Zwischen den Fronten

In seinem Roman „Ein langer, langer Weg“ erzählt Sebastian Barry die Geschichte von irischen Rekruten im Ersten Weltkrieg

Von Paula BöndelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Böndel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sebastian Barry – Dramatiker, Schriftsteller und Dichter – gehört unbestritten zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Irlands. Er ist vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet worden, darunter mit dem Walter Scott Prize for Historical Fiction für seinen Roman „On Canaan’s Side“, 2011 („Mein fernes, fremdes Land“, 2012). Drei Mal wurde er für den begehrten Man Booker Prize nominiert; mit seinen Romanen „A Long Long Way“, 2005 („Ein langer, langer Weg“, 2014) und „The Secret Scripture“, 2008 (Ein verborgenes Leben“, 2009) kam er für diese Auszeichnung in die engere Wahl.

Barry ist kein experimenteller Erzähler, im Gegenteil. Seine Erzählweise ist eher als konventionell zu bezeichnen. Das Neue an seinem Werk liegt an der ungewöhnlichen Konzeption. Als Vorbild für seine Protagonisten wählt er häufig Personen aus seiner eigenen Familiengeschichte, deren Lebenswege in einer Verknüpfung aus Fiktivem und Authentischem vor dem Hintergrund der Geschichte Irlands erzählt werden. Dabei handelt es sich nicht um bedeutende Persönlichkeiten, es sind eher die Außenseiter, die er ins Zentrum des Erzählten stellt. Indem Barry seine Figuren in verschiedenen Werken auftreten lässt – mal als Hauptfigur, mal als Nebenfigur, mal wird die Figur bloß erwähnt – schafft er ein Netz von Verbindungen und Verweisen, so dass seine Fiktionen aus biografischem Gewebe nicht nur als eigenständige Werke, sondern auch als ineinander verschränkte Teile eines noch nicht abgeschlossenen Gesamtwerkes betrachtet werden können.

Sebastian Barrys politisches und historisches Interesse gilt vornehmlich gerade den düsteren Aspekten der irischen Geschichte, die bisher in der offiziellen Version ausgeklammert worden sind. Dabei stehen häufig die katholischen Iren im Vordergrund, die in der Zeit der Unabhängigkeitsbestrebungen Irlands der britischen Krone gegenüber loyal geblieben sind. „Ein langer, langer Weg“, dessen Titel auf ein Lied aus dem Ersten Weltkrieg, „It’s a Long Way to Tipperary“, zurückzuführen ist, erzählt die Geschichte von Willie Dunne, dem Sohn des Chief Superintendent der Dublin Metropolitan Police. Noch vor seinem neunzehnten Geburtstag meldet sich Willie gegen den Wunsch seiner Freundin Gretta zu den Royal Dublin Fusiliers, einem irischen Infanterieregiment der britischen Streitkräfte. Einer der Gründe – vielleicht der Hauptgrund – für ihn, in den Krieg zu ziehen, ist „sein ,schändlicher‘ Wuchs“. Nach Willen des Vaters sollte der Sohn in die Polizei eintreten, doch erreicht er die dafür vorgeschriebene Mindestgröße nicht. Mit seiner freiwilligen Meldung hofft Willie, der Enttäuschung seines Vaters entgegenzuwirken: „Denn wenn er auch nicht Polizist werden konnte, Soldat werden konnte er allemal.“

Die Bereitschaft der Iren, auf Seiten Großbritanniens im Ersten Weltkrieg zu kämpfen, war unterschiedlich motiviert. Während sich die einen aus Treue zur britischen Krone meldeten, folgen die anderen dem Aufruf der Irish Parliamentary Party, die mit ihrer Zusage, die Briten zu unterstützen, die versprochene Selbstverwaltung für Irland nach dem Ende des Krieges sichern wollte. Ebenfalls zu den Freiwilligen gehörten viele irische Protestanten aus Ulster, die erbitterten Widerstand gegen die Selbstverwaltung geleistet hatten, weshalb ein Großteil der Provinz vorerst unter britischer Regierung bleiben sollte. Andere traten aus gleichsam nichtigen Gründen in die britische Armee ein, mitgerissen von der Stimmung oder aus Abenteuerlust: „Jeder hoffte, noch ein paar Kampfhandlungen zu erleben, bevor sie siegreich nach Hause geschickt würden.“

Als Willie in den Krieg zieht, ahnt er wenig von dem Grauen, das ihm begegnen wird. In den nächsten Jahren erlebt er den unerträglichen Alltag des industrialisierten Krieges. An der im Stellungskrieg erstarrten Westfront harren er und seine Kameraden in Schützengräben in Flandern aus, der immerwährenden Bedrohung des Todes, dem zermürbenden Artilleriebeschuss, der Plage von Ratten und Läusen, aber auch der Langeweile ausgesetzt. Er hört die Schreie der Verletzten, sieht das massenhafte Sterben um ihn herum, die entstellten Leichen, über die er hinwegtreten muss. Der ersten Giftgasattacke entgeht er nur dadurch, dass er rechtzeitig wegläuft. Als Trost bleiben ihm einzig die Kameradschaft unter den Männern, das freundschaftliche Verhältnis zu dem Priester des Regiments, Father Buckley, und die Briefe aus der Heimat, die aber lange auf sich warten lassen.

