König Artus und seine Tafelrunde im Klassenzimmer?

Iris Mende sucht (fast) vergeblich nach mediävistischem Potenzial in moderner Kinder- und Jugendliteratur

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während sich das „Mittelalter“ in modernen Medien wie Computerspielen, Fernsehserien, Spielfilmen, aber auch in der Kinder- und Jugendliteratur großer Beliebtheit erfreut, findet die Beschäftigung mit mediävistischen Gattungen, Stoffen und Texten im Deutschunterricht äußerst selten statt. Der Grund liegt auf der Hand: Die kompetenzorientierten Kernlehrpläne der Bundesländer geben keine Lektüre mittelalterlicher Texte vor. Aber sie verhindern einen Unterricht mit alt- oder mittelhochdeutscher Literatur auch nicht.

Einen mittelalterlichen Text im Unterricht zu behandeln ist also möglich. Der Mediävistik und der Literaturdidaktik kommt die Aufgabe zu, Konzepte einer Mittelalterdidaktik und Ideen für einen wissenschaftlich fundierten Unterricht zur mittelalterlichen Literatur zu entwickeln sowie Forschung und Praxis miteinander zu verknüpfen.

Während die Vernetzung etwa über das Internetportal „mittelneu“ geschieht, das die Mediävistin Prof. Dr. Nine Miedema ins Leben gerufen hat, gingen und gehen wichtige fachdidaktische Impulse von der Göttinger Professorin für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur Ina Karg aus. An ihrem Lehrstuhl entstand die Dissertation „Vermitteltes Mittelalter? Schulische und außerschulische Potentiale moderner Mittelalterrezeption“ von Iris Mende.

In ihrer Arbeit widmet sich Mende dem Potenzial von Kinder- und Jugendromanen zur Vermittlung von Kenntnissen über mittelalterliche Literatur (Gattungen und Stoffe) und das Mittelalter (historische Darstellung). Dazu untersucht sie, wie wissenschaftlich korrekt das Mittelalter und die Literatur beziehungsweise das literarische Leben des Mittelalters in den Romanen verarbeitet wurden.

Mende geht davon aus, dass Kinder und Jugendliche privat (außerschulisch) Romane über das Mittelalter lesen. Dieses Lektüreverhalten sollten die Deutschlehrerinnen und -lehrer nutzen und das „Mittelalterliche“ in den Romanen im Unterricht thematisieren. Nach Mende erwerben die Schülerinnen und Schüler so fundiertes Wissen über das Mittelalter und seine Literatur, welches sie bei einer späteren privaten Lektüre oder beim Lesen alt- oder mittelhochdeutscher Literatur im Unterricht nutzen können. Durch die Beschäftigung mit modernen Romanen über das Mittelalter soll der Wunsch bei den Schülerinnen und Schülern entstehen, Texte aus dem Mittelalter zu lesen.

Um das Potenzial der Romane zur Vermittlung von Kenntnissen über das Mittelalter zu erschließen, entfaltet Mende zunächst das literaturwissenschaftliche, literaturdidaktische und mediävistische Wissen und schafft so das Fundament für die didaktische Beurteilung der Romane. Die einschlägige Forschung reproduzierend erläutert sie, wie Literatur bewertet werden kann, was die Merkmale von (fantastischer) Kinder- und Jugendliteratur sind, wie Texte im hermeneutischen Sinne gelesen und verstanden werden sollten, welche Bilder vom Mittelalter zurzeit vorherrschen und welche Bedeutung die Adaption für die mittelalterliche Literatur besitzt. Da sie sich in ihrer Auswahl auf Romane zu König Artus beschränkt, referiert sie die Geschichte des Artus-Stoffes, um dann die Romane von Marion Zimmer Bradley „Die Nebel von Avalon“, Kevin Crossley-Holland „Artus“ (Trilogie), Peter Schwindt „Gwydion“ (Tetralogie), Wolfgang und Heike Hohlbein „Die Legende von Camelot“ (Trilogie) zu untersuchen. Die Auswahl der Romane ist willkürlich, sie wurde weder literarisch noch didaktisch begründet. Mende geht zwar davon aus, dass die genannten Werke von Kindern und Jugendlichen gelesen werden, weist aber deren tatsächliche Lektüre nicht nach.

