Nachgelassene Interdisziplinarität

Niklas Luhmanns bislang unveröffentlichtes Buch „Kontingenz und Recht“

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zeitalter eines „akademischen Kapitalismus“ (Richard Münch), der durch die Transformation der Universitäten in strategisch operierende Unternehmen und die damit einhergehende Ökonomisierung wissenschaftlich erarbeiteten Wissens gekennzeichnet ist, kommt „Interdisziplinarität“ zweifelsohne der Stellenwert eines Schlüsselbegriffs zu. Im Ringen um öffentliche und private Forschungsförderung dient die Berufung auf eine die eigene Fachdisziplin übergreifende Wissenschaftspraxis zunehmend der sozialen Konstruktion von Exzellenz und erweist sich als wichtige Voraussetzung für die Genehmigung von Drittmittelprojekten. Diese wiederum reproduzieren, wie sich an der Entwicklung der unzähligen Sonderforschungsbereiche, Exzellenzcluster und Forschungsverbünde zeigen ließe, inneruniversitäre Statushierarchien durch fachübergreifende Vernetzung. Dadurch entsteht ein Monopolmechanismus in der Wissenschaft, indem wenige Universitäten und Fachbereiche materielles wie symbolisches Kapital akkumulieren und den Wettbewerb zwischen den Wissenschaftlern geradezu kolonisieren. Dabei sind die Universitäten im Vorteil, die über gleichmäßig starke und mit hoher wissenschaftlicher Reputation ausgestattete Fachbereiche verfügen, denn diese können sich mit größeren Erfolgsaussichten unter dem Banner der Interdisziplinarität vereinigen als andere.

Wie jedoch ist diese überhaupt möglich, und welche Hürden müssen überwunden werden, um wirklich interdisziplinäre Wissenschaft zu betreiben? Diese Fragen trieben zu Anfang der 1970er-Jahre auch den Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann um, der, von Hause aus ja ein ausgebildeter Verwaltungsjurist, mit Gleichgesinnten aus den Rechtswissenschaften an einer interdisziplinären Rechtstheorie arbeitete. Diese Kooperation manifestierte sich im Wesentlichen in zwei neu gegründeten Publikationsforen: in der Zeitschrift „Rechtssoziologie“ und im (mittlerweile eingestellten) „Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie“, die beide 1970 zum ersten Male erschienen und an denen sich Luhmann, der eben erst auf seinen Bielefelder Lehrstuhl berufen worden war, direkt beteiligte. Schon in den Jahren zuvor hatte er wichtige einschlägige Arbeiten publiziert, die sich mit dem Problem „Recht“ im weitesten Sinn befassten, vor allem „Grundrechte als Institution“ (1965), „Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung“ (1966) und „Legitimation durch Verfahren“ (1969). Außerdem bereitete Luhmann seine „Rechtssoziologie“ vor, die 1972 in zwei Bänden erschien (in erweiterter einbändiger Auflage 1983) und das Recht auf der Basis einer spezifischen Normtheorie als Struktur der Gesellschaft beschrieb.

Im Zusammenhang der „Rechtssoziologie“ steht auch das vorliegende Buch „Kontingenz und Recht“, das aus Luhmanns Nachlass stammt und parallel dazu 1971/72 entstand. Es liegt als Typoskript vor, war von ihm mehrmals durchgearbeitet worden und, worauf der Herausgeber Johannes F. K. Schmidt in seinem editorischen Nachwort insistiert, „nahezu publikationsreif“. Es fehlen allerdings drei Kapitel, auf die Luhmann während der Niederschrift vorverwiesen hat, und außerdem bricht das letzte Kapitel „Wertbeziehungen“ mitten im Text ab. Eine separate Veröffentlichung dieses Typoskripts ist dennoch gerechtfertigt, zumal es für seine Unvollständigkeit durch Gedankenreichtum entschädigt und eine Perspektive auf das Thema bietet, die sich in Luhmanns zahlreichen anderen Veröffentlichungen zum Recht bis zu seiner großen Monografie „Das Recht der Gesellschaft“ (1993) so nicht mehr findet. Luhmann versucht sich nämlich an einer problemorientierten Rechtstheorie, in deren Mittelpunkt der Begriff „Kontingenz“ steht. Diese versteht er als „Möglichkeit eines Gegenstandes, anders zu sein oder nicht zu sein“, und das bedeute, „Seiendes […] im Lichte anderer Möglichkeiten zu betrachten“. Der Gegenstand „Recht“ so Luhmann, erzwinge eine solche Herangehensweise nachgerade, denn empirisch existiere ja eine „Mehrheit von Rechtsordnungen mit widerspruchsvollen Rechtssätzen und unterschiedlichen dogmatischen Problemlösungen“. Eine universelle Rechtstheorie müsse daher mit jedem möglichen Recht kompatibel sein und Widersprüche im Objektbereich vertragen.

Das vorliegende Buch besteht aus zwei Teilen. In einem ersten Teil „Kontingenz und Recht“ versteht Luhmann „Recht“ konsequent als ein Entscheidungen produzierendes System und hebt damit die Rechtstheorie von der Exegese normativer oder dogmatischer Entscheidungsprämissen ab. Weil eine logische Diskontinuität zwischen Rechtssystem und Einzelfallentscheidung bestehe, müsse die Rechtstheorie gerade auf diese Differenz gegründet werden. Dazu wendet Luhmann (die seinerzeit) neueren system- und entscheidungstheoretischen Ansätze auf traditionelle rechtstheoretische Begriffe wie „Handlung“, „Motiv“, „Rechtsnormen“, „Einheit der Rechtsordnung“, „Geltung“, „Positivität“ und „Gerechtigkeit“ an und bestimmt deren Stellenwert im Rahmen einer (stets als vergleichend gedachten) Rechtstheorie neu. Er sucht nach dem Zusammenhang zwischen der hohen Kontingenz, die sowohl in der modernen Gesellschaft als auch in einem (noch als Handlungssystem) verstandenen System des Rechts herrscht. Luhmann verdichtet dies zu der These, dass die gesellschaftliche Kontingenz „nicht mehr in einem spezifischen Ethos des Rechts ausgedrückt werden kann, sondern unter abstrakten und änderbaren Strukturen in die Komplexität eines Rechtssystems transformiert und dann als internes Problem dieses Rechtssystems zum Ausdruck gebracht werden muß“.

