Verschlungen von Musils Monstertext

Über Inka Mülder-Bachs „Robert Musil ,Der Mann ohne Eigenschaften‘. Ein Versuch über den Roman“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Professoren der Geisteswissenschaften haben eher selten ein Händchen dafür, ihre Arbeiten medienwirksam zu „verkaufen“. Lieber bleibt man unter sich, als dass man für seine Themen Interesse auch außerhalb des akademischen Elfenbeinturms zu wecken versucht. Das macht Inka Mülder-Bach zu einer Ausnahme. Die in München lehrende Germanistin häufte nicht einfach nur einen weiteren Stein auf den längst unüberschaubar gewordenen Sekundärliteraturberg zum „Mann ohne Eigenschaften“, sondern rief bei Erscheinen ihrer 500 Seiten starken Studie über Robert Musils Jahrhundertroman erst einmal dazu auf, alljährlich einen „Ulrichtag“ zu begehen – und zwar am 7. August.

Eigentlich eine nette Idee. Schließlich kann, was den Joycianern mit ihrem Bloomsday des „Ulysses“ recht ist, den Musilianern nur billig sein. Doch warum am 7. August? Weil, so Mülder-Bach, Musil an jenem Tag im Jahr 1913 in sein Tagebuch ein Ensemble von Wiener Straßen und Gebäuden skizzierte, das später in seinen Roman eingegangen ist.

Das nennt man wohl Chuzpe. Dass Musils unvollendeter Roman (1930/32) nur an einem „schönen Augusttag des Jahres 1913“ beginnt, sich aber seine Handlung, anders als bei James Joyce, über ein ganzes Jahr – eben bis zum Kriegsausbruch – erstrecken sollte, dass seine komplizierte Entstehungsgeschichte, wie der Dichter selbst erklärte, bis in die Jahrhundertwendezeit zurückreicht, ja, dass Musil seinen Helden überhaupt erst 1928 auf den Namen Ulrich taufte – alles geschenkt. Der PR-Gag erzeugte das gewünschte Medienecho, und von Karl Corinos Monumentalbiografie (2003) abgesehen, hat wohl kein Buch über den österreichischen Romancier solche Aufmerksamkeit erfahren wie das Mülder-Bachs, das nun schon in der zweiten Auflage vorliegt. Dabei profitiert die Germanistin und Mitherausgeberin der Siegfried-Kracauer-Werkausgabe sowohl vom derzeitigen Interesse am Epochenumbruch 1913/14, über den gerade der „Mann ohne Eigenschaften“ so viel zu sagen weiß wie kein anderer Roman. Als auch von dem Umstand, dass ihre Studie bei einem Publikumsverlag wie Hanser erschienen ist – und nicht in einer akademischen Reihe wie den „Musil-Studien“ des Wilhelm Fink Verlags, die von den Feuilletons nur selten wahrgenommen wird.

Nun ist ein solcher Publikationsort aber auch ein Versprechen, das Klappentext und Einleitung nachhaltig nähren: Das Buch sei eine Einladung, Musils gigantischen Romantorso, den wohl ungelesensten Klassiker der deutschsprachigen Literaturgeschichte, neu zu entdecken – in Abgrenzung von jener Forschung, die sich damit begnüge, vor den Zugang dieses seine Leser verschlingen wollenden „Monstertextes“ etliche „Warnschilder“ aufzustellen: „Sie weiß wenig Ermutigendes über das Schicksal von Leserinnen und Lesern zu berichten, die zumindest die etwa tausend von Musil selbst publizierten Seiten im Zusammenhang erschließen wollten. Die einen sollen paranoid geworden sein, andere hysterisch, eine dritte Gruppe wird vermißt, man vermutet, sie sei nie über das erste Kapitel hinausgekommen oder in einem Ozean der Zeichen ertrunken.“

Das mag zwar richtig beobachtet sein, aber dass sich daran dank Inka Mülder-Bach etwas ändert, muss leider bezweifelt werden. Denn eine überfällige „Handreichung“ fürs breite Lesepublikum ist ihr „Versuch über den Roman“ mitnichten. Stattdessen wirft Mülder-Bach – nicht anders als das Gros der Musil-Forschung, gleichermaßen angestachelt vom universitären Wettbewerb wie vom einschüchternden Reflexionsniveau dieses Dichters – mit Begriffen wie „diegetische Welt“, „Ekphrasis“, „influxus“ und „punctum“ nur so um sich, schreibt also für just jenen akademischen Kollegenkreis, dem sie Eingangs die Leviten liest.

Ein Fall von Etikettenschwindel also, und in seiner für Germanistenprosa nicht untypischen Mischung aus Avanciertheit und Verquastheit tendenziell „unlesbar“ noch dazu. Trotzdem kann, wer sich hindurchackert, aus der Lektüre einigen Gewinn ziehen. Wird hier doch mehr als nur ein weiteres Mal den in Musils Roman eingegangenen Wissenschaftsdiskursen seiner Zeit – Gestaltpsychologie, Psychoanalyse, Thermodynamik und so weiter – nachgegangen.

Vielmehr fragt Inka Mülder-Bach nach deren narrativer Funktion im „Mann ohne Eigenschaften“, nach dem Wechselspiel von Inhalt und Form, im Großen wie im Kleinen. Das betrifft Musils opake Prosa, die das „Gefilz von Kräften“ in der Moderne widerspiegle, das seinen suizidgefährdeten Helden in den „schlimmsten Notstand seines Lebens“ treibt, ebenso wie Ulrichs Ausstieg aus der Eisenbahn zu Beginn des dritten Teils, die ihn aus der tobenden Großstadt zurück in seine gemütliche Heimatstadt transportiert hat. Denn damit führt Ulrich genau das aus, wovon der Erzähler etliche Kapitel vorher fantasierte, nämlich einmal auszusteigen aus dem „Zug der Zeit“, der sich beschleunigenden Weltgeschichte, statt sich weiter wie alle anderen in eine ungewisse Zukunft transportieren zu lassen.

An etlichen Passagen oder Szenen des Romans demonstriert Mülder-Bach so, wie der Roman das, wovon er in seinen berühmt-berüchtigten essayistischen Reflexionen oder in seinen Figurenreden spricht, mal umgehend, mal etliche Kapitel später, erzählerisch inszeniert oder in seiner Form performativ-ästhetisch darstellt. Und gelangt dabei zu einigen originellen Fragestellungen: Reflektiert die „Einrichtung“ von Ulrichs Schlösschen, die Musils Held dem „Genie seiner Lieferanten“ überlässt, metafiktional die literarische Institution „Roman“? Was hat die eigenartige Wahrnehmung des Lustmörders Moosbrugger im vergitterten Gefängniswagen mit den Untersuchungen des Gestaltpsychologen Max Wertheimer zum phi-Phänomen zu tun? Und verbirgt sich hinter Ulrichs Diener vielleicht eine Persona des Autors?

Problematischer wird es da, wo sich die Autorin am Leitfaden der Assoziation in Musils „Echoraum von Texten und Bildern“ begibt, fällt man dort doch allzu leicht Truggeräuschen zum Opfer. Musils „Eine Art Einleitung“ seines Romans als Auseinandersetzung mit der Romantheorie Blanckenburgs von 1774 zu lesen ist ebenso spekulativ wie Ulrichs Tante Jane mal mit der Stiftsdame und Goethe-Freundin Susanna Katharina von Klettenberg, mal mit dem „Ach“ des altägyptischen Totenkultes, dem Vogel Waldrapp, in Verbindung zu bringen .

Titelbild

Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
544 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243545

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