Wien um 1900 mit effet:

Österreichisch-französische Kulturbeziehungen zwischen 1867 und 1938

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein „Milieu intensiver kultureller Transferprozesse“, das aufgrund der technisch-medialen Innovationen des 19. Jahrhunderts möglich geworden war, verortet Helga Mitterbauer in ihrem Beitrag in vorliegendem Band zu den österreichisch-französischen Kulturbeziehungen zwischen 1867 und 1938. Großes Interesse an Neuigkeiten, geografische Mobilität, ein ausdifferenzierter Zeitschriftenmarkt und nicht zuletzt das Kaffeehaus hätten dazu beigetragen, moderne Strömungen rasch zu verbreiten und bekannt zu machen. Zur Untermauerung dieses vielzitierten Topos kann auch gerne Stefan Zweig, einer der wohl bekanntesten österreichischen Schriftsteller der damaligen Zeit, herangezogen werden, der über das Kaffeehaus in seiner „Welt von Gestern“ schrieb: „Nichts hat vielleicht so viel zur intellektuellen Beweglichkeit und internationalen Orientierung des Österreichers beigetragen, als dass er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge in der Welt so umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen Kreise diskutieren konnte“.

„La belle époque de xénophilie intellectuelle“

„Ah! La belle époque de xénophilie intellectuelle que c’était alors“ jubelte auch Henri Albert vom anderen Ende Europas dem Wiener Kaffeehaus zu. Der Redakteur der Literaturabteilung des Mercure de France beschrieb damit das Paris der Zwischenkriegszeit, in der nicht nur amerikanische und polnische Autoren von der Öffentlichkeit gelesen und rezipiert wurden, sondern natürlich auch die Wiener und Österreicher. Hermann Bahr, ein Kritiker und Literat der Jahrhundertwende, schwärmte ebenso von den transkulturellen Informationsflüssen wie vor ihm schon andere: „Diese in der Welt zerstreuten Menschen der grossen Sehnsucht, die das Gleiche fühlen, das Gleiche hoffen, das Gleiche fürchten wie wir, diese sind das wahre Vaterland.“ Ob Bahrs Worte beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch jemandem in den Ohren klangen oder wurden sie von den Bomben und Mörsergranaten, den Schüssen und Schreien Verwundeter bereits übertönt? Die fröhliche Apokalypse hatte man das später genannt, in der man mit der Straßenbahn an die Front fuhr, um bis zum Abendbrot wieder zuhause zu sein. Die „Republique mondiale des lettres“ (Pasquale Casanova) versank in Blut und Gedärmen, auf die Kultur folgte der Chauvinismus, auf die Literatur die Parolen.

Permanente Transformation und Interpretation

Helga Mitterbauer nennt als wichtigste Kulturvermittler vor dem Untergang des zivilisierten Abendlandes die Kulturzeitschriften der Jahrhundertwende, die neues bekannt machten und verbreiteten. Transfer ist bei ihr vor allem ein „auf Mehrdeutigkeit basierendes mulitplexes Verfahren des Austauschs von Informationen, Symbolen, und Praktiken, im Laufe dessen permanent Uminterpretation und Transformation stattfindet“, wie sie Homi K Bhabha zitiert. Transferprozesse würden im „Kontextwechsel kultureller Elemente innerhalb und zwischen hybriden Kulturen, in dessen Verlauf sich die transferierten Elemente durch die Neukontextualisierugn zwingend verändern“, bestehen. Auch wenn eine intensive, starke Beziehung, wie sie um 1900 zweifellos zwischen Paris und Wien bestanden hätte, den Gegenstand einer Analyse bilde, sei es keine bipolare Studie, sondern gelte es permanent die zahlreichen Verbindungen mit anderen Clustern miteinzubeziehen, ohne dass diesen im Einzelnen bis zur letzten Konsequenz nachgegangen werden müsste, so Mitterbauer. Kultureller Transfer kann sich um Kulturzeitschriften (Cluster) bilden, muss aber nicht unbedingt darauf reduziert werden.

Le corps exquisite

Ein Beispiel für kulturellen Transfer liefert etwa auch der Beitrag von Gerald Stieg in vorliegender Publikation, dessen Titel „Offenbach in Wien: Nestroy und Kraus“ lautet und sich auch genau damit beschäftigt. Für den kulturellen Transfer des Französischen ins Österreichische hatte sich aber auch der bekannte Wiener Mundartdichter H. C. Artmann zu Lebzeiten sehr eingesetzt. Wolfgang Pöckl untersucht in seinem Artikel die Verdienste Artmanns um die Übersetzung französischer Literatur, was Thomas Bernhard – ein anderer allseits bekannter Österreicher – einmal launisch mit folgenden Worten umschrieben hatte: „Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche, die von einem Auto bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist.“ Aber im Falle Artmanns wenigstens „a scheene Leich`“, was dem Wiener ja sein liebstes Kind ist. Neben François Villon hatte Artmann auch schon Carlo Goldoni und Bram Stoker übersetzt, also nicht nur französischsprachige Werke. Im Falle Artmanns würde man besonders mit Vorurteilen gegenüber dem Übersetzer kämpfen, denn tatsächlich seien diese wirklich gut, wie Pöckl extra betont: „Ein sorgfältiger Vergleich des Ausgangstexts mit der Übersetzung zeigt nämlich, dass Artmann auf geradezu erstaunliche Weise die Gedankenfolge und Argumentation Villons respektiert und nachbildet.“ Bei aller „Affinität zur Patina“ habe Artmann beim Übersetzen also einen durchaus respektvollen Umgang mit den Vorlagen gepflegt.

