Die deutschsprachige Kurzgeschichte als attraktive literarische Form

Anne-Rose Meyers Einführung stellt wesentliche Merkmale einer der jüngsten Literaturgattungen in Vergangenheit und Gegenwart vor

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Böll, Kafka, Aichinger, Borchert, Schulze, Walser, Bernhard, Kehlmann, Langgässer, Rinser und Heissenbüttel sowie zahllose Autoren der Gegenwartsliteratur verbindet eine wesentliche Gemeinsamkeit: Ihr Werk enthält markante und vielbeachtete epische Kleinformen, genauer: Kurzgeschichten. Für zahlreiche Leserinnen und Leser sind diese Texte wesentlicher Teil einer spezifischen literarischen Sozialisation gewesen. Teilweise verkörpern sie für junge Leser bis heute erste Berührungspunkte mit anspruchsvoller, ästhetisch versierter beziehungsweise artifiziell gestalteter Literatur.

In der Nachkriegsliteratur kam der Kurzgeschichte eine herausragende Bedeutung zu. Dies führte dazu, dass sie sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung als respektabler Forschungsgegenstand etabliert hat. Seit fast zwanzig Jahren existiert mit dem Band von Leonie Marx (in der Reihe „Sammlung Metzler“ zuletzt 2005 in dritter Auflage erschienen) eine profunde Einführung. Generationen von Studierenden wurden der Gegenstand und die literarische Textsorte Kurzgeschichte so erschlossen.

Die Hamburger Literaturwissenschaftlerin Anne-Rose Meyer hat nun für die Reihe „Grundlagen der Germanistik“ (Erich Schmidt Verlag) als Band 54 eine Einführung vorgelegt, welche mit hohem Problembewusstsein und einem feinen Sensorium für Entwicklungen und Texte eigene Akzente setzt.

In zwei Schritten nähert sich die Germanistin dem Themenbereich an: Die ersten drei Kapitel der Einführung fokussieren gattungstheoretische und -typologische Grundlagenfragen. Die folgenden sieben Kapitel geben einen gattungshistorischen Überblick und liefern jeweils spezifische Beispielanalysen.

Zentrale Begriffe der ersten Kapitel sind „Kürze“, short story und „Gattungstypologie“. Auf wenigen Seiten umreißt die Autorin die Ursprünge und die Bezüge zu anglophonen Traditionen, betont kulturelle Unterschiede und arbeitet gattungstypologische Merkmale heraus. Knapp und sachlich versiert geht sie auf Aspekte wie Verdichtung durch Bildeinsatz, Wiederholungen, personale beziehungsweise Ich-Erzählhaltung sowie einsträngige Handlungen ein. Es entsteht das Bild von Kurzgeschichten als Texte, die einer strengen Ökonomie unterworfen sind. Dabei verliert die Wissenschaftlerin die Ähnlichkeit mit anderen epischen Kleinformen als tertium comparationis der Gattungsbestimmung nicht aus dem Auge.

Lesenswert sind die kenntnisreichen Ausführungen zu den Vorstufen und Ansätzen der Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum. E. T. A. Hoffmanns „Ritter Gluck“ und Friedrich Hebbels „Der Schneidermeister Nepomuk Schlägel auf der Freudenjagd“ werden als Kurzgeschichten avant la lettre beschrieben, die „eine starke Reflexion der eigenen erzählerischen Mittel aufweisen und in hohem Maße selbstreferenziell sind“. Gerade die Epoche der Romantik bietet insofern Anschauungsmaterial, um hochkomplexe Erzählformen zu studieren. Dennoch ist der Aufstieg der Kurzgeschichte zu einer vielbeachteten und -gelesenen Gattung im 20. Jahrhundert anzusiedeln: „Die Behandlung wirklichkeitsnaher Themen wie Alltagserfahrungen, Zeit- und Gesellschaftsproblemen steht im Fokus von Nachkriegsschriftstellern […]. Dafür bietet die Kurzgeschichte eine angemessene, unverbrauchte Form.“

Dass auch Internet und Twitter Distributionschancen eröffnen, verschweigt Anne-Rose Meyer nicht. Jedoch fokussiert sie ausführlich den Einfluss US-amerikanischer Vorbilder, vor allem Edgar Allen Poes theoretische Fundierung Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber auch Guy de Maupassant und Anton Tschechow sind in diesem Kontext zu nennen, nicht zuletzt O. Henry und Ernest Hemingway sowie Raymond Carver. Meyer extrahiert materialgesättigt strukturelle und inhaltliche Kennzeichen dieser fremdsprachlichen Vorbilder: „Das Spiel mit Leerstellen; die symbolische Aufladung von gewöhnlichen Objekten, Phänomenen und Situationen; Motivwiederholungen; aufmerksamkeitssteuernde Titel“. Zu ergänzen wären noch die Konzeption „auf ein überraschendes Ende hin“, ferner die Konstruktion eines Wendepunktes.

Deutschsprachige Autoren wie Arno Holz und Johannes Schlaf, Robert Walser und Franz Kafka konstituieren – nach ersten individuellen Ansätzen – seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlagen der Gattung. Der Verzicht auf epische Länge, Geschlossenheit und Charakterentwicklung setzt fortan Maßstäbe.

Ausführlich reflektiert die Germanistin im achten Kapitel die „Hochzeit der Kurzgeschichte in der Nachkriegsliteratur“. Dazu wählt sie eine Fülle an Texten zur Analyse und gattungsbezogenen Interpretation aus, die von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Elisabeth Langgässer, Ernst Schnabel, Herbert Roch, Bruno Hampel und Luise Rinser sowie Ilse Aichinger stammen. Exemplarisch zeigt sie jeweils an Einzeltexten, inwiefern der fragmentarische Charakter der Kurzgeschichte ein Reflex auf Zeitkontexte ist. Mit den Worten der Autorin kann diese Entwicklungsphase eindrucksvoll als Antwort auf den „Verlust übergeordneter Sinnzusammenhänge und teleologischer Geschichtsmodelle“ gewertet werden, insofern als eine ästhetische Bewältigung „der historischen Katastrophe des Nationalsozialismus“.

Damit endet jedoch die Entwicklung der Kurzgeschichte nicht. Seit den 1960er-Jahren ist es zu vielen Fort- und Weiterentwicklungen gekommen, die drei Perspektiven aufweisen: Techniken der extremen Verknappung und einer Poetik des Schweigens in Form von Kürzestgeschichten, Artikulation gesellschaftlicher Kritik und parodistische Verweigerungen literarischen Erzählens durch Brechungen und Sprachspiele. Auch in diesem Fall geht Meyer methodisch geschickt von Einzeltextanalysen zu generalisierbaren Tendenzen der Gattungsentwicklung, indem sie exemplarische Texte von Heimito von Doderer, Peter Bichsel oder Thomas Bernhard fokussiert.

Knapp dreißig Seiten widmet das Einführungswerk aktuellen Entwicklungen. Konzise werden neue Formen wie Tiny Tales oder Flash Fiction angesprochen, sozusagen Kürzestgeschichten „to go“. Jüngste Beispiele für Gattungsinnovationen scheinen mit Franz Doblers „Letzte Stories“, Manuela Reicharts „Zehn Minuten und ein ganzes Leben“ und Hanna Lemkes „Gesichertes“ vorzuliegen. Kontrovers rezipieren lässt sich Jochen Rauschs Sammlung „Trieb“, da „Polyperspektivismus“ und „kalkulierte Unbestimmtheit“ erneut Fragen nach Gattungstreue und Innovation aufwerfen. Um so positiver fällt der Ausblick Meyers aus: Kurzgeschichten repräsentieren eine „lebendige Gattung“ mit Potenzial für „weitere spannende Entwicklungen“.

Zusammenfassend betrachtet liegt mit dem Buch von Anne-Rose Meyer eine klar strukturierte und präzise erarbeitete Einführung vor, die sowohl von Studierenden als auch von Dozenten und Lehrkräften weiterführender Schulen mit großem Gewinn konsultiert werden kann. Gesteigert wird der Gebrauchswert durch ein fünfzehnseitiges Literaturverzeichnis (mit umfangreicher Primär- und Sekundärliteraturnennung) und ein Personen- und Sachregister zur schnellen Orientierung. Der große Mehrwert des Bandes liegt abschließend einerseits in der problemorientierten, einzelfallbasierten Darstellung zentraler Gattungsmerkmale, andererseits in der Berücksichtigung aktueller Trends und exemplarischer Tendenzen der Kurzgeschichte in der Gegenwartsliteratur.

Titelbild

Anne-Rose Meyer: Die deutschsprachige Kurzgeschichte. Eine Einführung.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014.
216 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503137947

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