Während seines ersten Fronturlaubs in Dublin macht Willie eine leidvolle Erfahrung, die eine gravierende Veränderung in dem politisch-naiven Soldaten hervorruft. Als Mitglied der britischen Armee wird er 1916 gegen die eigenen Landsleute eingesetzt, die Rebellen des Osteraufstands, die eine gewaltsame Loslösung von Großbritannien erreichen wollten. Der Anblick eines sterbenden Jungen in den Straßen von Dublin erweckt sein Mitleid, und sein Bedauern über die Entscheidung der Briten, die Anführer des Aufstands hinzurichten, führt zu einem tiefen Zerwürfnis mit seinem dem Vereinigten Königreich treu gesinnten Vater.

Die ambivalenten Gefühle, die Willie den Aufständischen entgegenbringt, teilen auch die Kameraden an der Front. Als einer von ihnen, Jesse Kirwan, von der ungerechtfertigt harschen Reaktion der Briten angewidert, in einen Hungerstreik tritt und wegen Ungehorsams hingerichtet wird, spitzt sich Willies innerer Konflikt immer mehr zu: „Willie Dunne war kein Narr, daher wusste er, dass er nicht länger derselbe Willie Dunne sein konnte, der er gewesen war, bevor all dies geschah.“ Ein zweite Reise nach Dublin, bei der er erfährt, dass „alles, was er sich gewünscht hatte, dahin war“, stürzt ihn in derartige Zweifel, dass ihm der Glaube an das, was er tut, vollends verloren geht: „Wie konnte ein Mann in den Krieg ziehen und für sein Land kämpfen, wenn dieses Land sich hinter ihm auflöste wie Zucker im Regen? Wie konnte ein Mann seine Uniform lieben, wenn […] eben diese Uniform die neuen Helden auf dem Gewissen hatte? Wie konnte ein Mann wie Willie […] England und Irland gleichermaßen ins Herz schließen, wenn ihn jetzt beide Länder einen Verräter nannten, obwohl sein Herz klar und rein war, so rein, wie ein Herz nach drei Jahren des Gemetzels nur sein konnte?“

Vom ersten Satz des Romans an ahnt der Leser, dass die Geschichte von Willie Dunne nicht gut ausgehen wird. Doch versteht Barry, das erzählte Geschehen in der Verknüpfung der äußeren und inneren Ereignisse über einen langen Zeitraum mit Spannung aufzuladen. Ähnlich wie Remarque schildert er den Krieg aus der Perspektive des einfachen Soldaten und weist gleichzeitig über das Einzelschicksal hinaus. Hinter der eindringlichen Geschichte des Schützen Dunne tritt der Konflikt tausender junger Iren hervor, die wegen ihrer Beteiligung am Ersten Weltkrieg zu Außenseitern wurden, da sie – von den Briten als potentielle Gefahr in den eigenen Reihen, von den eigenen Landsleuten als Verräter an der Sache Irlands angesehen – für beide Parteien gleichsam auf der falschen Seite standen.

Sebastian Barry, der auch Lyriker ist, wird wegen seiner ästhetisch hochwertigen Prosa sehr gelobt. In „Ein langer, langer Weg“ entsteht eine Spannung zwischen der poetisch verdichteten Sprache und dem Grauen der Geschehnisse, die im Roman geschildert werden. Aber Barrys Prosa ist nicht weniger anschaulich, wenn er die sprachgewaltige – zuweilen auch verwegene – Bildlichkeit zugunsten der suggestiven Präzision seiner Sprache zurückstellt, wie in den vorausdeutenden Sätzen gegen Ende des Romans. Über Willie Dunne heißt es dort: „Da alles, was er sich gewünscht hatte, dahin war, wünschte er sich nichts mehr. Er atmete ein und aus. Das war alles. Dahin hatte der Krieg ihn gebracht, dachte er.“

Hans-Christian Oeser hat in der deutschen Übertragung die beklemmende Atmosphäre des Romans auf beeindruckende Weise in einer poetischer Sprache voll suggestiver Kraft eingefangen. Ihm ist auch zu verdanken, dass die deutsche Leserschaft auf einen ausführlichen Anhang mit Erläuterungen zurückgreifen kann. Auf Erklärungen zu den geschichtlichen Ereignissen hat Barry in seinem Roman zum größten Teil verzichtet. Somit ist er der Gefahr entgangen, dass der Roman überfrachtet wird und die langsam aufgebaute Geschichte an Spannung verliert.

Titelbild

Sebastian Barry: Ein langer, langer Weg. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2014.
368 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306636

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