Die Kunst war nicht tot

Wilhelm Klemm schreibt Briefe und Gedichte über den Ersten Weltkrieg

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor zwei Jahren ist die erste Gesamtausgabe der Lyrik Wilhelm Klemms erschienen. Nun hat Imma Klemm, die diesen bibliophilen Band gemeinsam mit Jan Röhnert herausgegeben hat, aus aktuellem Anlass nachgefasst und ein Taschenbuch vorgelegt. Das Buch bietet wertvolles, zum Teil bislang unveröffentlichtes Material über Klemms Tätigkeiten als Lazarettarzt und Dichter im Ersten Weltkrieg. Es besteht aus zwei editorischen Teilen und einem Anhang. An erster Stelle steht die Korrespondenz des Ehepaars Wilhelm und Erna Klemm seit Kriegsausbruch bis Dezember 1914. Danach folgen unter der zweigeteilten Rubrik „Verse aus dem Ersten Weltkrieg“ 41 Gedichte, die zwischen Oktober 1914 und April 1915 in der „Aktion“ beziehungsweise in Klemms erstem Gedichteband „Gloria! Kriegsgedichte aus dem Feld“ und sodann in den beiden Folgejahren in der von Franz Pfemfert besorgten Publikation „1914–1916. Eine Anthologie“ und in Klemms drittem Gedichteband „Aufforderung“ erschienen sind. Der Anhang nach dem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil, das die biografischen und literaturgeschichtlich relevanten Aspekte von Klemms Kriegserlebnis und -lyrik ausleuchtet, enthält erklärende Hinweise zur Edition, eine Karte der Truppenbewegungen von Klemms Regiment an der Westfront bis Ende 1914 und einen bibliografischen Teil zur Primär- und Forschungsliteratur.

Die originalen Feldpostbriefe Klemms sind leider nicht erhalten. Erhalten hat sich jedoch ein von Erna Klemm bis April 1915 hergestelltes Typoskript auf der Grundlage dieser Briefe, das unter Ausschluss alles allzu Privaten und Geschäftlichen – Klemm hatte seit dem Tod seines Vaters 1908 die Leitung der Kommissionsbuchhandlung Otto Klemm übernommen – die Schilderungen der Erlebnisse des Arztes Klemm im Feldlazarett und beim Stellungswechsel für eine von Pfemfert unterstützte, seinerzeit nicht zustande gekommene Publikation im S. Fischer Verlag festgehalten hat. Erna Klemms Autografen existieren zwar noch, werden in der vorliegenden Edition aber nur zum Teil und überdies in paraphrasierender, sich allerdings eng an den Wortlaut der Vorlage haltender Form wiedergegeben. Obwohl man also keine Originaltexte zu lesen bekommt und somit zweifellos Abstriche hinsichtlich der Authentizität des Gelesenen machen muss, entsteht bei der Lektüre dieser Korrespondenz ein plastisches Bild des Kriegsalltags eines bildungsbürgerlich privilegierten, zumindest ohne materielle Sorgen lebenden Paares. Vielleicht hätte Klemm den Ersten Weltkrieg nicht überlebt, wenn ihn nicht sein Medizinstudium und seine zeitweilige Arbeit als Chirurg vor dem von vielen Expressionisten geteilten Schicksal bewahrt hätte, in den Schützengräben verheizt zu werden.

