (die so jung gar nicht mehr sind) jede noch so kleine Retusche ankreiden, um sich der moralischen Überheblichkeit hinzugeben?

Weder noch. Kritik, auch nachträgliche, ist angebracht, da der Autor sich damit hätte begnügen können, von den biografischen Pluspunkten ohne Stilisierung zu erzählen und das weniger Rühmliche wegzulassen. Das hätte Programm und Gattungsbezeichnung einigermaßen erfüllt. Kritik ja, Tribunalisieren nein, weil die Kluft zwischen Programm und Praxis nur Symptom ist. Es gab nach 1945 nicht nur einen Zwang zur vorteilhaften, es gab eine gewaltige Versuchung zur optimalen Selbstpräsentation. Und die Versuchung war für keinen deutschen Schriftsteller damals größer als für Andersch.

Von den anderen ,47ern‘, den meisten Nachkriegsdeutschen überhaupt, unterschieden ihn zwei biografische Merkmale deutlich: eine vorzeitige Gefangennahme – ob sie eine Desertion war, ist ungewiss – und das Opferkapital der beiden Verhaftungen von 1933 (in der Forschung unstrittig, anders als die KZ-Haft, deren Faktizität Seubert aus guten Gründen bezweifelt). Schon die Erfahrung des 19-Jährigen Kommunisten, mit 33 weiteren ,Schutz-Häftlingen‘ in einer Zelle zusammengepfercht zu werden, dürfte das Selbstbild vom eindeutigen Nazi-Gegner auf Dauer gefestigt haben. Und da es eine Erfahrung ist, die keiner von uns Nachgeborenen gemacht hat, setzt sie vertretbarer Kritik von vornherein Grenzen.

Nach dem Krieg bot sich Andersch an, die beiden biografischen Trümpfe auszuspielen: zwischen den Ereignissen zu Anfang und gegen Ende des Nationalsozialismus eine gerade Linie zu ziehen, dem eigenen Leben retrospektive Kohärenz zu verleihen und aus dem 6. Juni 1944 in Italien einen Last-Minute-Widerstand zu machen. Die Koinzidenz mit dem D-Day war auch zu schön. Im Übrigen behauptete er Widerstand ja nur in abgeschwächter Form, nur einen kleine[n] privaten 20. Juli – immer schön dosieren. Ein kleiner Held, nicht mehr, nicht weniger: Dieses Rollenmodell war gefragt in der ,nonkonformistischen‘ Konsumentengruppe. Von irgendwelchen Verstrickungsgeschichten wollte sie nichts hören. Schwer, einer spürbaren Nachfrage Widerstand zu leisten, wenn man sie leichter befriedigen kann als alle anderen Kameraden der frühen Gruppe 47.

3. Zum Umgang mit literarischer Fiktion

„Werkbiografische Forschung“ klingt unhip. Die Lebensgeschichte eines Autors nicht nur mit seinen faktualen, sondern auch mit seinen fiktionalen Erzählungen zu vergleichen, hat jedoch einen Vorteil. Beziehen wir die dem Schreiben vorausliegenden Tatsachen ein, verfügen wir über einen Maßstab, an dem sich die konstruktiven und/oder Fiktionalisierungsleistungen eines literarischen Werks ermessen lassen. Abweichungen zwischen Leben und Erzählwerk muss man nicht nach Sebalds Muster beschreiben (Differenz als Tarnung, Selbstverklärung und/oder Verdrängung), man kann sie auch als konstruktive Phantasie verstehen, Wunschbiografie oder verdeckte Selbstkritik. In welche Kategorie die Abweichung fällt und welche ästhetischen Folgen sie hat, kann nur die genaue Romanlektüre zeigen.

Wie ergiebig die werkbiografische Option ist und ob sie es überhaupt ist, hängt vom Profil des jeweiligen Autors ab. Die Literaturwissenschaft benötigt keine Daten aus dem Leben eines, sagen wir, Thomas Pynchon, um das Leitmotiv der Paranoia in „Die Versteigerung von No. 49“ verstehen zu können. Wenig hilfreich aber ist die Blockadeprämisse, Beziehungen von Leben und literarischer Fiktion zu thematisieren sei prinzipiell vorwissenschaftlich und/oder kunstfremd. Gleiches gilt für die faktische Weigerung, den Beziehungen nachzugehen, wenn sie zur Diskussion stehen. So versimpelnd eine Lektüre ist, die sich nur für die Funktion von Literatur für das Autorenleben interessiert, so vertretbar ist es, Biografisches als einen der Antriebe literarischer Produktion zu erwägen. Wer ihren Entstehungszusammenhang verstehen will, ist schlecht beraten, einen der möglichen Beweggründe von vornherein als trivial abzutun – sei es deklamatorisch oder im interpretatorischen Vollzug.

