Grundrisse der Annäherung

Helmuth Vetters Handbuch zu Leben und Werk Martin Heideggers

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helmuth Vetters „Grundriss Heidegger“ ist unter ein Motto von Paul Klee gestellt: „Wir untersuchen die Wege, die ein anderer beim Schaffen seines Werkes ging, um durch die Bekanntschaft  mit den Wegen selber in Gang zu kommen. Es soll uns diese Art von Betrachtung davor bewahren, das Werk als etwas Starres, unverändert fest Stehendes aufzufassen. Wir werden uns durch solche Übungen davor bewahren können, uns an ein Werkresultat heranzuschleichen, um schnell das Vorderste abzupflücken und damit wegzulaufen.“

Das Unterfangen des Wiener Philosophen und Emeritus Vetter wird diesem Anspruch gleich in mehrfacher Hinsicht gerecht: Es nimmt die Aufforderung Heideggers, seine Schriften als „Wege“, nicht als „Werke“ zu begreifen, das „Unterwegs“ beizubehalten und „keine Heidegger-Scholastik aufkommen“ zu lassen, ernst. Und zwar nicht einfach repetetiv, dem Wortlaut nach, sondern so, dass sie Eingang findet in Vetters eigene Herangehensweise, seinen Versuch, „zwischen den verborgenen ‚Umtrieben‘, der Suche nach einem Leitfaden und den einzelnen Wegstrecken einen Zusammenhang herzustellen“.

Es ist durchdrungen vom Gestus der Sorgfalt – vor dem Wort, vor der oft nur schwer entwirrbaren Genese eines Begriffs, der gedanklichen Präzision (es gibt keinen Grund, Heidegger nicht ebenso genau zu lesen wie Aristoteles oder Kant), vor allem aber vor der philosophischen Motivation, die dieses „Unterwegs im Wegfeld des sich wandelnden Fragens“ (Heidegger) in Bewegung hält. Und der Autor hegt, ohne dies eigens hervorzukehren, keinen Zweifel daran, dass die Auseinandersetzung mit einem Denker nicht zum Ziel haben kann, sein Denken von außen zu „verrechnen“, sondern dass es in unserem eigenen Interesse liegen sollte, es in seinem ganzen Umfang zur Kenntnis zu nehmen – und das bedeutet auch die Kröte zu schlucken, die die Wirklichkeit bereithält, wenn sie uns das, was Dieter Thomä die „unheimliche Koinzidenz“ genannt hat, dass einer der „größten Philosophen zeitweise mitwirkte bei dem Regime, das in jener Zeit das größte Unheil angerichtet hat“, vor die Füße wirft. Wer sich hier nur am Ersichtlichsten vergreift, tut vor allem sich selbst – sehen wir einmal von dem kurzen Moment moralischer Erhöhung über einen Riesen – keinen Gefallen.

Anders als das 2003 von Thomä herausgegebene, 2013 in zweiter, wesentlich revidierter und aktualisierter Auflage im Verlag J. B. Metzler erschienene „Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung“, in dem durch ein Kollektiv von sechzig Autorinnen und Autoren neben Werkaspekten und wenigen zentralen Stichworten vor allem Kontext und Wirkung der Heidegger’schen Philosophie behandelt werden, verzichtet der Alleinautor Vetter auf die Rezeptionsgeschichte, um sich auf Heideggers Denken selbst zu konzentrieren. Sein Handbuch unterscheidet sich darin auch von dem ebenfalls 2013 unter der Leitung von Philippe Arjakovsky, François Fédier und Hadrien France-Lanord bei Éditions du Cerf in Paris erschienenen „Dictionnaire Martin Heidegger. Vocabulaire polyphonique de sa pensée“, an dessen über 600 Einträgen (von „Arendt“ und „Atome“ über „Économie“ und „Mort de Dieu“ zu „Poésie“, „Pudeur“ und „Utilité“) ebenfalls vierundzwanzig Autoren beteiligt sind. Neben der grundsätzlich zu verzeichnenden Tendenz zum Handbuch wundert dessen gleich mehrfaches Erscheinen in Bezug auf Heidegger eher weniger: Ist doch die Veröffentlichung seines Denkens im Rahmen der Gesamtausgabe auf mittlerweile fast 30.000 Seiten angeschwollen – wahrhaftig ein „Gebirge“, wie der „Spiegel“ die für 1975 in Aussicht gestellte Edition der Gesamtausgabe von Heideggers Schriften durch den Frankfurter Verlag Vittorio Klostermann einst angekündigt hatte.

Der „Grundriss Heidegger“ ist in vier Teile gegliedert: in eine Übersicht über die wichtigsten Themen des Heideggerschen Denkens, ein Wörterbuch mit knapp 250 Stichworten, einen Teil zu bio-bibliografischen Daten sowie abschließend Verzeichnisse. In seiner Einleitung geht Vetter nach einer knappen Erörterung der „Sache“ dieser Philosophie ihrer Abgrenzung von der traditionellen Metaphysik sowie der spezifischen „Kreisbewegung seines Denkens“, die Heidegger bereits früh als positiven (hermeneutischen) Zirkel thematisiert, auf die Besonderheiten und Hindernisse der Lektüre von Heideggers Texten ein. Dies sind vor allem sprachliche Besonderheiten  – Neologismen, die Terminologisierung alltagssprachlicher Begriffe sowie die Umdeutung von Begriffen der philosophischen Überlieferung (all dies finden wir allerdings auch bei Philosophen wie Aristoteles oder Hegel) –, die gewaltsame Eindringlichkeit von Heideggers Umgang mit der Tradition sowie eine grundsätzliche Zweideutigkeit der Begriffe, die etwas mit Heideggers Auffassung von der philosophischen Auseinandersetzung zu tun hat, der es obliegen soll, „das eigene Dasein und das der anderen in eine fruchtbare Fraglichkeit hineinzutreiben“ (Heidegger-Zitat).

Sodann werden im ersten, synoptischen Teil die verschiedenen Stadien von Heideggers „Wegebau“ nachgezeichnet, der sich um das bildet, was sich ihm bereits 1907, im Zusammenhang seiner Lektüre von Franz Brentanos Dissertation „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“, als „Seinsfrage“ abzuzeichnen beginnt. Vetter gliedert diese Stadien chronologisch und unter Grundworten („Welt“, „Dasein“, „Kehre“, „Nichts“, „Ereignis“, „Bauen am Sein“, „Haus des Seins“); seine konzise, ebenso textnahe wie durch und durch sachliche Herangehensweise wird durch einen sinnvollerweise selektiven, aber vielseitigen Einbezug der Forschung ergänzt. Abschließend wird in vier Exkursen auf Heideggers Verhältnis zur Theologie, zur Kunst, zur Philologie und Literaturwissenschaft wie zu Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie eingegangen.

Anders als im „Dictionnaire“ finden im darauf folgenden Zweiten Teil, den Lemmata, vor allem von Heidegger selbst geprägte Begriffe ihren Ort, wie „Dasein“, „Ereignis“, „Entzug“, „Fuge“, Gegend“, „Geviert“, „Ge-Stell“, „Geworfenheit“, „In-der-Welt-sein“, „Kehre“, „Ort“, „Schweigen“, „Seinsvergessenheit“, „Stimmung“, „Topologie“, „Verfallen“, „Vorlaufen“, „Weckung“, „Zwischen“ u. a. Ähnlich wie in dem ersten Wörterbuch dieser Art, dem noch in Rücksprache mit Heidegger selbst von Hildegard Feick erstellten „Index zu Heideggers ‚Sein und Zeit‘“ (1. Auflage 1961) werden die Sachverhalte durch Verweisungen auf die entsprechenden Stellen in den Schriften erörtert, wodurch sich zugleich die Möglichkeit eines Einblicks in Wege und Wandlungen der sich weit über sechzig Jahre hinziehenden denkerischen Bemühungen Heideggers ergibt. Bei vielen Einträgen wird darüber hinaus auf andere, mit dem Lemma verflochtene und verklammerte Stichworte verwiesen, um das Gefüge im Ganzen und die Möglichkeit der wechselseitigen Bezogenheit und Erhellung der Termini aufzuzeigen. Vetter hat außerdem die Briefwechsel sowie (als Fußnotenapparat) ausgewählte Literatur hinzugezogen.

Im Dritten Teil des Handbuches findet man Biografisches, so vor allem ein ausgewogenes Kapitel zum Thema Heidegger und der Nationalsozialismus, in dem der Autor sich weniger auf eine mögliche philosophische Motivation denn auf persönliche Vorurteile und Erwartungen des Denkers konzentriert und vor allem Zeitzeugen zu Wort kommen lässt, während in Thomäs Handbuch die Tendenz eher dahin geht, Heideggers politisches Verhalten aus „Konzeptionen“ seines Werks zu erklären. Außerdem enthält der Dritte Teil Inhaltsangaben von Heideggers Schriften, die sämtliche bis 2013 erschienenen Bände der Gesamtausgabe sowie einige der in der Gesamtausgabe noch nicht publizierte Einzeltexte umfasst. Der Vierte und letzte Teil schließlich enthält erstens ein Verzeichnis der Siglen sowie eine ausführliche und gegliederte Bibliografie (unter anderem Handbücher, Indices, Lexika zu Heidegger; Heidegger-Periodica; Korrespondenzen; Fest- und Gedenkschriften) sowie ein Literaturverzeichnis, das sämtliche im „Grundriss“ zitierten Arbeiten enthält. Ein aussagekräftiges Sachregister zum Ersten Teil, einschließlich griechischer Termini, beschließt den Band.

„Grundriss“ – das suggeriert das Austarieren räumlicher Verhältnisse, der Lage und Größe von Orten innerhalb eines Ganzen, Proportionalitäten eher als systematische Aussagen. Dass das, was ist, sein Gesicht nicht zuletzt aus dem Gefüge gewinnt, aus dem es einem begegnet, oder wie entscheidend, mit anderen Worten, der „Grundriss“ ist, aus dem heraus man etwas zur Kenntnis nimmt, das wird nicht zuletzt an dem unterschiedlichen Umgang mit dem Heidegger’schen Konterfei deutlich, den die drei genannten Handbücher in ihrer Umschlaggestaltung pflegen. So blickt einen auf dem Buchdeckel des von Dieter Thomä herausgegebenen Handbuchs Heidegger von oben rechts mit herrischem Gestus an, vor einen schwarzen Balken gesetzt, der rechts neben seinem Gesicht ins Graue kippt, als bewegte sich Heidegger aus der Finsternis in einen immerhin zwielichtigen Morgen. Das „Dictionnaire Martin Heidegger“ platziert die Fotografie des einen hier offen anlächelnden Philosophen unten links in einem satten Blau, auf dem sich eine helle Fläche erhebt. Das in ineinander gefügte Vierecke gesetzte kleinformatige Abbild Heideggers auf Helmuth Vetters „Grundriss“ (eine offenbar in Frankreich entstandene Fotografie von François Fédier) zeigt den Denker dagegen in einem irgendwie intimen, uns den Blick verweigernden Moment der fragenden Verhaltenheit. Auch wenn die tendenziell gewalttätige „Pose“ des Denkens Heidegger gewiss nicht fremd war, so scheint es weder angemessen, vor ihr zu erstarren, noch, sein Denken mit medial inszenierter Empörung aushebeln und en gros in den Mülleimer der Geschichte entsorgen zu wollen. Helmuth Vetters Handbuch kommt neben seinem originär philosophischen Interesse nicht zuletzt das Verdienst zu, Augenmaß und Sachlichkeit in eine Diskussion zurückzubringen, der im Zusammenhang der „Schwarzen Hefte“ beides deutlich zu entgleiten drohte.

Titelbild

Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013.
559 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783787322763

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