Als ob wir es nicht wüssten

Ariadne von Schirachs Essay „Du sollst nicht funktionieren“ lesen heißt, den Kitsch aushalten lernen

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Rein sind alle Gefühle, die Sie zusammenfassen und aufheben; unrein ist das Gefühl, das nur eine Seite Ihres Wesens erfasst und Sie so verzerrt. Alles, was mehr aus Ihnen macht, als Sie bisher in Ihren besten Stunden waren, ist recht. Jede Steigerung ist gut, wenn sie in Ihrem ganzen Blute ist, wenn sie nicht Rausch ist, nicht Trübe, sondern Freude, der man auf den Grund sieht. Im Übrigen lassen Sie sich das Leben geschehen. Glauben Sie mir: Das Leben hat recht, auf alle Fälle.“ (Rainer Maria Rilke: Brief an Franz Xaver Kappus, 4. 11. 1904) Das Eine gleich vorweg: Ja, wir wissen es, und wer es nicht wusste, weiß es schon nach der Lektüre des Titels. „Du sollst nicht funktionieren“ befiehlt uns genau das, wofür Ariadne von Schirach in ihrem Essay schon gar keine Begründung mehr finden muss: Nichts lieber als das, möchte man ihr entgegenrufen, nicht erst seit Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“, sondern schon lange. Seitdem industrialistische Systeme zur Daseinserhaltung einen verfügbaren Arbeiter brauchten. Seitdem Menschen in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeiten ihren Zweck für Gott und Vaterland erfüllen mussten. Und natürlich erst recht, seitdem der ganze Zwang, sich in Schuss zu halten, internalisiert werden musste – seitdem die äußeren Zwänge großteils wegfielen und den unsichtbaren Prozessen Platz machten, die das Individuum dazu brachten, sich im neoliberalen Kapitalismus unbemerkt selbst auszubeuten, anstatt die Früchte seiner Hände Arbeit nun endlich zu genießen. Gemäß dem Goethe-Wort, niemand sei mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.

Und wer in den letzten Jahrzehnten auch nur die Titel der Psychologie, Soziologie, Philosophie, Kulturtheorie zur Kenntnis genommen hat, ahnt, dass mit den wachsenden Freiheitsräumen auch ein Unbehagen an der Gesellschaft einhergeht, dass wir in einer Kultur des Habens statt des Seins leben, dass das unternehmerische Selbst erschöpft ist, dass die moderne westliche eine McKinsey-Gesellschaft ist, dass unser effizientes Leben von der Ökonomie diktiert wird, dass die Digitalisierung ein Fluch und der Mensch im neuen Kapitalismus zwischen Kreation und Depression gefangen ist.

Also können wir von Schirachs Imperativ gar nicht ernsthaft als solchen empfinden. Wer will schon gern funktionieren? Und die unter uns, die gern funktionieren möchten, die sich also – verfügten sie nur über ausreichend Selbstdistanz – in den Zombies wiederfinden könnten, deren Geschichten uns die Autorin erzählt, die lesen das Buch sowieso nicht. Alle anderen nicken einhellig bis selbstgefällig. Kann man mal sehen, wie es den ganzen Selbstvermessungsidioten mit ihren elektronischen Armbändern geht, die ihr Essen zu Zwecken der Anerkennung erst fotografieren müssen und sich desolat fühlen, wenn nur zwölf „Freunde“ ihren Facebook-Post bezüglich ihres letzten Klogangs geliked haben!

Aber ebenso paradox, wie der Imperativ des Titels daherkommt (als ob man jemandem vorschriebe, spontan zu sein), ist auch der gesamte Impetus des Buches. Es möchte uns vom Nützlichkeitsdenken befreien und von unserem egoistischen Wahn, uns selbst zu optimieren, und wird doch nur von solchen Menschen gelesen, die sich überhaupt noch für Verbesserung interessieren – ihrer selbst, ihres Lebens, der Welt. Denn auch die Selbstoptimierer, wie sie im Buch mit leichtem Dünkel zu Zwecken der Distinktionsgewinnung („so bin ich ja zum Glück noch nicht!“) gezeichnet werden, wollen ja gar nicht in erster Linie besser sein. Sie wollen wie wir alle nur ein besseres Leben führen, und als Weg dahin sehen sie bloß, was sie für sich selbst tun können, weil ihr Blick verengt wurde auf Individualität, Besser- und Schönersein. Ein besonderer Mensch sein, ein Jemand sein, der Autor und das Subjekt des eigenen Lebens, eigenverantwortlich und selbstbestimmt. Individualität, so auch Schirachs Analyse, ist der neue Götze, nachdem Gott abgedankt hat, und sie ist es, die dem modernen Selbst Glück und gelingendes Leben verheißt. Glücklich, gesund und erfolgreich wollen wir sein, geliebt, sicher und anerkannt – und um das zu erreichen, soll ich nun nicht mehr funktionieren (wie ich und die übrigen Opfer der jüngeren Generation, denen der Fortschritt solche Erste-Welt-Probleme erlaubt, irrtümlicherweise annahmen), sondern – ja, was? Erstmal ein Buch dazu lesen, ein weiteres Selbsthilfebuch auf meinem Nachttisch, und diesmal eins, das mir sagt, dass Selbsthilfebücher im Grunde nutzlos sind.

