Sein Bild einer Welt im Umbruch

„Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde“ – eine Publikation der Bundeskunsthalle Bonn

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1913, vor hundert Jahren, entstand das „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“, das der Maler Kasimir Malewitsch zwei Jahre später in Petrograd (heute St. Petersburg) ausstellte – es war wie eine Ikone im „schönen Winkel“, oben an einer Wandecke, aufgehängt. Er nannte dieses Bild den „Nullpunkt der Malerei“, das „befreite Nichts“, das die Gegenstandslosigkeit absolut repräsentieren sollte. Das „Schwarze Quadrat“ bildete gemeinsam mit dem „Schwarzen Kreis“, dem „Schwarzen Kreuz“ und dann auch anderen variationsfähigen Formen die Grundlage für das künstlerische System, das Malewitsch als Suprematismus, als „reine Erkenntnis“ bezeichnete. Für ihn bedeutete dies die endgültige Loslösung der Malerei von der Wirklichkeit. Diese sollte ihrer beschreibenden Rolle entledigt werden und sich stattdessen der erhabenen Welt des reinen Gedankens öffnen. Mit diesen Gemälden, die auf der Priorität der rein geometrischen Form beruhten – die Kombination farbiger geometrischer Flächen scheint in der Unendlichkeit des weißen Raumes zu schweben –, weitete Malewitsch die Flächen zum Raum aus und leitete daraus die Grundlagen architektonischer Gestaltungen sowie kubische Strukturen ab.

Seine „Architektona“, dreidimensionale Konstruktionen, die eine Architekturkonzeption begründen sollten, hatten sicher Einfluss auf die grandiosen, jedoch nicht realisierten Pläne für einen sozialen Wiederaufbau gehabt, die die russischen Konstruktivisten nach 1917 träumten. Durch sein Werk und seine Lehrtätigkeit ab 1919 an der Kunstschule in Witebsk und ab 1924 als Direktor des GINChUK in Leningrad, des Staatlichen Instituts für künstlerische Kultur (bereits 1926 wurde er dort wieder abberufen) beeinflusste Malewitsch nicht nur in Russland, sondern auch in Europa die zeitgenössischen Maler ebenso wie Vertreter der angewandten Kunst, der Bildhauerei und Architektur.

Die in der Bundeskunsthalle Bonn gezeigte Malewitsch-Retrospektive war ein großes Ereignis – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Den Grundstock der Ausstellung bildeten Werke aus der einzigartigen Sammlung Costakis im Staatlichen Museum für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki und der ebenso bedeutenden Sammlung Chardschijew, seit 1998 als Leihgabe der Stichting Khardzhiev im Stedelijk Museum Amsterdam. Die Werke werden erstmals zusammen gezeigt. Dazu kommen Werke aus dem außerhalb Russlands umfangreichsten musealen Malewitsch-Bestand des Stedelijk Museums und Leihgaben aus 25 Sammlungen aus aller Welt, darunter auch aus den Sammlungen in Moskau, St. Petersburg und andernorts in Russland. So kann ein Gesamtbild des Werdegangs dieses Ausnahmekünstlers gezeigt werden. Nicht nur der supremistischen Phase, sondern auch den Werken davor und danach, die im Westen bisher weitgehend unbekannt waren, wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet, so dass Malewitschs Weg von der Fläche zum Raum anschaulich nachvollzogen werden kann. Zudem werden – wenigstens punktuell – Werke von Künstlern der russischen Avantgarde hinzugefügt, die mit Malewitsch nach neuen Ausdrucksmitteln suchten.

Der die Ausstellung begleitende Katalog enthält Forschungsbeiträge zu unterschiedlichen Aspekten in Malewitschs Werk. Bart Rutten, Konservator für bildende Kunst im Stedelijk Museum, geht auf den Begründer des Suprematismus ein und würdigt dabei die bahnbrechende Malewitsch-Ausstellung im Stedelijk Museum von 1989. Es werden sämtliche Phasen des Schaffens von Malewitsch chronologisch vorgestellt und in zehn thematische Bereiche unterteilt, die mit kurzen, prägnanten Einführungen von Linda S. Boersma versehen sind. Alexandra Schatskich würdigt Malewitsch als Künstler, Philosoph und Erzieher: „Als Metaphysiker gehörte Malewitsch zu einer illustren Gruppe von Denkern, die sich nicht nur verpflichtet fühlten, sondern sich regelrecht gezwungen sahen, ihre Visionen zu verbreiten“. Was verdankt Malewitsch der Ikone, fragt Noemi Smolik. Bewegung und Starre finde sich auch in seinen gegenstandslosen Bildern. Für Malewitsch sei ein Bild, anders als in der westlichen Auffassung des Bildes seit der Renaissance, weniger ein Abbild der Wirklichkeit, sondern vielmehr – wie die Ikone – ein konstruiertes Bild, das in seiner realen Gegenwart in einem Spannungsverhältnis zur Wirklichkeit stehe. Dass Malewitsch nicht bei seinem Mitte der 1910er-Jahre entdeckten Suprematismus stehen geblieben ist, sondern seine Bildsprache später weiterentwickelt hat (Malewitsch: „Jetzt erarbeite ich einen neuen Weg, setze den Menschen zusammen“), macht Jewgenia Petrowa einsichtig. Ein Lebensabriss des Avantgarde-Künstlers schließt den reich mit Abbildungen und Fotografien ausgestatteten Band ab.