So erklärt das der Verfasser immer in den Master-Kursen, und die Studenten verstehen schnell. 

Als Gegenbeispiel zu Pynchon wählt der Verfasser meist einen deutschen Ex-Kommunisten, dessen jüdische Schwiegermutter im Juni 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert wird. Ein gutes halbes Jahr darauf verlässt er die ,halbjüdische‘ Ehefrau wie auch die gemeinsame Tochter, ohne ausschließen zu können, durch eine amtliche Trennung die Gefährdung der beiden zu erhöhen. Dass auch die ,Halbjuden‘ im Visier der Nazis sind, kann einem Mann, der wegen der Ehe mit einem „jüdischen Mischling“ aus der Wehrmacht entlassen wurde, kaum entgangen sein. 14 Jahre nach der Scheidung veröffentlicht der Ex-Kommunist einen Roman, in dem ein Ex-Kommunist in der Hafenstadt Rerik auf eine flüchtige Jüdin trifft, die kurz zuvor ihre Mutter durch die Nazis verloren hat. Die schöne Judith, von Gregors „verlässige[r] Schnelligkeit und Intelligenz“ angetan, findet in ihm ihren Retter. Mit drei Helfern schmuggelt Gregor die Jüdin nach Schweden, bei Nacht und Nebel, quer über die Ostsee, in einer „eiskalte[n] Aktion gegen die Anderen“ (so heißen die Nazis im Roman). Frage eins an die Studenten lautet, ob sie glauben, dass zwischen dem Verhalten von 1943 und der Romanhandlung ein Zusammenhang besteht. Da fällt die Antwort meist einhellig aus.

Unverzeihliche Suggestivfrage, gewiss. Nach der Lektüre von „Sansibar“ lässt der Verfasser die Kursteilnehmer diskutieren, welche Art von Verbindung sie sehen. Sie erhalten zwei konkurrierende Lesarten, mit der Frage, welche sie bevorzugen. L 1: Dass Andersch seinen Protagonisten anders handeln lässt als sich selbst, zeugt von legitimer „Wunschbiografie“, einem „versteckten Schuldbekenntnis“, das planer Schuldverdrängung vorzuziehen ist (Irene Heidelberger-Leonard, 1995). L 2: Wenn Andersch aus Gregor „den geheimen Helden macht, der er selber nie gewesen ist“, begradigt er seinen Lebenslauf und erfreut die literarische Öffentlichkeit von 1957 mit einem Märchen (Sebald).

Da sind die Meinungen meist geteilt: fifty-fifty. Je kontroverser die Teilnehmer argumentieren, desto besser; damit nähern sie sich dem Diskussionsstand, den die Andersch-Philologie Mitte der Neunziger bereits erreicht hatte. Hinter ihn zurückgefallen sind Lampings Kommentare, da sie der ganzen Diskussion ausweichen. Sie eskamotieren das Verhältnis von Lebensgeschichte und Story, als hänge von der säuberlichen Trennung der Aspekte der Fortbestand der Germanistik ab. Die aber beamt man genau damit zurück in die 1950er-Jahre, die Glanzzeit von Werkimmanenz und Mottenkugel.

Eine allzu schlichte Lösung ist das Separieren von Leben und Werk besonders im Fall des Schulklassikers „Sansibar“. Gleich, ob man dessen wunschbiografischen Antrieb für legitim hält (es handeln doch nur fiktive, per definitionem nicht in der Realität verankerte Figuren) oder illegitim (Gregor ähnelt dem Berichts-Ich so sehr, dass eine Haltungsnähe zur Realperson Andersch vorgespiegelt wird), das Bedürfnis des Autors nach retrospektiven Wunschfiguren führt zur Beschönigung. Sie betrifft die Auswahl des Personals respektive den Erzählmodus: Intern fokalisiert werden nur die Jüdin und vier gute Nichtjuden. Wie wahrheitsliebend ist ein Roman, in dem man ausschließlich rettungswillige Deutsche näher kennenlernt, während Nazis und Mitläufer nur am Rande, als „teiggesichtiges Gesindel“ vorkommen? Am verzerrten Gesellschaftsbild hat Ruth Klüger schon in den 1980er-Jahren bemängelt, dass die Fantasie über den Realismus die Oberhand behält.