Eine paradoxe Erfahrung also, ein solches Buch zu lesen, das ich nur lese, weil ich glücklicher sein (und die Welt verstehen) will, womit ich doch schon mit einem Bein im Grab des Nutzendenkens stehe. Denn stets frage ich mich, muss ich mich fragen: Wie kann ich Schirachs Erkenntnisse, ihre Vorschläge umsetzen in meinem eigenen Lebensvollzug?

Die Antworten, die von Schirach auf diese Frage gibt (ebenso wenig neu wie unerhört), sind – da muss man nicht viel Menschen- und Weltkenntnis haben, um so zu urteilen – die richtigen. Sie sind brauchbar und nützlich, und sie funktionieren sogar. Womit wir wieder bei der paradoxen Erfahrung der Lektüre dieses Buches wären: eine neue Lebenskunst der Selbstsorge (statt nabelbeschauendem Egoismus), Liebe und Schönheit, Poesie und Uneigennützigkeit, Zuhören, Akzeptanz von Widersprüchlichkeit, Verletzlichkeit, Einsamkeit und Angst – Menschlichkeit eben. Es stimmt, dass ein Buch, das dazu rät, dass Menschen sich selbst und andere Menschen menschlich behandeln, mit seinen Einsichten niemanden vom Hocker reißen kann. Aber auch davon müssen wir uns vielleicht frei machen – von diesem Drang nach Originalität, nach bahnbrechenden Erkenntnissen, nach alles umstürzenden Lösungsvorschlägen. Vielleicht liegt in unserem Bedürfnis nach aufregenden Theorien über die Rettung des Menschengeschlechts genau das Problem, das von Schirach anprangert, und solange wir nur nach dem nächsten Buch dürsten, das uns endlich dieses neue und unerhörte Wissen zur Weltverbesserung zur Verfügung stellt, ist diese Welt und sind wir selbst in ihr nicht zu retten.

Ariadne von Schirach zollt dieser Einsicht Tribut, dass ihr Buch im Grunde nichts Neues bieten kann, dass alles schon einmal gesagt wurde und dass genau dies das Wichtige an ihm ist. Sie zieht das Erzählen dem Theoretisieren vor. Das Bild dem Begriff. Das Konkrete der Abstraktion. Ihr gelingen poetische, stellenweise ergreifende Passagen. Ihr Stil ist zwar überwiegend der um Lockerheit ringende Kolummnenton des neuen bildungsbürgerlichen Feuilletons (die Anrede immer schön abwechseln zwischen man, du und ich; im Nebensatz bloß kein Prädikat in Endstellung; und vor allem das Partizip nicht zu weit vom Hilfsverb weg; und immer dieses „irgend-“ … auf ein, zwei Seiten ok, aber in dieser Penetranz auf 180 Seiten schwer zu ertragen), aber die Kraft ihrer Sprache überzeugt auf vielen Seiten und macht die Lektüre oft zu einer nicht nur intellektuellen, sondern auch sinnlichen Freude. Paradoxerweise, muss man noch einmal betonen, da ja schon nach dem Titel alles klar ist, da wir ja schon einhellig genickt haben, da wir das bei Robert Pfaller, Byung-Chul Han und Alain Ehrenberg, bei Wilhelm Schmid, Peter Bieri und dem späten Foucault so ähnlich schon gelesen haben, und umso mehr, als das Anliegen der Autorin nicht in der originellen Analyse von zeitgenössischen Alltagsphänomenen (die Tücken von Facebook kannten wir schon) besteht. Und auch die Selbstoptimierzombies sind es nicht, deren Geschichten man mit Grausen verfolgt und bei denen es einem recht bald egal ist, ob sie reine Kopfgeburten der Autorin sind oder ob reale Menschen für sie die Vorlage abgegeben haben.

