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Richard Linklater entwirft in „Boyhood“ die Chronik einer texanischen Patchworkfamilie

Von Dominik RoseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Rose

In seinen frühen Filmen offenbarte US-Regisseur Richard Linklater eine Vorliebe für Geschichten, die sich an einem einzigen Tag zutrugen. So etwa in seinem Debüt „Slacker“ über eine Gruppe von exzentrischen Außenseitern in seiner Heimatstadt Austin, oder die Teenagerkomödie „Dazed and Confused“, in der die turbulenten Ereignisse eines letzten Schultags an der High School eingefangen werden. Nicht zuletzt die ersten beiden Teilen der inzwischen zu einer (vorläufigen) Trilogie angewachsenen „Before“-Reihe – „Before Sunrise“ und „Before Sunset“ – über die bittersüße Romanze zwischen dem US-Amerikaner Jesse und der Französin Céline (gespielt von Ethan Hawke und Julie Delpy), die zwei magische Tage in Wien und später in Paris durchleben – Tage, an denen sich die sonst so ziellos dahinfließende Zeit zu verdichten scheint, in einem einzigen besonderen Moment im Leben, der den Beiden nicht mehr aus den Köpfen gehen wird.

Es gibt nicht viele Regisseure, denen es gelingt, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins so gänzlich unprätentiös einzufangen wie Linklater. Und nun also „Boyhood“, sein wohl ambitioniertestes Werk bislang. Die Dreharbeiten zogen sich über zwölf Jahre hin, in denen sich die Crew regelmäßig traf, um der Geschichte eine weitere Episode anzufügen. Ein Projekt mit vielen Risiken und Unwägbarkeiten, etwa der Ungewissheit, ob die Kinderdarsteller nicht womöglich das Interesse am Dreh verlieren würden.

Im Zentrum der Geschichte steht Mason (Ellar Coltrane), ein zu Beginn sechs Jahre alter, leicht verträumter Junge, der mit Schwester Samantha (Lorelei Linklater, die Tochter des Regisseurs) und der alleinerziehenden Mutter Olivia (Patricia Arquette) in einer texanischen Kleinstadt lebt. Masons Leben besteht aus den typischen Dingen, die einen Jungen in seinem Alter beschäftigen: dem Herumstreunen mit seinem besten Freund, den Streitigkeiten mit der nervenden älteren Schwester, die mit Vorliebe Britney Spears imitiert, der interessierten Lektüre von Damenunterwäsche-Katalogen oder dem Sammeln von Schlangenwirbeln – ein exzentrisches Hobby gehört mindestens dazu.

Sein Vater, Mason senior (Ethan Hawke), der erst kurze Zeit zuvor aus Alaska zurückgekehrt ist, wohin es ihn nach der Trennung von Olivia verschlagen hatte, versucht nun in einer Mischung aus Enthusiasmus und Übereifer, die alte Vertrautheit mit seinen Kindern herzustellen und dabei vielleicht auch wieder seiner Exfrau näher zu kommen – was offensichtlich misslingt, auch wenn es im Film zu keiner emotionalen Aussprache zwischen den Beiden kommt. Ein einschneidendes Erlebnis steht bevor, als Olivia mit den Kindern nach Houston umzieht, wo sie ein Psychologiestudium beginnen will. Am Tag des Umzugs erblickt Mason aus dem davonfahrenden Auto heraus seinen besten Freund, der gerade zufällig vorbeiradelt, ein Moment, in dem recht beiläufig das Gefühl von Verlust und schmerzhafter Veränderung eingefangen wird – eine der vielen kleinen, präzisen Beobachtungen, die den Film ausmachen.