Die Edition, die Dokumente privaten Charakters mit publizierter Dichtung kombiniert, ist eine in vielfacher Hinsicht lohnenswerte Lektüre. Nur einige Aspekte sollen hier skizziert werden. So ist die sich rasch wandelnde Wahrnehmung des Krieges beziehungsweise des Lebensalltags aufschlussreich. Hatte Klemm in der anfänglichen Kriegs- und Siegeseuphorie noch sehr bedauert, nicht an der Front kämpfen zu können, schreibt er Mitte November, die Zivilbevölkerung könne sich keine Vorstellungen vom Leben in den Schützengräben machen. Immer öfter ist von den körperlichen Verstümmelungen und seelischen Zerstörungen des Krieges, dem furchtbaren Gestank der Kranken und Sterbenden im Lazarett und der demoralisierenden Hoffnungslosigkeit des unerträglich ereignislosen Stellungskrieges die Rede. Auch zu Hause änderten sich die Verhältnisse und mit ihnen das Bewusstsein über die Folgen des Krieges. Während Erna Klemm Mitte August noch erwähnt hatte, ohne die durch Leipzig ziehenden Soldaten könne man gar nicht wissen, dass Deutschland sich im Krieg befinde, war schon neun Tage später von den vielen eintreffenden Verwundeten die Rede, deretwegen ein Proviantamt und ein Operationssaal am Bahnhof eingerichtet und große Baracken in Leipzig-Gohlis gebaut würden. Im November beziehungsweise Dezember sprach sie von dem für das Stadtleben problematischen Einfluss der vielen „durch die Straßen [pirschenden]“ Soldaten und von schleichender Teuerung bei Lebensmitteln.

Mentalitätsgeschichtlich interessant sind auch die Reflexionen der Briefpartner über den Zusammenhang von Krieg und (vermeintlicher) künstlerischer Erneuerung. Beide waren von der vom Futurismus sowie Expressionismus genährten Kriegseuphorie nicht unbeeinflusst. Es war hauptsächlich Erna Klemm, die diese Thematik mit zum Teil naiven Vorstellungen einer jungen, aus gutem Hause stammenden Frau reflektierte, während Wilhelm Klemm den Krieg in derartigen vitalistischen Kategorien erlebte. Die unterschiedliche Verarbeitung eines kulturellen Deutungsmusters hat gewiss damit zu tun, dass Erna Klemm den Krieg natürlich ungleich distanzierter erlebte und sich damit sowohl ein größeres Reflexionspotenzial als auch größere Illusionen erhalten konnte als ihr permanent unter physischen und psychischen Strapazen stehender Mann. So beneidete sie ihn, diese große Zeit und das von ihr ausgehende, den Mann zum Helden und ggf. zum wahren Dichter machende Abenteuer miterleben zu dürfen. Sie war der Überzeugung, dass der Krieg die sich vormals häufig in kontingenten Idiosynkrasien erschöpfende Kunst auf die wesentlichen Fragen der menschlichen Existenz verpflichten werde, und kommentierte die sie begeisternde Kriegslyrik ihres Mannes mit den Worten: „Kaum kenne ich Dich wieder in dieser Schönheit. Wir wollen den Krieg nicht verdammen, so lange er so etwas hervorbringt“.

Klemm machte sich zwar im Dezember Gedanken über den Umstand, dass die Künste schon seit längerem den Untergang der dekadenten bürgerlichen Welt mit ihrer Verfallenheit an das Materielle und Transitorische antizipiert und dagegen eine ernstzunehmende ästhetische Revolution gesetzt hätten. Ansonsten war es jedoch vorrangig die konkrete, trotz aller Schrecken vom Krieg ausgehende Faszination, die seine literarische Produktivität beflügelte. Die gewalttätige Dynamik des Krieges schien gesellschaftliche Individuation und zivilisatorische Ausdifferenzierung überwunden zu haben. In seinen mehrmaligen Schilderungen über die endlos scheinenden Kolonnenzüge bei Nacht kommt Klemms Ergriffenheit über die kollektive, durch militärische Subordination und einen elementaren Sieges- beziehungsweise Überlebenswillen gespeiste Ausrichtung der egalisierten Menschen auf ein gemeinsames Ziel zum Ausdruck. Auch die Entfesselung elementarer, durch die moderne Waffentechnik unendlich potenzierter Kräfte, durch die individuelles Sterben zum sinnlosen Zufall wird, regte seine dichterische Kreativität an, wie der zweiten Strophe der im Januar 1915 in der „Aktion“ veröffentlichten „Nächtlichen Aussicht“ zu entnehmen ist:

Unter den dunklen Beschwörungen der Kanonen
Erhebt der Krieg sein nachtschwarzes Haupt.
Sein Hals wird dick. Seine ehernen Arme
Pressen sich ächzend in die Rippen der Heere.

Hier verabsolutiert sich der von Menschen gemachte Krieg zur Personifikation eines sowohl vitalistisch enthemmten als auch mit technisierter Brutalität massenhaft tötenden Ungeheuers, das zum unausweichlichen Bezugspunkt der menschlichen Existenz avanciert. Anhand der Parallelpublikation der Brieftranskriptionen und der Lyrik hat der Leser die reizvolle, sich nicht oft bietende Gelegenheit, die Verdichtung persönlicher Eindrücke zur Literatur nachvollziehen zu können.

Die Edition der Kriegslyrik Klemms stellt bislang von der Forschung völlig unbeachtet gebliebene Texte mit seinerzeit hohem Wirkungspotenzial zusammen. Schon die ersten acht, im Oktober und November 1918 in der „Aktion“ veröffentlichten Gedichte erregten große Aufmerksamkeit, weil sie sich vom allgegenwärtigen Hurra-Patriotismus der sonstigen Literatur abhoben. Pfemfert publizierte sie unter der neu geschaffenen Rubrik der „Dichtungen vom Schlacht-Feld“ mit der Vorbemerkung, sie seien „die ersten wertvollen Verse, die der Weltkrieg 1914 hervorgebracht hat, […] die ersten Kriegsgedichte“. Herwarth Walden scheint ähnlicher Meinung gewesen zu sein und bemühte sich Anfang Dezember um eine Kontaktaufnahme zu Klemm. Dessen Lyrik hat vermutlich von dem Umstand profitiert, dass ihr Verfasser erst nach seiner Ernüchterung über die Kriegsdauer und nach dem Rückzug der deutschen Truppen im September zur dichterischen Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen gefunden hat. Zwar artikulieren einige noch später andernorts publizierte Gedichte sehr zum Missfallen Pfemferts den Glauben an Deutschlands Größe, ohne allerdings jemals in einen deutschtümelnden Chauvinismus zu verfallen. Insgesamt jedoch scheinen Klemms Gedichte drei Distinktionsmerkmale besessen und deshalb ihre Zeitgenossen beeindruckt zu haben: Sie verarbeiteten konkrete Kriegseindrücke und galten daher im Gegensatz zum Heldenblech der zu Hause gebliebenen Schreibtischtäter als authentisch. Sie stellten die katastrophalen individuellen und infrastrukturellen Verheerungen des Krieges in den Mittelpunkt und reklamierten damit die transnationale Stimme der Menschlichkeit für sich. Und sie erhoben den Anspruch, nicht rhetorisch notdürftig verbrämte Gesinnungsethik, sondern anspruchsvolle Dichtung zu sein.

Über den Zusammenhang zwischen Kunst und Erstem Weltkrieg wird auch im Gedenkjahr 2014 wieder viel geschrieben. Nicht Alles, was dabei zur Sprache kommt, besitzt Neuigkeitswert und erweitert unser Wissen. Wer bislang Unbekanntes und nicht nur literatur-, sondern auch mentalitätsgeschichtlich äußerst Erhellendes über diesen Zusammenhang lesen und sich mit Primärtexten beschäftigen möchte, der sollte zu der anzuzeigenden Publikation greifen. Sie realisiert in ihrem ersten, die Korrespondenz des Ehepaars wiedergebenden Teil ein um die Briefe Erna Klemms erweitertes Projekt, das Franz Pfemfert und der S. Fischer Verlag schon unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf den Weg bringen wollten. Der Band ist unter Verwendung eines 1915 entstandenen Doppelporträt-Fotos auf dem vorderen Umschlag und drei Tuschezeichnungen Klemms ansprechend gestaltet. Wir vermissen aber im Anhang einen Kommentar mit Wort- und Sacherläuterungen, der insbesondere die in den Briefen dokumentierte Lebenswelt einem heutigen Publikum mit gezielten Verständnishilfen hätte näherbringen können.

Titelbild

Wilhelm Klemm: Tot ist die Kunst. Briefe und Verse aus dem Ersten Weltkrieg.
Herausgegeben von Imma Klemm.
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2013.
189 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783871620799

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