Die Hoffnung führt weiter als die Furcht

Tom Schilling liest Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im hundertsten Jahr nach seinem Beginn zeigt sich unsere gewachsene historische Distanz zum Ersten Weltkrieg mehr denn je, den man retrospektiv oft als entsetzliches Fanal eines Jahrhunderts nahm. Das dokumentiert nicht zuletzt auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die publizistische Vergegenwärtigung des Krieges anlässlich des symbolischen Datums. Ganz abgesehen freilich davon, dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hierzulande schon seit langem und mit gutem Grund von der an den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus überlagert wird, ist es jedoch im Abstand von hundert Jahren wohl auch nicht anders zu denken, als dass der Ton der Erinnerung scheinbar sachlicher und differenzierter wird, jedenfalls an Unmittelbarkeit und Beteiligung verliert.

Von den Schrecken jenes Krieges, die für mehrere an Frieden und relative Sicherheit gewöhnte Generationen prägend wurden, aber auch von ihrer nicht geringen Kriegsbegeisterung und den sich anschließenden, scharf polarisierenden Konfliktlinien um Fragen von Schuld und Strafe, Opfer und Heldentum scheinen wir hundert Jahre später denkbar weit entfernt. Das gilt kaum anders für die zeitgenössischen Debatten um das wohl bekannteste Stück deutscher Kriegsliteratur, Ernst Jüngers 1920 erstveröffentlichtes Buch „In Stahlgewittern“. Zwar sind die einschlägigen Debatten um Kriegsverherrlichung und Ästhetik des Schreckens, Nationalismus und Militarismus bekannt und vielleicht auch geschlagen; jedenfalls aber wird aus heutiger Sicht kaum mehr verständlich, wie die Lektüre eines Buches wie „In Stahlgewittern“ – mit welchen Intentionen sie von ihrem Autor auch verfasst worden sein mögen – je zu etwas anderem veranlassen konnte als zum Entsetzen über den Krieg.

In einem groß angelegten Projekt hat es der Bayerische Rundfunk nun in Zusammenarbeit mit dem Hörverlag unternommen, Jüngers „In Stahlgewittern“ in ein Hörbuch umzusetzen. Der Schauspieler Tom Schilling trägt das Buch in einer gut zwölfstündigen Lesung auf zehn CDs ungekürzt vor. Ob dies im Ergebnis dazu führen wird, dass die „Stahlgewitter“ nun hundert Jahre nach Kriegsbeginn häufiger gelesen werden, sei dahingestellt. Immerhin ist das Buch pünktlich zum Jubiläum auch in mehreren neuen Leseausgaben (Broschur, Hardcover, E-Book) sowie unlängst in der von Helmuth Kiesel herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe erschienen. Zweifellos jedoch bietet das Hörbuch nun die Möglichkeit einer neuen Form der Auseinandersetzung mit dem Buch, das den immer noch jungen, aber bereits Pour-le-Mérite-dekorierten Soldaten Ernst Jünger einst zum bekannten Schriftsteller machte.

Jünger verarbeitete und literarisierte nach Ende des Krieges seine umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen aus der Kriegszeit – von  Anfang 1915 bis August 1918 – zu dem Buch „In Stahlgewittern“. Der 32-jährige Tom Schilling spricht nun diese scheinbar sachlich, scheinbar unmittelbar niedergeschriebenen Erlebnisse des Frontsoldaten und Stoßtruppführers Ernst Jünger, der bei Kriegsbeginn kaum 19 Jahre alt war. Die Altersdifferenz ist bezeichnend. Von jugendlichem Übermut ist bei Schilling ohnehin wenig zu spüren; sein Vortrag ist ruhig, eindringlich und nüchtern, und er entspricht damit ganz dem Ton seiner Vorlage, wie er zugleich mit der ästhetisierenden Verarbeitung der Kriegsschrecken bei Jünger kontrastiert. Abgerissene Gliedmaßen, herausquellende Eingeweide, verstümmelte Leichen, Giftgasattacken – all diese Grauen des Krieges, von Schilling und Jünger berichtet, begegnen dem Zuhörer der „Stahlgewitter“ nun genauso wie ihren Lesern, allerdings gleichsam ungeschützt. Sich darauf einzulassen, sich gewissermaßen dem Jünger’schen Erzählen beziehungsweise dem Schilling’schen Vortrag auszuliefern und sich mit den Schrecken des Krieges unmittelbar zu konfrontieren, ist keine anspruchslose Aufgabe.

Den Abschluss der zehn CDs umfassenden Hörbuch-Box bildet nach Schillings Lesung eine Originalaufnahme des Autors, das heißt in diesem Fall die etwas unvermittelt folgende, gut halbstündige Dankesrede Ernst Jüngers zur Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main im Jahr 1981. Warum die Produktion sich ausgerechnet dieses Tondokuments angenommen hat, wird nicht weiter aufgeklärt, obschon Jünger in seinem Vortrag auch auf den sechzigjährigen „langen Marsch“ vom Krieg zum Frieden zu sprechen kommt. Mit einem französischen Kameraden habe er in Verdun zum 63. Jahrestag (1979) im Angedenken der großen Schlacht eine Militärparade abgenommen. Dieser deutsch-französische und europäische Weg zum Frieden sei so auch sein eigener, der nämlich „vom Nationalrevolutionär zur Paulskirche“. Es sei „kein Irrweg“ gewesen. Jüngers Dankrede wurde in der Goethepreisschrift des Jahres 1982 unter dem Titel „Die Hoffnung führt weiter als die Furcht“ – in Anlehnung an das Schlusswort des Essays „An der Zeitmauer“ (1959) – erstabgedruckt.

Geradezu frappierend wirkt der Kontrast zwischen Schillings Vortrag und der dünnen, eher hohen Stimme des 87-jährigen Jünger. Seinerzeit hatte die Frankfurter Jury für die Preisvergabe „manche Widrigkeit geerntet“, wie der Geehrte selbst bemerkt. Vor der Frankfurter Paulskirche wurde gegen die Preisverleihung demonstriert. In seinen Tagebuchaufzeichnungen „Siebzig verweht“ notierte Jünger dann im Anschluss: „Daß Ehrungen heute fragwürdig geworden sind, versteht sich; immerhin wurde diese würdig absolviert. Ich hatte keine große Rede vorbereitet, sondern mich auf eine Auswahl von Maximen beschränkt, also auf eine in jedem Fall, auch jedem Zwischenfall, abgeschlossene Darbietung.“

Das Hörbuch „In Stahlgewittern“ kommt zum Weltkriegsjubiläum gerade zur rechten Zeit. Begleitet wird die Hörbuch-Edition in einer schönen Box durch ein schmales Booklet, das neben Informationen zu der von Antonio Pellegrino verantworteten Produktion des Bayerischen Rundfunks auch den (leicht gekürzten) Abdruck eines Aufsatzes von Bruce Chatwin enthält. Der Brite hatte Jünger 1976 in Wilflingen besucht, um mit ihm über seine Tagebücher zu sprechen, und er verband dies in einem Reisebericht zu einem eleganten Essay. Alles in allem handelt es sich um eine gelungene Umsetzung des Jünger’schen Buches. Tom Schilling, der im vergangenen Jahr in dem einige Diskussionen nach sich ziehenden TV-Mehrteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ bereits einen jungen Soldaten des Zweiten Weltkriegs spielte, war eine gute Wahl für die Position des Rezitators. Über viele Stunden trägt er konzentriert Jüngers literarischen Erstling vor. Die komplexe Überarbeitungskarriere des Buches ist bekannt; sie gab Anlass zu der bereits erwähnten historisch-kritischen Edition, in der die sieben zwischen 1920 und 1978 erschienenen Fassungen des Textes einander gegenübergestellt werden. Tom Schillings Hörbuch-Lektüre hält sich dabei ganz an die Ausgabe letzter Hand, wie sie heute auch in allen Standardausgaben des Textes und in den Jünger’schen Sämtlichen Werken verbreitet werden. Nicht nur in Ergänzung dazu, sondern auch ganz unabhängig davon ist diese Hörbuch-Edition für Jünger-Leser und solche, die ihn lieber hören mögen als lesen, sehr zu empfehlen.

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Ernst Jünger: In Stahlgewittern.
Gelesen von Tom Schilling. Mit einem Originalton des Autors.
Der Hörverlag, Hamburg 2014.
10 CD, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783844513325

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