Die Übergänge von einer Episode zur nächsten vollziehen sich nahtlos, ohne erklärende Zwischentitel oder dergleichen, ebenso flüchtig, wie die Zeit nun einmal vergeht. Olivia verliebt sich in ihren Uni-Professor Bill (Marco Perella), in der nächsten Szene leben sie bereits in einem komfortablen Haus zusammen, gemeinsam mit Mason, Samantha und den beiden Kindern aus Bills erster Ehe. Als Bill sich unter dem Einfluss einer Alkoholsucht immer mehr zu einem gewalttätigen Despoten wandelt, wird es plötzlich dramatisch und Olivia muss mit ihren Kindern fliehen. Von dieser beklemmenden Szene abgesehen, prägen den Film aber eher die unscheinbaren Momente, die subtilen Veränderungen im Leben seiner Protagonisten. Außer den offensichtlichen äußeren Veränderungen, neuen Haarschnitten, Moden und den Wachstumsschüben der Kinder, sind es die zeitgeschichtlichen Ereignisse, die dem Zuschauer ein Gefühl für den zeitlichen Kontext der Handlung vermitteln. So engagiert sich Mason senior gemeinsam mit seinem Sohn für den ersten Präsidentschafts-Wahlkampf von Obama und fordert Mason junior in einer amüsanten Szene dazu auf, ein McCain-Plakat von einem privaten Grundstück zu entwenden, bevor die Beiden mit quietschenden Reifen davonbrausen.

Auch an popkulturellen Verweisen fehlt es nicht, sei es die Party zum Erscheinen eines neuen Harry Potter-Bands, an der Olivia mit den Kindern teilnimmt, oder der mit diversen Popsongs vor allem aus dem Independent-Bereich gespickte Soundtrack, der sich von den Hives und Coldplay in den frühen 2000er Jahren über Arcade Fire und Vampire Weekend bis hin zu Family of the Year ganz am Ende erstreckt. Mehr noch als die politischen Ereignisse, die das Leben der Figuren eher am Rande berühren, markieren diese Songs emotionale Verknüpfungspunkte und sind somit Teil einer persönlichen Erinnerungskultur (in gewisser Weise wie der Genuss eines Madeleine-Gebäcks für Marcel Proust, einem anderen bedeutenden Chronisten verstreichender Zeit).

Als emotionaler Fixpunkt des Films hat der von Ellar Coltrane gespielte Mason junior einen großen Anteil daran, dass die Handlung über eine Laufzeit von fast drei Stunden nur selten an Spannung verliert. Wie sich der anfangs eher blasse Mason zu einem tiefgründigen Jugendlichen entwickelt, der durch die schmerzlichen Auseinandersetzungen mit alkoholsüchtigen, sich despotisch aufführenden Stiefvätern eine Art sanftmütige Widerstandskraft entwickelt, ist faszinierend zu beobachten. Die Szenen mit seinem leiblichen Vater, zu dem er einen regelmäßigen Kontakt hält, gehören ebenfalls zu den stärksten Momenten des Films, auch weil sich in ihren Vater-Sohn-Unterhaltungen die Veränderungen ihrer Beziehung spiegeln. Ist der kindliche Mason noch fasziniert von den Einsichten in das rätselhafte Verhalten des weiblichen Geschlechts, die ihm sein Vater gewährt, weiß der erwachsene Mason dessen bisweilen altklugen Weisheiten mit der nötigen Skepsis zu beurteilen. Insbesondere wenn es um die grundlegenden philosophischen Fragestellungen geht, erweisen sich die Elternfiguren als ebenso ratlos wie ihre Kinder. Ob es denn gar keine Magie auf der Welt gebe, fragt Mason als kleiner Junge seinen Vater in einer Szene, während seine Mutter Olivia ganz am Ende, als Mason seine Sachen zusammenpackt, um von zu Hause in Richtung College aufzubrechen, eine ähnlich geartete Frage aufwirft: Ist das etwa schon alles gewesen?

Richard Linklater verwehrt dem Zuschauer konsequent eine vordergründige Antwort auf diese existentiellen Fragen und versucht, das Leben mit einem Höchstmaß an filmischer Authenzität einzufangen, mitsamt seinen Widersprüchen und ernüchternden Momenten. Das erfordert mitunter einen langen Atem, da nicht jede der eher lose und mit dem Anschein von Spontaneität konzipierten Episoden gleichermaßen fesselnd ist, aber das Resultat bleibt einem noch lange in der Erinnerung, nachdem man den Kinosaal verlassen hat. Manchmal reicht schon ein Song aus dem Radio, und der besondere Moment ist wieder da.

„Boyhood“ (USA 2014)
Regie: Richard Linklater
Darsteller: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei Linklater
Laufzeit: 163 Minuten

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