Vom Scheitern des Versuchs, 1916 eine befestigte Kleinstadt in Lothringen zu erobern
Olaf Jessens dichte Beschreibung der Schlacht von Verdun
Von Jens Flemming
Am 21. Februar 1916, mitten im Winter, nahm das Unheil seinen Lauf. Im Morgengrauen begann der Angriff auf den der lothringischen Stadt Verdun vorgelagerten, tief gestaffelten Festungsgürtel. „Über tausend Geschütze, darunter siebenhundert schwere und schwerste, spien Tag und Nacht Wolkenbrüche aus Stahl und Explosion“, hat Arnold Zweig 20 Jahre später die Szenerie vergegenwärtigt. Nachdem die Artillerie das Gelände gründlich durchgepflügt hatte, „brachen die deutschen Divisionen aus Löchern und Gräben voll eisigem Schlamm zum Sturm auf“, heißt es weiter: „Trotz der Überraschung, mit der sie gerechnet hatten, trafen die Märker, Hessen, Westfalen, die Niederschlesier, die Posener Grenadiere, die thüringische Landwehr überall auf Widerstand. Widerstand des Bodens, aufgeweicht vom Schnee, der mit Wasser gefüllten Trichter; Widerstand der dichten Wälder, schweigender Scharen von Hilfstruppen, wie Urkrieger aneinandergekettet durch Schlingpflanzen, unermüdliche Dornensträucher, Brombeerhecken; Widerstand befestigter Feldstellungen, von Blockhäusern, Stacheldrähten; Widerstand der französischen Infanterie, Jäger und Kanoniere. Nach den ersten vier Tagen, der ersten Woche wußte die Welt: der Überraschungsangriff auf Verdun war mißglückt.“
Trotzdem oder gerade deshalb wogten die Kämpfe monatelang weiter, die deutschen Regimenter, längst zur Verteidigung gezwungen, wurden bis Mitte Dezember mehr oder weniger auf ihre Ausgangspositionen zurückgeworfen. Der Geländegewinn, den sie erzielt hatten, betrug ein paar Kilometer. Erkauft war dies mit 282.000 Toten, Verwundeten und Vermissten – gegen 317.000 auf Seiten der Franzosen: über eine halbe Million Männer, verstümmelt und hingeschlachtet auf den Altären des Vaterlandes.
Verdun nahm Zweig zum Anlass für einen Erziehungsroman, in dem der „Schipper“, der Bausoldat Werner Bertin – das Alter ego des Autors – einen Prozess der Selbstreflexion durchläuft, gewitzigt durch Erfahrung und bestärkt durch die behutsame Einwirkung zweier Kameraden, beides Sozialisten, die der Burgfriedenspolitik ihrer Partei mit Skepsis begegnen. Um einen Kriminalfall gerankt, wird vom Alltag an der Front erzählt, in dem sich zugleich die Anatomie der Wilhelminischen Gesellschaft offenbart.
Ein wenig anders gelagerte, aber nicht minder ambitionierte Ziele wie Zweig verfolgt der Historiker Olaf Jessen. Auch für ihn haben die Kämpfe vor den Toren Verduns paradigmatischen Charakter, verweisen auf die Schrecknisse des modernen, industrialisierten Massenkrieges, dessen Drift zur Entgrenzung der Gewalt, ins Totale, ja Totalitäre sich bereits hier unwiderruflich ankündigt. Nicht von ungefähr taucht im Untertitel das Wort „Urschlacht“ auf, das sich in Parallele setzt zu jenem vielfach wiederholten Diktum, das den 1. Weltkrieg zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ erklärt. Ohne den pädagogischen Zeigefinger zu erheben, schildert der Autor den Krieg ‚von unten‘ wie den ‚von oben‘, den in den Schützengräben, Erdlöchern und Granattrichtern und den auf den militärischen und politischen Führungsebenen, den der Frontkämpfer wie den der Generäle und Politiker. Für alle Beteiligten, auf beiden Seiten, steht viel auf den Spiel: Erfolg oder Misserfolg der Offensive entscheidet über Auf- oder Abstieg.