Exakt um diese Transformationsleistung geht es dann im zweiten Teil des vorliegenden Buches, das die Überschrift „Kontingenz und Komplexität“ trägt. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie das positive (gemeint ist: das stets änderbare) Recht der zunehmenden Eigenkomplexität Herr wird und wie sich diese systeminterne Rekonstruktion von Kontingenz auf eine Reihe von Grundlagenproblemen der Rechtstheorie auswirkt. Dazu zählen zum Beispiel Rechtssicherheit, Rechtsdogmatik, Rechtsprinzipien und der „Fall“ als rechtliches Interaktionssystem. Luhmann ist darum bemüht, die Begrifflichkeit der traditionellen Rechtstheorie beizubehalten, dabei aber eine funktionale Neubestimmung vorzuschlagen, die besser an die innere Dynamik des Rechtssystems angepasst ist als ein bloß ontisches Verständnis. Auf diese Weise kann auch dem zeitlichen Nacheinander von gerichtlichen Einzelfallentscheidungen und rechtsdogmatischer Begriffssprache, die Luhmann konstatiert, rechtstheoretisch besser Rechnung getragen werden. Die darin zum Ausdruck kommenden „Eigenzeiten“ im Rechtssystem und die daraus resultierenden rechtstheoretischen Schlussfolgerungen bilden das heimliche Thema dieses zweiten Teils, dessen Hauptthese Luhmann nicht mehr niedergeschrieben hat.

So interessant der Problembezug auf „Kontingenz“ und so reichhaltig die von Luhmann entwickelten Gedanken einer neuen, systemtheoretischen Rechtstheorie gewesen sein mögen: im weiteren Verlauf der Lektüre drängt sich doch immer mehr der Eindruck auf, dass sich der Bielefelder Soziologe, dessen Programm eine (fachuniversale) soziologische Theorie der Gesellschaft war, mit diesem Werk in eine theorietechnische Sackgasse manövriert hat, woraus sich vielleicht erklärt, weshalb er das Manuskript nicht publizierte. Am deutlichsten lässt sich diese Sackgasse anhand seiner uneinheitlichen, wenn nicht gar missverständlichen Verwendung des Begriffs „Recht“ zeigen. Im vorliegenden Werk ist „Recht“ sowohl Handlungssystem wie Kontingenzformel, in der wenig später publizierten „Rechtssoziologie“ gar ein Drittes: eine Struktur wechselseitigen Erwartens. Erst mit der Erweiterung der Systemtheorie durch die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, die seit Mitte der 1970er Jahre erfolgte (deren erste Spuren sich aber schon in „Kontingenz und Recht“ finden), und mit der Wendung zur Selbstreferenz, wie sie mit „Soziale Systeme“ (1984) begann, scheint Luhmann einen Schritt weiter gekommen zu sein. Dennoch blieb ihm „Recht“ bis zu seiner großen Monografie „Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997) tendenziell immer beides: ein Kommunikationsmedium und ein Funktionssystem. Mit einer später von Luhmann gerne benutzen Unterscheidung könnte man auch sagen: „Recht“ war ihm sowohl Medium als auch Form.

Dieses eigentümliche Spannungsverhältnis scheint nicht zuletzt ein Resultat von Luhmanns Bemühen um Interdisziplinarität gewesen zu sei. Anders als bei anderen Funktionssystemen, zu denken wäre an „Religion“ oder „Politik“, tendierte Luhmann im Fall des Rechtssystems dazu, immer wieder an dessen Selbstbeschreibungen und Reflexionstheorien festzuhalten und dessen Begriffe lediglich funktional zu bestimmen, ohne sie jemals systematisch im Hinblick auf seine allgemeine Theorie der Gesellschaft zu überarbeiten. Sein Zentralkonzept des juristischen Entscheidens bleibt unklar, und noch in „Das Recht der Gesellschaft“ wird Luhmann 1993 dunkel raunen, dass sich das Rechtssystem gerade am Punkt der gerichtlichen Entscheidung selbst zum Rätsel werde. Offensichtlich gelang ihm keine durchgängige soziologische Fremdbeschreibung des Rechtssystems, oder aber, vorsichtiger ausgedrückt, bei dessen Beobachtung flossen Selbst- und Fremdbeschreibung ineinander. Jedoch unterschied sich Luhmanns Ringen um Interdisziplinarität, das sich in „Kontingenz und Recht“ zeigt, in einem wesentlichen Punkt von den eingangs erwähnten Bemühungen in der heutigen Wissensgesellschaft. Die Interdisziplinarität, die sich Luhmann seinerzeit auf seine Fahnen geschrieben hatte und die er in seinem gesamten Werk beibehielt, war eine um des Wissens willen. Sie hat ihr immenses Anregungspotenzial nicht nur für die Rechtswissenschaft, sondern im Grunde genommen für alle humanwissenschaftlichen Disziplinen bis heute nicht verloren.

Titelbild

Niklas Luhmann: Kontingenz und Recht. Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang.
Herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
350 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586020

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch