Literatur als Form des Widerstands?

Dorothee Elmigers zweiter Roman Schlafgänger lotet Möglichkeiten gegenwartsbezogenen literarischen Schreibens aus

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im Frühjahr vor sechs Jahren“, so erinnert sich ‚der Student aus Glendale‘ in dem neuen Roman von Dorothee Elmiger, „habe er einmal eine Wohnung betreten, die sich im Erdgeschoss eines windigen Hauses befunden habe, dort hätten sich unvermittelt Leute aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen eingefunden und sich zu leiser Musik unterhalten, auf jedem Tisch in dieser Wohnung […] habe sich aber auch eine Schreibmaschine befunden, und ohne viel Aufhebens hätten sich einige Gäste vor diese Geräte gesetzt, bis sie wiederum abgelöst wurden von neu hinzugekommenen“. Zum einen ist mit diesem Bericht eine Frage berührt, die der Roman immer wieder aufwirft: Wie ist ein Zusammenleben von Menschen möglich, das sich nicht an der Logik des Kapitalismus orientiert, in dem sich nicht immer schon die gesellschaftlich-ökonomischen Machtverhältnisse abbilden? Zum anderen erscheint der auf diese Weise entstehende Text, der die Geschichten all dieser Menschen in einem unabgeschlossenen Gefüge aufbewahrt, als Bild für dieses merkwürdige Gespräch jener Figuren, deren Erzählungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen im Roman auf so wundersame Weise zu einer Textur unterschiedlicher Stimmen – etwa ‚der Schriftstellerin‘, ‚des Logistikers‘, ‚der Übersetzerin‘, und ‚des Studenten aus Glendale‘ – verwoben sind. An welchem Ort sich dieses Gespräch ereignet, tut nichts zur Sache; die Zeit: immer die Gegenwart.

Die Figuren dieses Buches sprechen über wirkliche und metaphorische Grenzerfahrungen, das tatsächliche Überqueren von Staatsgrenzen, über den Schlaf, den Tod und über das Fallen: „Eine Person, die stolpert und fällt, sagte der Student aus Glendale, verliert die Herrschaft über sich selbst und wird zu einem Objekt.“ Die Frage nach dem Körper und der ihm eigenen Gesetzmäßigkeit erscheint als ein weiteres bestimmendes Thema des Romans. In diesem Zusammenhang ist der wiederholte Verweis auf den niederländischen Konzept- und Performancekünstler Bas Jan Ader bedeutsam, der gerade in seinen Videoarbeiten der frühen 1970er Jahre immer wieder das ‚Fallen‘ thematisiert, und zwar indem er den eigenen Körper einsetzt, um jenen Umschlagspunkt auszuloten, an dem der Mensch die Kontrolle über seinen Körper verliert und – wie ‚der Student‘ es formuliert – zum Objekt wird.

So thematisiert der Roman aus der (durchaus nicht unangebrachten) poetischen Distanz Migrationserfahrungen von Menschen, die sich zwischen Europa, Afrika und Amerika bewegen und durch das legale und illegale Passieren von Grenzen zum Objekt staatlicher Bürokratie und Gewalt werden. Auch jene titelgebenden ‚Schlafgänger‘, so weiß ‚der Student‘ zu berichten, waren vorwiegend junge Menschen, die es zur Zeit der Industrialisierung in die großen Städte verschlagen hat; allein und „gezwungenermaßen hoch mobil“ hielten sie sich „mit befristeten und schlecht bezahlten Beschäftigungen über Wasser“. Und wer sich keine Wohnung leisten konnte, mietete sich für ein paar Stunden am Tag ein Bett. Das aber, in Marxscher Terminologie gesprochen, reicht noch nicht einmal zur Reproduktion der einzigen Ware, die sie zu Markte tragen können: ihrer Arbeitskraft. Nicht einmal für die Zeit des Schlafes also, so fährt ‚der Student‘ fort, haben jene Schlafgänger einen sicheren Ort. Und ‚der Journalist‘ wird nicht müde, auf die komplexen ökonomischen Zusammenhänge hinzuweisen. Die Zeit: immer die Gegenwart.

Die Qualität der Sprache, die diesen Roman auszeichnet, ihre Bildhaftigkeit und rhythmische Dichte, sind bedingt durch eine sich erzählende Geistesgegenwart. Diese drückt sich in einem Tiefenrhythmus der wechselnden Erzählsequenzen der einzelnen Figuren aus, der auf die zahlreichen, unter der Erzähloberfläche verlaufenden Verstrebungen hindeutet. Diese besondere poetische Qualität des Romans besteht in einer eigenständigen Arbeit des Übersetzens, der Transformation subjektiver Erfahrungen von Raum und Zeit in ein ferngerücktes und zugleich (bildhaft) verdichtetes inneres Erleben der Figuren. So berichtet Esther, die Schwester ‚des Logistikers‘ – der die wohl zentrale Figur des Textes ist –, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann kürzlich eine längere Reise ins Gebirge unternommen habe; „dabei seien sie beim Abstieg in dichten Nebel geraten, beim Aufstieg habe sie noch das gleißende Berglicht geblendet.“ Der Roman besteht aus einer Vielzahl solcher Gedächtnisbilder, die an die Stelle eines Erzählkontinuums treten und die Essenz subjektiven Erlebens zu beinhalten scheinen. Der Text mutet bisweilen wie ein sprachliches Bildbelichtungsverfahren an, durch das etwas wie eine ‚Poesie der letzten Bilder‘ entsteht.

Die Autorin selbst agiert also irgendwo zwischen den von ihr entworfenen Figuren, zwischen ‚der Schriftstellerin‘ und ‚der Übersetzerin‘. Anhand der Figur der Schriftstellerin, die ein vielbändiges Werk über ihre Reisen an solche Grenzen geschrieben hat, „die stets demütigend, wenn nicht tödlich sind“, setzt sich Dorothee Elmiger mit der Frage auseinander, ob Literatur überhaupt ein geeignetes Mittel des Widerstands gegen die globale politisch-ökonomische Entwicklung darstellt. ‚Die Schriftstellerin’ beendet ihr Leben als Schriftstellerin in dem Moment, da ihr klar wird, dass es nicht möglich ist, über das Schicksal von Migranten und Flüchtlingen zu schreiben, ohne daraus literarisch-ökonomisches Kapital zu schlagen, also ohne zugleich ein System zu reproduzieren, das man kritisiert. Und auch ‚der Journalist‘ erklärt, „das Schreiben dränge zwar im besten Fall beharrlich und mit Nachdruck auf Veränderung, manche Momente verlangten aber nach einer Form des Widerstands, die unmittelbar und ebenso extrem sei wie die Situation, auf die sie reagiere.“ Die Lösung hingegen, die Dorothee Elmiger für das Problem findet, wie über jene tiefgreifenden sozialen Verwerfungen und Widersprüche unserer Zeit literarisch geschrieben werden kann, ist eine Übersetzung in poetische Reflexion, die sich der Tragik des realen Geschehens nicht verschließt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dorothee Elmiger: Schlafgänger. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2014.
141 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783832197421

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