Hat man die Beiträge gelesen und schaut man sich nun die abgebildeten Werke an, so stellen sich einige Überlegungen ein. Malewitsch betrieb die Abstraktion mit Beharrlichkeit und dem Verlangen nach Totalität – bis zum Extremen und Absoluten. Es ging ihm um die völlige Befreiung des Raumes, der zu einem Gefäß ohne Dimension wird, wie er sich selbst ausdrückte, und in dem sich der Betrachter nur an den vom Maler aufgestellten Merkzeichen orientieren kann. Als Künstler lockte ihn das Unbestimmte, Unendliche, und was er am sogenannten Gegenstand fürchtete, war die Dichte und Schwere des Stofflichen. Deshalb haben auch Begriffe wie Transparenz oder Flug in seinem Werk eine so große Bedeutung. Neutrale Farben – Schwarz, Weiß, Grau –, flüssige und sehr glatte Materialien, Konturen, die trotz ihrer geometrischen Bestimmtheit vom Unendlichen erfüllt sind, das sind die bildlichen Elemente dieser suprematistischen Kunst. Und wie in diesem grenzenlosen Raum, der die Vorstellung des Unendlichen hervorruft, der einzig reale Wert die Bewegung ist, so setzen sich auch in den Bildern Malewitschs die geometrischen Formen in Bewegung, in unterschiedliche Richtungen, sie verändern sich, vergehen wieder und entstehen abermals neu.

Nach einer frühen symbolistischen Phase hatte Malewitsch, wie er selbst sagte, „Bilder im Geiste des Neo-Primitivismus“ gemalt. Nachdem er die Theorien des Futurismus und dessen bildnerische Praxis kennengelernt hatte, nahm er betont Elemente der Bewegung und Geschwindigkeit in seine Bilder auf, ohne allerdings die primitivistische Grundstruktur des frühen Kubismus preiszugeben. Für den daraus resultierenden Mischstil, in den auch Reste des russischen Neo-Primitivismus eingebracht wurden, fand sich die Bezeichnung Kubo-Futurismus. Malewitsch malte Bauern bei der Arbeit, ländliche und Alltagsthemen und ordnete die menschliche Figur einer rhythmischen Komposition aus zylindrischen Formen unter („Der Schnitter“, 1912). Bei der „Frau an der Straßenbahnstelle“ (1913-14) sind die Objekte nur fragmentarisch aufgeführt, während sie bei „Ein Engländer in Moskau“ (1914) klar wiedergegeben sind: Dessen Gesicht mit dem stechenden Auge wird zur Hälfte vom Symbol eines großen Fisches verdeckt. Die Kombination von Worten und Objekten, die man entschlüsseln muss, scheint sich aus der Komposition herausgelöst zu haben.

In Witebsk wandte sich Malewitsch dynamisch-abstrakten Kompositionen zu, die das suprematische Idiom mit einer architektonischen Formensprache verknüpften. Die quadratische Fläche hatte sich ihm zufolge zu einem Kubus entwickelt, der Grundform der suprematistischen Architektur. Bei den Skizzen und Gipsmodellen räumlicher Konstruktionen, die an Gebäude oder Gebäudekomplexe erinnern, geht es ebenfalls um die reine Form ohne praktischen Zweck.

Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre entfernte sich Malewitsch vom geometrischen Suprematismus. Auf seinen Bildern erschienen wieder Figuren und gegenständliche Andeutungen. So gestaltete er das Thema des einfachen Lebens auf dem Lande mit den stilistischen Mitteln des Impressionismus und Neoprimitivismus seiner Anfangszeit, und auch die roboterhaften Figuren in den glänzenden metallischen Farben traten nun wieder in Erscheinung („Schnitterin“, 1928/29; „Junge (Wanka)“, 1928/29). Den „Kopf eines Bauern“ (1928-29) gibt es in zwei Fassungen: in der einen dient ein Kreuz als Hintergrund, in der anderen ein Feld mit Bauern und der Himmel mit Flugzeugen – damit mag wohl die geistige und die industriell-technische Existenzform des modernen Menschen gemeint sein. Die Arbeiten dieser Periode sind nicht realistisch im traditionellen Sinne, die Figuren gesichtslos, monumental, aber nicht heroisch, wie es der Sozialistische Realismus damals verlangte; sie werden durch farbige Streifen oder die Verbindung von gegenständlichen und suprematistischen Darstellungen strukturiert.

1929 wurde Malewitsch in Haft genommen und zu seiner suspekt gewordenen Kunst verhört. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er mit taktischen Vorbereitungen für das posthume Nachwirken seines Werkes.

Kein Bild

Linda S. Boersma / Jewgenija Petrowa / Bart Rutten / Alexandra Schatskich / Sophie Tates: Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde. Mit Werken aus den Sammlungen Chardschijew und Costakis.
Kerber Verlag, Bielefeld ; Berlin 2014.
232 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783866789456

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