Madonna, dekonstruiert

Helmut Lethen führt durch seine persönliche Bildergalerie

Von Christina MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rezensionen zu Helmut Lethens Studie „Der Schatten des Fotografen“ beginnen häufig mit einer Beschreibung der Aufnahme, die den Umschlag des – übrigens sehr elegant gestalteten – Buchs schmückt. Eine Frau mit gerafftem Rock und Kopftuch watet an einem sonnigen Tag durch einen Fluss. Erst die Inschrift auf der Bildrückseite entlarvt die scheinbar idyllische Fotografie als Dokument einer Minenprobe während des Zweiten Weltkriegs und führt so das beliebte Sprichwort vom Bild, das mehr als tausend Worte sage, ad absurdum. Diese feine und angesichts der Thematik fraglos bittere Ironie kommt Lethen gerade recht, um die Leser mit seinem Zweifel an der Wirklichkeit hinter den Bildern bekanntzumachen.

Wer diesen Einstieg in eine Buchbesprechung wählt, versäumt jedoch gleich zu Beginn auf zwei wichtige Eigenschaften des Werks aufmerksam zu machen. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Lethen, der seine Bekanntheit insbesondere seiner Abhandlung über die „Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“ (1994) verdankt, hat mit „Der Schatten des Fotografen“ mitnichten ein Buch über Fotografie vorgelegt. Der Untertitel „Bilder und ihre Wirklichkeit“ ist da schon aufschlussreicher, denn Lethens Buch enthält eine Schule des Sehens, die sich mit den verschiedensten Arten von Bildern befasst und weder Performances von Künstlerinnen wie Marina Abramović oder Vanessa Beecroft noch Ausstellungen über sowjetische Unterwäsche zu entlegen findet. Letzten Endes ist das nur konsequent, fasst der Autor doch mit Hans Belting Bilder als „Nomaden der Medien“ und somit als hinter der Fotografie oder dem Film liegende „Tiefenbilder“ auf. Einziger Schüler dieser Schule des Sehens, und das ist der zweite wichtige Punkt, ist Helmut Lethen selbst. Bewusst autobiografisch und subjektiv erzählt er den „Entwicklungsroman“ des eigenen Bildkonsums nach und bezieht sich damit ausdrücklich auf Roland Barthes, den Autor seines „Leib- und Magenbuchs“ „Die helle Kammer“ (1980).

Während Barthes sich nach dem Tod der Mutter vor allem für die Funktion der Fotografie als „Medium der Abwesenheit“ und Beweismittel des Vergangenen interessierte, ihren grundsätzlichen Realitätsgehalt also gar nicht in Zweifel zog, schwankt Helmut Lethen in seiner langjährigen Faszination mit der Bildthematik zwischen zwei Polen, die er prägnant als „Medienskepsis“ einerseits und „Sehnsucht nach Empirie“ andererseits charakterisiert. Ist ein Bild nun verlässlich wie eine historische Quelle und eine objektive Information, oder ist es im Gegenteil nur ein Konstrukt, ein Baudrillard’sches Simulacrum? Geschenkt, dass seit der griechischen Antike über das Verhältnis des Bildes zur Wirklichkeit gestritten wird; die Philosophie interessiert Lethen hier nur am Rande. Stattdessen geht es ihm um sein eigenes, subjektives Erleben des Dilemmas.

Dem Verlauf dieses lebenslangen Schwankens zwischen zwei zu einfachen und daher unmöglichen Lösungen forscht Lethen nach, indem er den vergangenen Jahrzehnten bestimmte Tendenzen und Neigungen zuordnet, die bisweilen etwas schematisch wirken oder zeitlich aus dem Rahmen fallen mögen. Die sechziger Jahre etwa, das Jahrzehnt Marshall McLuhans und der auch durch Walter Benjamin befeuerten Medienskepsis, illustriert Lethen zunächst mit einem ironischen Kunstwerk von Bruce Nauman aus dem Jahr 1966, das die Abdrücke der Knie fünf berühmter Künstler zu zeigen behauptet; er diskutiert aber auch Marina Abramovićs Performance „Das Portal“ von 1977 in diesem Kontext. Beiden Werken gemeinsam ist, dass sie das Kunstwerk als eine Sackgasse verstehen, was letzten Endes ja auch ganz gut zu dem Label passt, das Lethen den siebziger Jahren gibt: der „Lust an der Paradoxie“.

Die Achtziger dagegen bringen eine neue Sehnsucht nach dem Realen mit sich, die Roland Barthes’ „Helle Kammer“ par excellence verkörpert. Erst in diesem Abschnitt seines Buchs wendet sich Lethen ausdrücklich der Fotografie zu, lässt Barthes mit seinen Abbildungen des „Es-ist-so-gewesen“ aber recht bald hinter sich, um sich an der Dekonstruktion mehrerer ikonischer Fotografien zu versuchen, die fast alle vor 1945 aufgenommen wurden. Neben der bereits beschriebenen Szene im Fluss und der von Robert Capa festgehaltenen Landung der Alliierten an der Küste der Normandie erzählt dieses Herzstück des Buchs vor allem die verwickelte Geschichte einer Fotografie nach, die bis heute im kollektiven Bewusstsein nicht nur der Amerikaner verwurzelt ist.

