Ein Buch gegen das Vergessen

Monika Helds Roman „Der Schrecken verliert sich vor Ort“ vermittelt zwischen Überlebenden und Unwissenden

Von Antonia FéretRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antonia Féret

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bücher über Auschwitz, über den Holocaust, das „Dritte Reich“ und seine Schrecken, über Konzentrationslager und ihre Überlebenden sind in der deutschsprachigen Literatur keine Seltenheit. Gern lösen sie Seufzen und Kopfschütteln, je nach Alter des Betrachtenden auch Ablehnung oder Desinteresse aus. Schon wieder ein Auschwitz-Buch? Gibt es davon inzwischen nicht genug? Muss das Thema denn immer wieder aufgegriffen, ausgewalzt, vorgetragen werden, um eine kritische Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte zu suggerieren, um einen scheinbar ganz neuen Aspekt des Grauens zu beleuchten? Wissen wir denn nicht inzwischen alle, wie furchtbar der Holocaust war?

Monika Helds Roman zeigt vor allem eines: Nein, wir wissen es nicht. Wir können es nicht wissen, denn was Menschen wie ihr Protagonist Heiner Rosseck erleben mussten, kann nicht ausgedrückt werden, weder mit Sprache, noch mit Bildern, erst recht nicht mit Fakten. Heiner, der Kommunist aus Wien, der am 9. September 1942 deportiert wird, zusammen mit 1.859 Anderen, von denen nur vier das Lager überleben werden. Er ist einer von ihnen. Von Anfang an weiß er eines: Er wird Zeuge sein. Wer in Auschwitz überleben will, braucht eine Mission, nur mit einer Mission ist Ertragen möglich. Heiner hat eine Verlobte, zu ihr will er zurück, aber noch wichtiger ist, dass er Zeugnis ablegen kann gegen das System und seine Handlanger. „Reiß die Augen auf, kapier die Struktur“ ist sein Credo. Was er auch sieht, er kann sich nicht abwenden, aber hinsehen kann tödlich sein, so wie in Auschwitz alles tödlich sein kann, gute Laune, schlechte Laune, singen, nicht singen, nicht schnell genug sein, wenn die Hunde losgelassen sind. Er hat großes Glück und wird in die Schreibstube des Häftlingskrankenbaus versetzt, in der er zwölf Stunden am Tag Todesmeldungen auf der Schreibmaschine tippt. In seinem Schutzhaftbefehl steht „R.U.“ – Rückkehr unerwünscht, Tod durch Arbeit. Zu seinem Glück weiß er nicht, was die Buchstaben bedeuten.

Die eigentliche Geschichte beginnt im Juni 1964 während der Frankfurter Ausschwitz-Prozesse, als Heiner und Lena sich kennenlernen. Heiner, der endlich Zeuge sein soll und von der Justiz zum zweiten Mal zum Opfer gemacht wird, weil jedes seiner Worte von den Verteidigern der Angeklagten hinterfragt und angezweifelt wird. Lena, die Dolmetscherin, die den zusammenbrechenden Heiner auf dem Gang als Erste sieht und sich in ihn verliebt. Sie wird ihn ihr ganzes Leben lieben, ohne zu wissen, warum. Sie heiraten und kaufen ein Haus, Lena arbeitet für beide und Heiner überlebt. Ihre Liebe ist nicht leicht, aber auch nicht hoffnungslos. Lena erträgt den Mann, der nachts schreit und nicht im Dunklen schlafen kann, der jedem Besucher sein Einmachglas mit Sand zeigt, der kein Sand ist, sondern die Asche und Knochen der Verbrannten, die in die Wälder und Tümpel um Auschwitz geschafft wurden. Sie versucht Heiner zu verstehen, wenn er von der Lagerzeit erzählt, versucht zu begreifen, was er vermitteln will – und scheitert daran ebenso, wie Heiner mit seinen Versuchen scheitert, seine Erinnerungen in ihr Bewusstsein zu übertragen.

Aber gerade Lenas Unverständnis ist das, was Heiner den Bezug zur Normalität nicht verlieren lässt, sie erinnert ihn daran, dass nicht Auschwitz allein den Dingen ihre Bedeutung gibt, dass es ein Leben danach gibt. Aber gibt es das wirklich? Heiner, wie so viele der anderen Überlebenden, kehrt aus Auschwitz nicht zurück, das KZ ist seine Lebensprägung, so absolut, dass es jeden Gedanken und jede Handlung beherrscht. Nur wenn er mit anderen ehemaligen Häftlingen zusammen ist, den Ort seiner Inhaftierung besucht, ist er gelöst. Lena und Heiner reiben sich ununterbrochen aneinander und spielen damit alle möglichen Konflikte durch, die zwischen Auschwitz-Überlebenden und Unbeteiligten zwangsläufig auftreten.

Das Dilemma der Unfähigkeit, zu vermitteln und der Unfähigkeit, zu verstehen, lösen die beiden nicht, aber sie lernen, damit zu leben. Helds herausragende sprachliche Arbeit macht diese Liebes- und Leidensgeschichte plastisch und zutiefst menschlich, indem sie beiden Seiten dasselbe Verständnis und dieselbe Rechtfertigung zuteil werden lässt und das Verhältnis zwischen Wissenden und Unwissenden als schwierige, aber doch lohnende Liebesbeziehung metaphorisiert. Ihre bildhafte, einfache Sprache nimmt dem Grauen sein Grauen nicht, aber es verleiht dem einfachen Leben von Heiner und Lena Hoffnung und Geborgenheit. Sie rührt an, wo Heiners einfache Tagesabläufe eine Kindlichkeit erwecken, die seine Hilflosigkeit noch unterstreicht.

Und so zeigt das Buch auf der einen Seite Grausamkeit, die hohl und wehrlos macht, weil sie jenseits des Erträglichen liegt, und die Bedeutung dieser Erlebnisse für ein Leben, das unter der Voraussetzung einer Extrembelastung weitergeführt werden muss. Auschwitz, die Krankheit, die jeden irgendwann befällt, der sie überlebt hat. Auf der anderen Seite den Weg nach einem solchen Trauma, aus dem es für manche keinen Weg mehr zurück in ein wenigstens halbwegs normales Leben gibt, das von den Betroffenen seitens der Gesellschaft jedoch immer wieder eingefordert wird. Und wie weit wir alle von einem angemessenen Umgang mit den Holocaust-Überlebenden entfernt sind, weil es keinen angemessenen Umgang, keine angemessene Entschädigung, keine angemessene Entschuldigung gibt.

Monika Held hat einen wunderbaren und schrecklichen Roman geschrieben, technisch herausragend und menschlich erschütternd. Vor allem ein Buch gegen das Vergessen, lohnend und wichtig trotz – und weil – es ein Auschwitz-Buch ist.

Titelbild

Monika Held: Der Schrecken verliert sich vor Ort. Roman.
Bastei Lübbe, Köln 2012.
272 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783847905295

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch