Hinter dem Wimmelbild

Niels Werber widmet sich den „Ameisengesellschaften“

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Funktionen die Ameisen und andere Insekten für die Selbstbeschreibung des Menschen einnehmen, macht der Literaturwissenschaftler Niels Werber in seiner Studie „Ameisengesellschaften“ deutlich. Denn als zoon politikon hatten die Ameisen seit jeher eine besondere Funktion

Von der Natur zu lernen ist seit einigen Jahren ein zunehmend beliebtes Konzept. Was sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende und gar Jahrmillionen bewährt und evolutionär stetig weiterentwickelt und optimiert habe, könne für den Menschen kein schlechtes Vorbild sein, heißt es. Entsprechend versucht etwa die Bionik, durch Beobachtung der Natur grundlegende Prinzipien zu entdecken und auf technische Apparaturen zu übertragen.

Dieses Prinzip lässt sich auch in den Sozialwissenschaften nachweisen. So dienen Insekten einerseits als Vorbild, etwa mit Blick auf mögliche Lösungen des Problems hoher Bevölkerungsdichte. Andererseits bieten sie umgekehrt eine Projektionsfläche für Entwürfe menschlicher Gesellschaften. „Die ‚Metapher‘ der Insektengesellschaften führt so […] zu der Vision, von Problemlösungsstrategien designed by man zu ameisenerprobten Verfahren designed by evolution zu wechseln“, schreibt Werber.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Insekt nimmt der Autor in seiner Studie genauer in den Blick. Denn die Insekten, und unter ihnen insbesondere die Ameisen, dienen aufgrund ihrer Sozialität immer wieder als Paradebeispiel politischer Organisation. Sie bauen ganze Städte, leben im Kollektiv, unternehmen Raubzüge – kurzgesagt: sie bieten ausreichend Muster zu allerlei Parallelisierungen. Zugleich enthebt sie die Evolutionsgeschichte jedweder moralischer Kritik und macht sie zu einem absoluten Muster, wie Werber herausstellt: „Der gute oder kritische Rat an Ameisen oder Bienen, es einmal anders zu versuchen, entbehrt jeder vernünftigen Grundlage.“

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fristete die Ameise allerdings zumeist ein Schattendasein. Vor allem die Biene diente zur Illustration des herrschenden Gesellschaftsmodells; erst mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft begann auch der Siegeszug der Ameisenmetapher. Disparat jedoch waren stets die Ansätze, die sich der Ameise bedienten. Die Palette der Zuschreibungen macht Werber anhand unzähliger Beispiele deutlich, so etwa mittels der Gegenüberstellung von Ernst Jüngers „Arbeiter“ und Aldous Huxleys „Brave New World“: hier die Utopie Jüngers, in der er den Typus des Arbeiters entwirft, der alle individuellen Merkmale abgelegt hat; dort die Dystopie Huxleys, in der das Soma für die Stabilität der Kastenordnung sorgt. Die hohe Komplexität des Ameisenstaates offeriert zahlreiche Deutungsmuster, darin liegt die riesige Potenz des Narrativs.

Beispiel für Beispiel demonstriert Werber, wie der Mensch sich und seine Zeit im Spiegel der Ameise beschrieben hat. Dass diese Form der Selbstbetrachtung nach wie vor geübt wird, lässt sich etwa anhand des Konzeptes der Schwarmintelligenz zeigen, das seit einigen Jahren und angesichts des Internets stark an Relevanz gewonnen hat. Die Vorstellung, dass durch das Zusammenwirken vieler Menschen Wissen kumuliert und Entscheidungsfindungen optimiert werden könnten, beruht nicht zuletzt auf der Beobachtung von Ameisenkolonien. „Der Schwarm ist ein dezentrales, posthierarchisches, sich selbst steuerndes, in Echtzeit interagierendes, im Bedarfsfall spontan arbeitsteiliges, komplexes, vielförmiges und doch als höhere Einheit operierendes Kollektiv.“ Und damit ist die Idee des Superorganismus auch für die menschliche Existenz ein attraktives Konzept. Zugleich weist Werber aber auch kritisch auf die Konsequenzen dieser Idee hin: „Nähme man dieses Schwarmdenken in seiner politischen Dimension ernst, statt den Begriff nur als modische Phrase zu verwenden, wäre es wohl als verfassungsfeindlich zu bewerten.“

Erstaunlich ist es, wie Werber dabei immer wieder das Wechselspiel zwischen Populärkultur und Wissenschaft gelingt. Das macht gleich der Beginn deutlich: Von einem Sketch der US-amerikanischen Zeichentrickserie „Family Guy“ gelangt Werber binnen einer Seite zu Immanuel Kant. So sucht er auch in Büchern und Filmen der Science Fiction nach Bausteinen der Beziehung Mensch – Ameise und zieht lehrreiche Schlüsse daraus. Welche Auswirkungen das Schwarm-Konzept für unsere heutige Lebensrealität hat, macht Werber am Beispiel des Internethändlers Amazon deutlich: „Die Ameisensoftware von Amazon setzt die entwaffnend schlichte Beobachtung der Feldbiologie um, dass die meisten Ameisen gerade das tun, was die anderen Ameisen in der Nähe auch tun“ – oder im Jargon des Internethändlers: „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch“.

Niels Werber hat mit seinem Buch nicht nur eine „Faszinationsgeschichte“, wie es im Untertitel heißt, publiziert. Er hat zugleich selbst eine faszinierende Studie verfasst, welche die ungebrochene Evidenz des Ameisen-Bildes seit den Tagen von Aristoteles und Aesop aufzeigt. „Es gibt kaum ein anderes Bild, kein anderes politisches Tier, kein anderes Kollektivsymbol, das so kontinuierlich und derart prägnant Gesellschaft repräsentiert.“ Dabei macht Werber den stetigen Wandel deutlich, der die Beziehung zwischen Mensch und Ameise prägt. Dank präziser Beobachtungsgabe und akribischer Arbeit hat Niels Werber ein Kleinod interdisziplinärer Forschung vorgelegt, in dem sich Geistes- und Naturwissenschaft anregend paaren.

Titelbild

Niels Werber: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
475 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100912121

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