„Verdun kostet nicht nur Menschen, nicht nur Munition“, meinte im August 1916 der Verbindungsmann des Reichskanzlers bei der Obersten Heeresleitung: „Das sinnlose Schlachten kostet Moral.“ Das drücke auf die Stimmung, führe zu Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht. Der nach monatelangem Ringen fehlgeschlagene Versuch, im Westen mit einer gewaltigen Kraftanstrengung die alliierten Truppen – Franzosen und Engländer – in die Defensive zu zwingen, war ein Wendepunkt. Hatte schon die verlorene Schlacht an der Marne im September 1914 gezeigt, dass der Krieg nicht, wie ursprünglich erwartet, im Handstreich zu gewinnen war, so wurde nun im Sommer und Herbst 1916 zum zweiten Mal sichtbar, dass es keinen deutschen Sieg und schon gar keinen von deutschen Interessen dominierten Frieden geben würde. Erich von Falkenhayn, Chef der Obersten Heeresleitung (OHL) und verantwortlich für die Verdun-Offensive, war sich darüber durchaus im Klaren und forderte nicht von ungefähr einen Separatfrieden mit Russland, konnte damit jedoch nicht durchdringen. Sehr plastisch führt Jessen die internen Differenzen vor Augen, die persönlichen Sympathien und Animositäten in und zwischen den verschiedenen Stäben, die divergierenden Lageeinschätzungen und Perspektiven, die das Handeln auf der deutschen wie auf der alliierten Seite bestimmten. Am Ende musste Falkenhayn seinen Hut nehmen, wurde die Ära der Dritten OHL unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff eingeläutet und mit ihr die Verschiebung der Machtgewichte von der Politik hin zu den Militärs. In Frankreich hingegen war es umgekehrt: Hier musste der Oberbefehlshaber Generalissimus Joseph Joffre Federn lassen und sich dem Primat der Politik unterordnen.
„Unser Heer hat bei Verdun einen Knacks bekommen, von dem es sich nie wieder erholt hat“, erinnerte sich einer der damals beteiligten deutschen Generalstabsoffiziere: „Verdun ist im wahrsten Sinne des Wortes für unsere Truppen ein Schreckgespenst geworden, gewesen und geblieben. Und jeder bekreuzigte sich, der nach Verdun kam.“ Dem entsprach die bereits während der Kämpfe einsetzende Mythologisierung, die propagandistische Überhöhung der Schlacht. Das war auf beiden Seiten der Front zu beobachten, wie überhaupt der Krieg der Waffen zunehmend vom Krieg der Worte begleitet, unterfüttert und legitimiert wurde. Tatsächlich war das Ergebnis ein Patt, den erhofften, kriegsentscheidenden Durchbruch brachten 1916 weder die Mittelmächte noch die Alliierten zustande. Die deutsche Generalität hatte das Spiel leichtfertig überzogen, die eigenen Kräfte und Ressourcen sträflich überschätzt, die der Franzosen ebenso sträflich unterschätzt. Verdun bestätigte und zementierte den Wechsel vom Bewegungs- zum Zermürbungskrieg, in dem das Deutsche Reich am kürzeren Hebel saß. Zugleich öffnete Verdun, wie Jessen konstatiert, den Weg in den Entschluss zum radikalen, seerechtliche Beschränkungen missachtenden U-Boot-Krieg, der endgültig die USA in die Reihen der gegnerischen Koalition trieb. Zu den Lehren, welche die militärischen Eliten aus den Erfahrungen vor Verdun zogen, gehörte in Frankreich der Bau der Maginot-Linie an der Ostgrenze, in Deutschland die Entwicklung von Panzerverbänden als Herzstück einer offensiven, beweglichen Strategie des ‚Blitzkriegs‘.
So wie Florian Illies es mit „1913“ vorgemacht hat, erweckt auch Olaf Jessen verwehte Traditionen der Annalistik zu neuem Leben. Berichtet wird Tag für Tag über das Geschehen auf dem Schlachtfeld diesseits und jenseits der Frontlinien ebenso wie über das in den Entscheidungszentren, in den Stäben, Parlamenten und Ministerien. Das ist dramaturgisch geschickt, findet zu einer Form des Erzählens, von dem sich die akademische Historie, die ihr Publikum bisweilen aus dem Blick verliert, längst verabschiedet hat. Unser Autor jedenfalls zeigt, wie sich Spannung erzeugen lässt, die den Leser bis zum Schluss in den Bann schlägt. Man will unterwegs wissen, wie es weitergeht, fast wie im Roman, aber es ist kein Roman, sondern seriöse Geschichtsschreibung, die geboten wird. Dass der Autor sein historiografisches Handwerk beherrscht, demonstriert er im Anhang, wo er nach allen Regeln der Kunst zentrale Materialien einer minutiösen Quellenkritik unterzieht. Sie lenkt das Augenmerk auf die Nachgeschichte, auf die Rezeption der Ereignisse, die Motive und nachträglichen Vernebelungstaktiken der Verantwortlichen, auch auf das Tun der Historiker. Auf diese Weise erhält die Narratio gleichsam im Vorbeigehen den wissenschaftlichen und dann doch wieder akademischen Rahmen.
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