Spannend wie ein Krimi liest sich das: Dorothea Lange fotografiert 1936, zu Zeiten des New Deal, im Auftrag der Resettlement Administration eine arme Wanderarbeiterin zwischen ihren sich wie beschämt abwendenden Kindern. Die Aufnahme erlangt aufgrund ihrer biblisch anmutenden Komposition und ihrer symbolträchtigen Botschaft rasch Berühmtheit, und die Abwesenheit des Familienvaters wird mit der Verlassenheit der unter der Wirtschaftskrise Leidenden in Verbindung gebracht. 1951 hängt das Bild bereits in einer weltweit gezeigten Ausstellung, die auch Roland Barthes besucht; John Steinbeck lässt sich von der Fotografie zu „The Grapes of Wrath“ (1939) inspirieren; der Roman wiederum wird von John Ford 1940 im Abgleich mit Reportagefotos von Langes Kollegen verfilmt. Noch 2008 wird mit Langes „Madonna des New Deal“ ein Zeitungsbeitrag zur (aktuellen!) Finanzkrise bebildert. All diese Bedeutungsschichten trägt Lethen mit leichter Klinge ab, indem er nach und nach offenlegt, dass die Wanderarbeiterin weder jemals in dieser Pose dargestellt werden wollte noch zum Zeitpunkt der Aufnahme ihre Kinder allein großziehen musste – ihr Mann war lediglich gerade auf der Suche nach einem Automechaniker. Muss überhaupt noch erwähnt werden, dass die Kinder vermutlich von Lange gebeten wurden, wie beschämt den Blick abzuwenden, und dass die vermeintlich „nordisch“ aussehende Amerikanerin in Wirklichkeit dem Stamm der Cherokee angehörte?

Klar scheint nun, dass eine Fotografie nicht als verlässliches „Geschichtszeichen“ gelten kann, da der „Schatten des Fotografen“ als Kennzeichen des Subjektiven und Persönlichen stets an ihr klebt. Dies machen auch die Debatten um die beiden Ausstellungen zu den Verbrechen der Wehrmacht deutlich, die das Hamburger Institut für Sozialforschung von 1995 bis 1999 und von 2001 bis 2004 durchgeführt hat. Lethen betont hier die gegensätzliche Konzeption der beiden Ausstellungen, deren erste noch ganz auf die unkommentierte Wirkung ihrer Exponate setzte, während die zweite die Schockfotos durch „totalen Kontext“ und wissenschaftliche Analysen zu entschärfen suchte, stimmt aber Klaus Theweleit zu, der die „barbarische“ Wirkung der Bilder in bestimmten Fällen durchaus notwendig fand.

Dass Lethen sein Kapitel zu den Ausstellungen mit zwei autobiografischen Episoden einleitet, die Aufschluss über seine Mühen mit einer persönlichen Aufarbeitung des NS-Regimes geben, ist durchaus typisch für dieses Buch, das dadurch zwar an vielen Stellen griffiger und sympathischer, an anderen aber auch mäandernd wirkt. Insbesondere die ersten Seiten, auf denen Lethen von einem Mordfall aus seiner Kindheit berichtet, bleiben ohne jeglichen Bezug zum Bildthema isoliert stehen. Ein wenig ratlos lässt auch das letzte Kapitel die Leserin zurück, das sich anhand der Ausstellung über sowjetische Unterwäsche und anderer Kunstprojekte ausführlich, aber recht ziellos mit Darstellungen der Nacktheit sowie Fragen der Scham befasst, die letzten Endes zum ersten von Lethen untersuchten Kunstwerk, nämlich Abramovićs „Portal“, zurückführen.

Im Grunde bleiben zwei Möglichkeiten, die Lektüre des „Schatten des Fotografen“ zu beschließen. Stellt man an den Text Fragen, wie man sie an eine theoretische Abhandlung über Fotografie stellen würde, so wird man eine gewisse Enttäuschung verspüren. Allzu viele Rätsel werden nicht aufgelöst, zu denen etwa die von Lethen mehrfach hergestellte Verknüpfung der Fotografie mit dem Begriff der Verlassenheit gehört. Obwohl der Autor am Ende seiner Wanderung durch den „Strom der Bilder“ verschiedene Formen eines „Schaukelsystems von Anschauung, Information und Erkenntnis“ unterscheiden kann, in denen beispielsweise die zum Bild gehörende Information entweder destruktive, verwirrende oder ironische Wirkung haben kann, muss er doch konstatieren, immer wieder „an den gleichen Punkten“ der Ratlosigkeit oder der Rührung anzukommen. Liest man Lethens Buch aber, wie es der Verfasser selbst vorschlägt, als „Bildungsroman“, so wird man viel Persönliches, Amüsantes oder Lehrreiches aus der Geschichte eines Bilderbetrachters erfahren, der mal im ICE sitzt, mal auf Usedom aus dem Fenster schaut und mal in der Netzhautambulanz eines Wiener Krankenhauses mit Descartes und Plessner über das Wesen der menschlichen Physis nachdenkt.

Titelbild

Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014.
272 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871345869

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