„Antrieb“? „Retrospektive Wunschfiguren“? Aber, aber, so vernehmen wir, man darf doch einen Autor nicht mit seinen Figuren identifizieren. Nun, behagliche Proseminar-Weisheiten wie diese könnte man bei der Lektüre von „Sansibar“ überdenken. Wer bezweifelt, dass besonders Gregor als besseres Ich des Autors angelegt war, müsste schon erklären, warum der abtrünnige Kommunist sich ständig als Fahnenflüchtigen oder Deserteur bezeichnet, wie das Berichts-Ich von der Passivität der KPD angewidert ist und mit hoch entwickeltem Kunstsinn gesegnet. Umgekehrt wählte der Deserteur (?) und abtrünnige Kommunist Andersch als Pseudonym für ein Feature von 1957 „Werner Gregor“. Zufälle gibt’s.

Wenn Lamping schon nicht auf den Verfasser hört, weil der bereits auf dem Germanistentag 2004 für die werkbiografische Option plädierte – also zu den besonders obsessiven Herrschaften zählt, die unserem Alfred doch nur ans Leder wollen ‒, dann schenkt der Narratologe von Rang vielleicht Manfred Koch Gehör. Der Basler Germanist hat am 31. Januar in der NZZ Andersch einen respektvollen Geburtstagsartikel gewidmet und mit Sebalds Verdammungsfuror erklärtermaßen Schwierigkeiten. Doch lässt er es sich nicht nehmen, auch die Reaktionen darauf zu hinterfragen:

„Einige Germanisten wollten Andersch verteidigen, indem sie die methodisch saubere Trennung von Autor und Werk einforderten. Auch wenn Andersch sich moralisch fragwürdig verhalten habe, sei damit doch das Werk nicht diskreditiert. Aber auch diese Argumentation macht es sich zu leicht. Denn das öffentlich nicht diskutierte Schuldgefühl spukt in den Romanen in einer Weise, die auch ihre ästhetische Qualität beeinträchtigt.“

„Das Schuldgefühl spukt“? Aha, auch einer von diesen Enthüllungspsychologen.

„Zum Beispiel ,Sansibar‘: Ein jüdisches Mädchen, Judith, wird hier vor den Nazis gerettet durch vier deutsche Männer, denen der Autor Züge seiner Biografie bzw. seiner Persönlichkeit verliehen hat: Gregor und der Fischer Knudsen, zwei enttäuschte KP-Aktivisten, Knudsens Schiffsjunge, der von fernen, unberührten Ländern träumt, sowie Pfarrer Helander, dessen Name fast ein Anagramm von Alfred Andersch ist (mit Anklang an ,Heiland‘).“

Andersch soll Eigenes an gleich vier Romanfiguren delegiert haben? Ein Abgrund an Biografismus!

„Die Jüdin ist schön und sympathisch, aber letztlich nur eine Nebenfigur, die verblasst gegenüber den Männern, denen sie am Ende ihr Leben verdankt.“

Also schön und sympathisch.

4. Ver- und Aufklärung, verschränkt

Was Koch so treffend als Problem des Romans benennt: dass „im fiktionalen Ausmalen des real unterlassenen Widerstands der Heroismus des deutschen Mannes ins Übergroße […] wächst“, ist die Kehrseite des Verdienstes, eine Jüdin zu zeigen, die aufgrund der Nürnberger Rassegesetze auf der Flucht ist. Andersch gehörte, neben Böll und Koeppen, zu den ganz wenigen Erzählern Mitte der 1950er-Jahre, die überhaupt bereit waren, das deutsche Publikum mit der Judenverfolgung zu konfrontieren – eine Leserschaft, die es mehrheitlich vorzog, sich enigmatische Lyrik aus dem Hause Benn oder Anthologien mit Titeln wie „Ergriffenes Dasein“ ,zu Gemüte zu führen‘. Vom Erbauungsstandard im zeitgenössischen literarischen Feld hob sich „Sansibar“ zweifellos achtenswert ab.

Zur Ver- in der Aufklärung aber zählte die Scheu, an jene Deformationen durch Selbstangleichung zu erinnern, die für Deutsche im NS typischer waren als three and a half men, die eine Jüdin ins Ausland retten, eine Barlach-Statue dazu (die genauso schöne und passive, nach Kochs Beobachtung). Auch dieses Defizit an Realismus darf man gesellschaftlich Realem zuschreiben: dem kollektiven Tagtraum von zumindest kleinem Widerstand gegen die Antisemiten, den Andersch zusammen mit vielen seiner Nachkriegsleser träumte. Des Autors Vorliebe für Wunschfiguren trifft sich mit dem Selbstbild zeitgenössischer wie späterer Rezipienten, die eher geneigt (gewesen) sein dürften, sich in mutigen Gestalten wiederzuerkennen als in Tätern oder Mitläufern.