Es ist die Poesie der Bilder, die von Schirach gelingen. Zum Glück. Denn die kann man nicht zusammenfassen, die muss man selber erleben, die bleiben hängen, und sie sind die vielen Kleinode des Buches. Im Gegensatz zu den ebenso wahren wie kitschigen Gemeinplätzen, von denen es nur so wimmelt: „… am wichtigsten ist es doch, sich in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Verletzlichkeit zu zeigen und trotzdem geliebt zu werden.“ Dass wir heute solche Sätze brauchen, dass wir ihren Kitsch aushalten und ihre Wahrhaftigkeiten annehmen und umsetzen müssen, ist vielleicht das traurigste Zeugnis, das Ariadne von Schirach damit unserer Zeit ausstellt.

Aber ihre Stärke ist eben nicht, darüber zu theoretisieren, dass der Schlankheitswahn seine Ursache im Effizienzdenken der kapitalistischen Selbstausbeutung hat, sondern uns von in dieser Überflussgesellschaft freiwillig hungernden Menschen und deren Nöten, Begierden und Selbstbildern zu erzählen. Es handelt sich um ein literarisch-feuilletonistisches Essay und nicht um ein begrifflich sauber argumentierendes philosophisches Traktat.

Trotz ihres leidenschaftlichen Plädoyers am Schluss für mehr zweckfreie Schönheit und selbstlose Hingabe bleibt der Tenor dieses Textes dunkel. Pessimismus beschleicht denjenigen, der sich vorstellt, es könnte solche Menschen in dieser Eindimensionalität wirklich geben und sie wären wirklich mehr als nur die paar zu jung gebliebenen Besserverdiener in den Großstädten. Dieser Pessimismus liegt darin, dass die Autorin mit dem Kapitalismus zwar den Grund für den Ist-Zustand angibt, aber mit ihren Lösungsvorschlägen nicht bei diesem Grund ansetzt. Wenn die kapitalistische Produktionsweise Schuld an dem fortschreitenden Verlust nicht nur von Glück und Gesundheit, sondern auch von Anmut und Poesie in unserer Welt ist, dann ist es fast schon gemein, vom Individuum jetzt auch noch zu fordern, es solle endlich einsehen, dass es so nicht weitermachen könne. Ihm einzureden, es gäbe im falschen System ein richtiges Leben, wenn man nur dem Nützlichkeitsdenken entsagt. Die Kosten-Nutzen-Abwägung ist ja nicht eine dem kapitalistischen System aufgepfropfte Ideologie, sondern in ihrer Übertragung auf die sozialen Verhältnisse wesentlich für seine Existenz verantwortlich und vice versa.

Da ist nämlich noch so eine weitere Paradoxie: Wir sind nicht Schuld an unserem Leben, das sind nur die Einflüsterungen des Neoliberalismus, der uns zu Unternehmern unserer selbst machen und dafür in Haftung nehmen will, wenn wir dick und arbeitslos geworden sind – damit seine Restsicherungssysteme nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Und zugleich sollen wir uns doch mit Epikur und Marc Aurel und Seneca und von Schirach um uns selbst sorgen, den Egoismus ablegen und Verantwortung für unsere Existenz übernehmen. Die Selbstoptimierer sind ja gerade in dieser Kunst gescheitert. Paradox, nicht wahr?

Optimismus ließe sich vielleicht finden, wenn man seinen Blick auf all die Menschen richtet, die tatsächlich aus dem Hamsterrad ausgebrochen sind und ihren Alltag bereits nach genau den Regeln der Lebenskunst, die von Schirach fordert, gestalten. Oder besser noch ohne Regeln gestalten, schon in diesem Augenblick, angeregt vielleicht durch Bücher wie das vorliegende. Menschen, die sich nicht mehr zur Verfügung stellen und dadurch dafür sorgen, dass dem System seine Lebensgrundlage entzogen wird. Ein zweiter Band wäre also nötig, in dem uns Ariadne von Schirach die vielen guten Geschichten da draußen erzählt, als lebensfrohe Beispiele für eine zweckfreie, uneigennützige und poetische Lebenskunst.

Das wäre vielleicht wirklich neu und unerhört.

Titelbild

Ariadne von Schirach: Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst.
Tropen Verlag, Stuttgart 2014.
186 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783608503135

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