Die Ergebnisse ihrer gründlichen Analysen sind ernüchternd. Bis auf die Artus-Trilogie von Crossley-Holland erweist sich kein Roman als geeignet, den Schülerinnen und Schülern ein historisch korrektes Bild vom Mittelalter oder dem mittelalterlichen literarischen Leben zu präsentieren. Darüber hinaus greifen alle Romane Probleme aus der Gegenwart der Autoren auf und überformen so die Darstellung des Mittelalters. Auch Erzählweise und Struktur der Texte sowie Charakterzeichnung und Mentalität der Figuren erweisen sich als modern und damit als unbrauchbar, um mittelalterliche Vorstellungen oder ästhetische Formen zu vermitteln. Für alle Romane gilt ferner, dass das Mittelalterliche mühsam von der Lehrkraft im Unterricht herauszuarbeiten wäre und die Lehrperson Korrekturen an den gelesenen Mittelalterbildern vornehmen müsste. Im Fazit kommt Mende zu dem Ergebnis, dass zur Vermittlung von Wissen über das Mittelalter nur die Artus-Trilogie von Crossley-Holland und mit Abstrichen die Gwydion-Tetralogie von Schwindt für den Unterricht zu empfehlen sind.

Weiterführende Fragen nach dem grundsätzlichen didaktischen Wert der Werke und den Möglichkeiten, sie im Unterricht einzusetzen, klammert Mende bewusst aus. Angesichts des Umfangs der Romane (jeweils über 1.000 Seiten) ist es aber allein schon aus pragmatischen Gründen dringend erforderlich, dass die Texte ein hohes und vielschichtiges didaktisches Potenzial aufweisen, damit sich deren Lektüre im Unterricht überhaupt lohnt. Diesen Nachweis bleibt Mende schuldig. Das im Untertitel angekündigte Versprechen einer Darstellung der „Potentiale moderner Mittelalterrezeption“ für die Schule und außerschulischen Lernorte löst sie nicht ein, da sie die schulische und außerschulische Wirklichkeit und die praktischen Belange des Unterrichts nicht bedacht, sondern sich nur auf die Analyse des Potenzials konzentriert hat. Mende erweist sich aufgrund der Praxisferne als Bewohnerin des literaturdidaktischen Elfenbeinturms.

Berücksichtigt man didaktische (etwa Qualität in Korrelation mit der Länge des Textes, möglicher, umfassender Wissens- und Kompetenzzuwachs bei den Schülerinnen und Schülern) und methodische (etwa schülerorientierter und selbstständiger Unterricht) Aspekte, so ließe sich das Ergebnis der Studie noch schärfer formulieren: Kein vorgestellter Roman ist geeignet, um Wissen über das Mittelalter im Deutschunterricht zu vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler können das wenige Wissen nicht selbstständig erwerben, da ihnen bei der Lektüre der Romane die Kompetenz fehlt, zwischen moderner und mittelalterlicher Erzählweise und Vorstellung sowie historisch richtigen und verzerrten Darstellungen über das Mittelalter zu unterscheiden. Bevor die Schülerinnen und Schüler im Unterricht Wissen über das Mittelalter erwerben könnten, müssten sie die in den Romanen gezeichneten Mittelalterbilder dekonstruieren. Das Wissen über das Mittelalter würde dann nicht über die Romane, sondern durch andere Medien vermittelt. Das Potenzial und die didaktische Notwendigkeit der Dekonstruktion werden von Mende nicht erkannt.

Die Frage, wie und ob „Mittelalter“ durch moderne Literatur im Unterricht vermittelt werden kann, wird die Mittelalter- und Literaturdidaktik und dann hoffentlich auch die Unterrichtspraxis weiter beschäftigen. Mende bietet dazu in ihrer gut lesbaren Studie brauchbare Grundlagen und Anregungen für zukünftige Untersuchungen. Das Potenzial von Kinder- und Jugendliteratur zum Mittelalter gilt es dann zum einen bei Werken, die sich als angemessen für den Unterricht erweisen, auszuschöpfen und zum anderen um den Bereich der Dekonstruktion zu erweitern. Dann wird es auch möglich sein, dass Artus mit seiner Tafelrunde die Klassenzimmer aufsucht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Iris Mende: Vermitteltes Mittelalter? Schulische und außerschulische Potentiale moderner Mittelalterrezeption.
Peter Lang Verlag, Frankfurt 2012.
284 Seiten, 46,95 EUR.
ISBN-13: 9783631624067

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