Wenn Andersch mit dem Pfarrer Helander selbst noch seinen 1929 verstorbenen, bekanntermaßen rechtsradikalen Vater auf die Seite der guten Sache schreibt (fiktive und Realperson teilen die gleiche, zum Tode verurteilende Kriegsverletzung), so steckt gerade darin mehr als nur individuelle Fantasie. Die literarische Wunschvorstellung nimmt vorweg – wenn auch in extremer, da rein imaginativer Form  –, was der Kulturwissenschaftler Harald Welzer und Mitarbeiter 2002 in deutschen Familiengedächtnissen ausmachten: Auch, wenn nicht gerade in ,aufgeklärten‘ Kreisen tendiert man dazu, die Vorfahren als Helden des kleinen Widerstands zu erinnern (haben bei Juden noch eingekauft, dem SS-Mann die Meinung gesagt, und so weiter). Schöne Erinnerungen müssen nicht auch noch wahr sein.

Kanonisierbar also bleibt „Sansibar“ als Zeugnis eines deutschen Tagtraums. Abgesehen davon eignet dem Roman durchaus ein realistisches Moment, fängt er Furcht, Schrecken und vor allem Misstrauen im „Dritten Reich“ in einer atmosphärischen Dichte ein, die wohl nur durch Falladas Dokumentarerzählung „Jeder stirbt für sich allein“ (1947) übertroffen wird. Auch ist das Kammerspiel zu Rerik straff (173 Druckseiten über 27 Stunden erzählte Zeit) und überaus spannend erzählt – nicht der kleinste Grund für den Erfolg als Schullektüre. Es ist nun mal eine fesselnde Fluchtgeschichte, stimmungsvoller als die unter den frühen ,47ern‘ übliche Kärglich-Prosa sowieso. Sebald war nicht imstande, die Qualitäten zu erkennen, da zu sehr damit beschäftigt, Andersch bei Ausflügen ins Preziöse zu erwischen, die in „Sansibar“ aber selten vorkamen.

Generell lässt sich Anderschs Œuvre nach anderen als Wahrheitskriterien beurteilen. In seinen kürzeren Erzählungen, auch in in Hörspielen wie „Fahrerflucht“ (1958), verstand er sich auf Suspense, war er Unterhaltungsautor im besten Sinn. Ihn zur Geisel seines Realismusprogramms zu machen, wäre falsch. Ignorieren können wir es aber auch nicht; es drängt sich nun mal die Frage auf, wie es zum Halbrealismus nach 1945 kam. Und es bedarf keines großen Gründelns, um zu erkennen, dass die Verfehlungen gegen Ende des Krieges mitverantwortlich für beides waren – für den aufklärerischen Zug (Thematisieren von Antisemitismus) wie auch für den verklärenden (Stilisierung des deutschen Widerstands). Im einen steckte ein respektabler Wiedergutmachungs-Versuch, im anderen Überkompensation.

Die beiden Antriebe rührten nicht nur vom Umgang mit der ersten Ehefrau her. Auch beim ,halbjüdischen‘ Schwager, Fritz Albert, stand Andersch nach Kriegsende moralisch in der Kreide. Insofern ist die Kritik an der geschönten Selbstdarstellung im Bericht noch weiter zu treiben, als es Sebald tat. Denn das Problem in „Ein Techniker“, der 1942 verfassten, zu Anderschs Glück vom Suhrkamp Verlag 1944 abgelehnten Erzählung, besteht nicht allein im Blut-und-Boden-Jargon.

Albert Gradinger, den als ,Halbjuden‘ kenntlich gemachten Protagonisten, für den Fritz Pate stand, stellt der Erzähler als einen sympathischen und begabten, doch letztlich bedauernswerten Chemiker vor, der von Willenskraft und Erfindergeist des Vaters, vom ,arisch‘ markierten Elternteil, zu wenig in sich trägt – ein dezentes, aber merkliches Hierarchisieren. Wenn Albert einen nichtjüdischen Freund, den hellhaarigen, blauäugigen Georg Stein, „wegen seines eingeborenen Fleißes [liebt], dieses Erbteils einer gesunden, ungebrochenen Rasse“, führt die Innere Emigration ins Amt Rosenberg. Am Ende wird Albert von Georg eröffnet, es wegen eines fehlenden „Instinkt[es] des Blut[es]“ nie zur „geheimen Führerschaft“ und zum „Gipfel des Wissens“ zu bringen. Daraufhin läuft Albert vor ein Auto, was Georg räsonieren lässt, ob sein Freund nicht „mit einem Fluch beladen“ gewesen sei. Suggeriert der Debütant Andersch eine ,wesenhafte‘ Tragik des ,Halbjudentums‘, ist vom „inneren Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus (Wehdeking) wenig erkennbar. Vielleicht versteckte er ihn besonders gut?

Im Ernst, die bis zur Edition 1986 unsichtbar gebliebene Werkhypothek muss man schon so nennen. Auch glich sie einem narrativen Undank gegenüber Fritz, dem väterlichen, 26 Jahre älteren Freund, der 1937, als Vorstand der Hamburger Leonar-Werke, beruflich hilfreich, nämlich Anderschs Arbeitgeber war. Nur sollte man den literarischen Fehlstart von ’42 nicht zum Sündenfall stilisieren. Ein früher Fehler wiegt wenig gegen dreißig Jahre engagierte Literatur, zumal die beiden anderen der vorm Juni 1944 verfassten Texte frei sind von Konzessionen ans Völkische. Interessant sind die nachgiebigen Momente auf dem Höhepunkt des NS heute eher als Schwächeperiode, die Andersch dazu bewegte, sich nach dem Krieg gleich zweimal vorm Schwager zu verbeugen.

Sowohl in den „Kirschen“ als auch – detaillierter – im Hörspiel „Biologie und Tennis“ (1950) schildert er Fritz Alberts Herztod im Jahr 1938 eindringlich als Folge der nazistischen Arisierungspolitik. Zu den kleineren Unkosten der Aufklärung zählt, dass „Fritz Helwig“ im Hörspiel zur Lichtgestalt mutieren muss, auf einmal zum genialen Chemiker wird (und dies ist nur eine seiner Qualitäten). Heikler als das erklärlich Philosemitische wirkt, dass Helwig, wie später Judith, von guten Deutschen nur so umzingelt ist. Entweder widersetzen sie sich der Arisierung oder sie fügen sich ihr nur widerwillig. Selbst wenn sie von ihr profitieren, wie der Aufsichtsrat der „Schütting-Werke“, nehmen sie sie nur hin. Sie sind Getriebene, aber selbst keine Antisemiten.

Wir begegnen dem gleichen Muster wie in „Sansibar“: Aufklärung ist beim frühen Andersch nicht ohne Süßstoff zu haben. „Der Andersch von 1950 ist offensichtlich immer noch der Ansicht, dass die Hitler-Diktatur und ihre Rassenpolitik eine von außen verhängte Katastrophe war“ – auch diese imagologische Schieflage, über die sich Heidelberger-Leonard 1995 wunderte, hängt mit Schonung der Kundschaft plus Überkompensation zusammen. Vor allem Helwigs junger Assistent, der Nichtjude Dr. Hofer, der seinem ,halbjüdischen‘ Chef bis zur Selbstaufgabe die Treue hält, agiert als Wunschfigur seines Autors, auf verschobene Weise. Der eine steht im Labor der Schütting-Werke wie eine Eins hinter Fritz Helwig, weil der andere sich am Schreibtisch von 1942 nicht ganz so loyal zu Fritz verhielt.

Dennoch ist der aufklärerische Wert des Hörspiels beachtlich. Man kann einem deutschen Schriftsteller der unmittelbaren Nachkriegszeit Ärgeres nachsagen als die Zeichnung eines ,Halbjuden‘, der trotz Brillanz vom Aufsichtsrat geopfert, aus Gründen politischer Opportunität fallen gelassen wird. In welchem anderen Text der Zeit wird ein ,Halbjude‘ als seinem gesamten nichtjüdischen Umfeld überlegen dargestellt, welcher andere thematisierte Arisierung mit Todesfolge? 69 Jahre nach Kriegsende wäre es zu wenig, einem Autor die und die größeren oder kleineren Sünden im NS aufzulisten. Schwerer wiegt, wie er danach mit ihnen umging. Bei allem Kitsch zeigt „Biologie und Tennis“,  wie aus Scham Engagement werden kann.[1]

5. Verdienste

Zu einer Ästhetik der Scham ohne Verklärungen findet Andersch mit „Efraim“, dem 1967 erschienenen Roman, den Sebald so gründlich missverstanden hat, dass wir von Nicht-verstehen-Wollen ausgehen dürfen. Wie bekannt, schlüpft Andersch als Ich-Erzähler in die Rolle eines Londoner Journalisten deutsch-jüdischer Herkunft, der Anfang der 1960er-Jahre im Auftrag seines Chefredakteurs, Keir Horne, nach dem Verbleib von dessen Tochter Esther recherchiert. Efraims Nachforschungen in Berlin ergeben, dass Horne seine jüdische Geliebte Marion Bloch und die gemeinsame Tochter einst in Nazi-Deutschland hat sitzen lassen. Die Gretchenfrage lautet, weshalb Andersch aus der Sicht des Juden erzählt, wo doch die Vergangenheit Hornes der eigenen mehr ähnelt. Sebald erklärte die Verschiebung damit, dass der Autor sich in Horne nicht habe wiedererkennen wollen. Das heißt schizophrene Tendenzen zu unterstellen und eine plausiblere Erklärung außer Acht zu lassen.

In Horne portraitierte Andersch sein Ich von 1943; zugleich suchte er eine Möglichkeit, sich seinem damaligen Fehlverhalten zu nähern, ohne für die Leser in der Negativfigur erkennbar zu sein. Er traf Vorkehrungen, die verhinderten, dass die Rezipienten eine Beziehung zwischen Autor und Figur auch nur erahnen konnten: erstens die Wahl des jüdischen Ich-Erzählers, der sich als Protagonist wie ein Filter vor die vermeintliche Nebenfigur schiebt, zweitens die Verfremdung Hornes, als schlampiger, aufgeschwemmter Alkoholiker mit weißem Haar das genaue Gegenteil des bekannt peniblen Andersch, eines ranken und eleganten sportsman, der mit 53 jünger wirkt, als er ist. Die Differenz Engländer/Deutscher tut ein Übriges. Erst die Distanzierungstechnik, eine zur Wahrung symbolischen Kapitals notwendige, keine anstößige Selbstverhüllung, erlaubte es, den eigenen Egoismus zu Zeiten des NS zu objektivieren – wenn auch nur verschlüsselt.

Aus der Perspektive Efraims zu erzählen, bedeutete nicht (wie Sebald behauptete), sich die Opferrolle anzumaßen. Im Gegenteil, Andersch wählte die Maske eines Juden, um gegen sich selbst auszusagen. Die Kommentare des Protagonisten zu Hornes Verhalten – „Ich, Georg Efraim, bin der einzige Kenner seiner Schande“ – sind verdeckte Selbstbewertungen des Autors, der mit Efraim die ,privilegierte‘ Kenntnis teilt.

Dass der Zusammenhang von Leben und Werk anders herzustellen wäre als in der Lesart aus Norwich, ist gar nicht so neu. Andersch-Kenner aus Swansea und Brüssel haben die verdeckte Selbstkritik schon um 2000 angesprochen, wenn auch nur knapp. Rhys Williams geht davon aus, dass Andersch das Schuldgefühl Hornes aus eigener Erfahrung versteht; Heidelberger-Leonard, dass der Autor einen Prozess gegen sich führt, mit Efraim als Ankläger, Horne/Andersch als Angeklagtem. Was diese Beiträge lediglich als Eindruck formulierten, erhärtet sich, wenn man Kapitel sechs des Romans berücksichtigt.

Das Schicksal Esthers kann Efraim nicht klären, dafür erfährt er von einer betagten Zeitzeugin, der Klostervorsteherin Ludmilla, die genaueren Umstände von Hornes Verfehlung. Der nichtjüdische Brite hat sich 1938 geweigert, seine deutsche Tochter zu adoptieren. Beachtenswert, mit welchen Worten die Nonne das Versäumnis kommentiert und wie Efraim darauf reagiert. „,Wenn Esther adoptiert worden wäre‘“, so Ludmilla, „,hätte man sie nur noch als Halbjüdin registriert, und dann hätte sie sogar bei uns auf der Schule bleiben können, wäre vielleicht überhaupt unbehelligt geblieben.‘ ,Nur ihre Mutter hätte man eines Tages abgeholt und mit Giftgas getötet‘, sagte ich.“ Es scheint, als betone Andersch die Differenz jüdisch/,halbjüdisch‘, um den Status von ,Halbjuden‘ zu verharmlosen und sich so zu exkulpieren, doch eine Selbstberuhigung wird durch den adverbialen Zusatz „vielleicht überhaupt“ verhindert. Die Nonne ist sich des Entrinnens der ,Halbjuden‘ so wenig gewiss, wie Andersch es gegen Kriegsende sein konnte.

Überdies quittiert Efraim die feine Unterscheidung zwischen Juden und ,Halbjuden‘ mit einer sarkastischen Ablehnung, die nicht wirklich der Klosterfrau gilt. Sie zielt auf Andersch selbst. Der Autor erinnert sich durch seinen Ich-Erzähler daran, wen er mit Angelika verließ: Esther verhält sich als Tochter der vergasten Jüdin Marion wie Angelika zu ihrer Mutter.