Gallizismen mit Wienerischem „effet“

Ein weiterer Beitrag in der vorliegenden Publikation beschäftigt sich mit dem „französischen Wortgut im österreichischen Deutsch im Spiegel der Schriften Arthur Schnitzlers“. Marlenes Mussner repliziert dabei vor allem auf den „Reigen“ und „Leutnant Gustl“ des bekannten österreichischen Schriftstellers. Schon im 11. und 12. Jahrhundert habe sich der Einfluss von Gallizismen aufgrund der Vormachtstellung bei den Kreuzzügen verstärkt. Ein zweiter Schub erfolgte zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, da man sich in dieser Zeit an den Höfen Ludwigs XIV. orientiert habe und sich der hiesige Feudaladel gerade das französische Gesellschaftsleben zum Vorbild nahm. Unberücksichtigt lässt Mussner, dass aber auch die Französische Revolution von 1789 einen Einfluss auf die Verbreitung der Sprache gehabt haben muss, da ja gerade der sogenannt Dritte Stand, das Bürgertum Handelsbeziehungen mit der ganzen Welt pflegte. Hingegen erwähnt Mussner, dass ab dem 19. Jahrhundert das Französische in unseren Breiten sich stetig im Rückzug befinde, mit einigen Ausnahmen, was die Modebranche betrifft. Über das österreichische Deutsch weiß Mussner, dass es sich vor allem auch durch die Aufnahme respektive Beibehaltung und das Ausscheiden von Fremdwörtern vom Deutschen unterscheide. Die Bindung des Wiener Hofes an Frankreich ist spätestens seit Napoleon Legende, da seine zweite Frau mit dem österreichischen Kaiserhaus verwandt war und sein Sohn der Enkel Franz II. von Österreich gewesen sei. Marlene Mussner unterscheidet zwischen gesamtdeutschen Gallizismen – hier bitte nicht an Gallicia oder Gallizien zu denken, sondern an Gallien – und typisch österreichischen Gallizismen.

Vom Fauteuil zum falott, ganz salope…

Besonders auf Letztere soll hier noch ein kleiner Blicke geworfen werden, wenn Mussner etwa den Begriff „Falott“ ins Zentrum des Interesses stellt. Gemeinhin als „faux-jeton“ ins Französische übersetzt, wird der Begriff aus Schnitzlers „Leutnant Gustl“ doch auf eine französische Wurzel zurückgeführt, nämlich auf falot, einen komischen, belustigenden Menschen, einen „fellow“. Überraschend ist dabei aber, dass Fallot nicht für ein williges Frauenzimmer, eine „salope“ benutzt wird, obwohl sie insgesmat ein Dutzend Quellen angibt. Als typisch Wienerischer Gallizismus wird „Melange“ angeführt, der in der Ursprungssprache eigentlich nur Mischung, keinesfalls aber Milchkaffee, also café au lait, bedeutet. Andere Beispiele sind etwa Roulette und Trumeau, die im heutigen Österreichisch nicht mehr gebraucht werden, aber zu Schnitzlers Zeiten besonders außerhalb Frankreichs eine spezielle Bedeutung hatte. Auch Fauteuil ist ein typisch rückläufiger Ost-Austriazismus, der einen Polstersessel mit Armlehnen bezeichnet. Der Friseur hingegen sei eine pseudofranzösische Wortbildung. Als besonders bemerkenswert schreibt Mussner in ihrer Resümee, dass „die österreichische Aussprache im Französischen bei manchen Wörtern näher ist als die binnendeutsche“. Nirgends klingt ein langgezogenes französisches „fad“ eben so authentisch wie in Wien, besonders wenn man gerade in seinem Kabinett sitzt und – oh Malheur! – den sucre für die Melange in der cuisine vergessen hat, aber auch hier gilt: Vorsicht vor Faux Amis!

Weitere französische Schwerpunkte werden im vorliegenden deutsch-französischen Sammelband etwa von Jacques Le Rider mit „L’Autriche-Hongrie dans les discours savants français de 1867 à 1914“ oder Irène Cagneau mit „Regards politiques et diplomatiques sur l’Autriche dans la Revue des Deux Mondes (1867-1914)“ gesetzt. Marc Lacheny beschäftigt sich mit den wechselseitigen Diskursen über Burgtheater und Comédie Française von Laube (1849) zu Wildgans (1931), Sylvie Arlaud wiederum schreibt über „Das Österreichische Museum für Kunst und Industrie im internationalen Vergleich. Einblicke in den französischen Rezeptionsvorgang der österreichischen Kunst und Kunstgeschichte“. Der zweisprachige Band ist beim Universitätsverlag Innsbruck 2012 erschienen und enthält noch viele weitere Beiträge zum Thema.

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Sigurd Paul Scheichl / Karl Zieger (Hg.): Österreichisch-französische Kulturbeziehungen 1867 - 1938 = France-Autriche. leurs relations culturelles de 1867 à 1938.
Innsbruck University Press, Valenciennes 2012.
290 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783901064418

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