Derlei Hintergründe zur Kenntnis zu nehmen, sei Anderschs Verehrern aus zwei Gründen empfohlen. Erstens spricht es für den Autor, sich in fiktionaler Verfremdung einzugestehen, dass die Entscheidung von 1943 nicht schon deshalb akzeptabel war, weil Frau und Tochter dem Schlimmsten entgingen. (Der Linie von Himmler und Heydrich, auch die „jüdischen Mischlinge“ im Reichsgebiet in die Vernichtungspolitik einzubeziehen, zog Hitler eine Schonfrist bis zum ,Endsieg‘ vor – was die Bevölkerung nicht wissen konnte. Andersch selbst schätzte 1944 die ,Halbjuden‘ als gefährdet ein.) Respekt verdient die verdeckte Selbstkritik der 1960er-Jahre also auch, da der arrivierte Autor sich in einer Selbsttäuschung hätte einrichten können: Weil alles gut ausgegangen ist, wird die Scheidung so rücksichtslos schon nicht gewesen sein. Dass Andersch die bequeme Lösung ablehnte, sich seinem Fehlverhalten schließlich stellte, widerlegt Sebalds Coda vom zeitlebens selbstsüchtigen Innenleben.

Wer die Horne-Konstruktion als Selbstbeschreibung des Autors versteht, kann, zweitens, auf eine Kritik der Figur antworten, die in den Achtzigern aus Princeton kam, seinerzeit sehr nahe lag und nach wie vor im Raum steht. Klüger argwöhnte, mit dem Engländer in der Rolle des ,Bösewichts‘ solle von der deutschen Verantwortung für den Judenmord abgelenkt werden. Realiter wählte Andersch die englische Nationalität für Horne, um dessen Beziehung zum Autor abzudunkeln – was den Realismus natürlich beeinträchtigte, war verständlichem Selbstschutz geschuldet.

Dass die englische Maskerade auch zum Entschuldigen der Deutschen gedient hätte, ist aufgrund zweier anderer Handlungselemente unwahrscheinlich: a) es sind deutsche Klosterschwestern, die es 1938 versäumten, Esther zu verstecken; b) Efraims Aufzeichnungen enthalten eine entsetzliche dokumentarische Passage zu Lasten von Deutschen – Zeugenaussagen aus den Auschwitz- und Treblinka-Prozessen über Kindermorde der SS. Gerade wenn man den letzten Gesichtspunkt einbezieht – den Ernestine Schlant in „The Language of Silence“ stark macht (1999) –, spricht einiges dafür, dass „Efraim“ den „Sansibar“-Kitsch nicht fortschreibt, sondern sich davon doppelt abhebt: durch das Verhandeln deutscher Schuld wie durch das verdeckte Verarbeiten eigenen Fehlverhaltens (nicht schon: Schuld).

Öffneten sich die Andersch-Apologeten für den werkbiografischen Ansatz, könnten sie sich an der international geführten Diskussion beteiligen. Im Moment haben sie jeden Kontakt zu ihr verloren. Die nationale Selbstbezogenheit seiner Fürsprecher hätte Andersch nicht gefallen, ihn, den Weltläufigen, vielleicht sogar zu einer kleinen Erzählung gereizt („Mein Verschwinden in der Provinz“). 

Kurz, das „Efraim“-Projekt wäre als erzählmoralische Zäsur auszuzeichnen, abzusetzen von den Autofiktionen der Fünfziger, die noch vom glänzenden Lebenslauf träumten. Was nicht heißt, das verschlüsselte Selbstgericht fürs einzig Positive bis Mitte der sechziger Jahre zu halten. Selbst das Debüt weist ein bleibendes Verdienst auf.

Wie auch immer sich der Bericht zum vergangenen Leben des Autors verhielt, er setzte einen wichtigen Unterschied in der zeitgenössischen Aussagenformation. Dass die Fahnenflucht womöglich erfunden, ihre Darstellung jedenfalls Teil einer Selbstüberhöhung war, ändert nichts am Segensreichen: Die Desertionsfeier brüskierte 1952 die Richtigen, alte Kameraden inner- und außerhalb des Feuilletons, die die Weigerung, weiter für ein verbrecherisches Regime zu töten oder getötet zu werden, als vaterlandslosen Wankelmut diffamierten, wenn nicht glatt als Verrat. Dass es Andersch gelang, die diskursive Polizei auf den Plan zu rufen, etwa in Gestalt des unsäglichen Hans Egon Holthusen, zählt zu seinen zivilisatorischen Leistungen. Die Überlegungen der „Kirschen“ zur Nichtigkeit eines erzwungenen Fahneneids sind kaum hoch genug zu schätzen – zumal wenn man bedenkt, dass noch 2007 ein Bundestags-Abgeordneter der CDU, Norbert Geis, Deserteure als „Kriegsverräter“ und „Verbrecher“ beschimpfen konnte, ohne dass der Mann behutsam aus dem Parlament geleitet und der Psychiatrie zugeführt worden wäre.  

6. Vorschlag

Staunenswerter als einige Schwachstellen im Werk eines Nachkriegserzählers ist letztlich, wie beharrlich seine Assistenten sie vernebeln. Und dies eher unnötig. ,Einmal moralisch gefehlt, für immer schlechter Schriftsteller‘: Der Voraussetzung von Sebalds Polemik könnten die Verteidiger eigentlich entgegen halten, dass Andersch auf seinen (werk)biografischen Makel Antworten von unterschiedlicher Qualität gegeben hat – in den Sechzigern ging es aufwärts mit der Erzählmoral. Lamping aber, der 2004 Sebalds Prämisse zu Recht kritisierte, kann das Prozessuale nicht als Argument anführen, da er dann erwähnen müsste, wovon sich „Efraim“ löste. Die Märchenanteile der frühen Erzählungen spricht der Diener des Werks lieber gar nicht an, obwohl er es sicher kennt. Sein gern „auch kritisch[e]s“ Werkverständnis lässt seit 14 Jahren auf sich warten, Zieltermin ist der Sankt-Nimmerleins-Tag. Vage Ansätze von Problembewusstsein zeigen sich bei Wehdeking: „Spätestens“ seit 1963 habe Andersch zu „Humor und Selbstzweifel“ gefunden. Dass sie schon vorher vorhanden waren, darf freilich nicht ausgeschlossen werden – deshalb das Gummi-Adverb, das „Sansibar“ absichert, Anderschs ewige Rente im Schul-Kanon.

Unter „Humor“ fällt vielleicht eine Szene zu Romananfang, mit der sich Andersch über den Tarnungsversuch einer jungen Jüdin lustig macht. Judith Levin trägt sich ins Gästebuch des Hotels in Rerik unter einem völlig unverdächtigen Namen ein: „Judith Leffing. Das klang ganz gewöhnlich hanseatisch.“ Den jüdisch klingenden Vornamen lässt sie leider stehen. Ein bisschen dämlich ist sie schon, die Dame – nur gut, dass Gregor die Dinge bald in die Hand nimmt. Seine verlässige Intelligenz ist gefragt, er wird ja auch entschädigt durch eine „Fremde mit einem schönen, zarten, fremdartigen Rassegesicht“. 

Wer so eine Geschichte ohne Einschränkungen und Ironie „ästhetisch anspruchsvoll“ nennt (Lamping), sollte sie noch offensiver bewerben. Klasse-Romane wie „Sansibar“ erkennt man an der leichten Verfilmbarkeit, verlangen nach dem TV-Event im ZDF. Der Titel ist doch schon mal spitze. Was meinen Sie, Nico Hoffmann? „Raus aus Rerik“? Auch nicht übel. Nur eine kleine Änderung im Skript ist vonnöten: Aus dem jungen Ex-Kommunisten Gregor machen wir lieber einen ehemaligen Sozialdemokraten. Das wäre in Anderschs Sinn – so stellte er sich den Amerikanern vor – und kommt besser an am Lerchenberg.

Das Boot nach Schweden steuert Jürgen Prochnow als Knudsen. Der sträubt sich zuerst gegen die Fluchthilfe, aber Gregor (Max Riemelt) bringt ihn mit einem „linken Haken“ zur Räson (ein rechter wäre was für „die Anderen“). Judith (Lena Meyer-Landrut) nimmt auf der Taurolle am Mast Platz, derweil der Junge (Asa Butterfield) sorgfältig die anderen Kunstschätze verstaut: Barlach-Statue und „Sansibar“. Gregor, selbstlos am deutschen Ufer zurückbleibend, blickt dem davon tuckernden Boot nach. Immer kleiner wird es in der Ferne. Ein erster, blasser Streifen erhellt den Horizont. Jetzt langsam Westernhagen hochziehen: „Freiheit“. Ein bisschen triefen muss es schon, im Interesse der Werktreue.

Anmerkungen:

[1] Vgl. zum Fritz-Albert-Komplex auch den dieser Tage erschienen Aufsatz des Verfassers: „Albert und ich“. Wie Alfred Andersch emotionalisierte und was davon zu halten ist. In: Jan Süselbeck (Hg.): Familiengefühle. Generationengeschichte und NS-Erinnerung in den Medien. Berlin 2014, S. 55-90.