Der Tod, das muss ein Wiener sein

Zur fröhlichen Morbidität einer Stadt

Von Julian VoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Voß

Der Himmel über Wien ist grau an diesem Donnerstag. Seit mehreren Stationen fährt die Linie 71 der Wiener Straßenbahn an einer meterhohen Mauer entlang. Hinter ihr liegt eine der größten Friedhofsanlagen der Welt. Mit über drei Millionen Toten auf dreihunderttausend Grabstätten ist der Wiener Zentralfriedhof seit über hundertdreißig Jahren die letzte Ruhestätte für Wiener aller Konfessionen. Gegenüber dem Haupteingang erhebt sich die imposante Simmeringer Feuerhalle, die einst das erste Krematorium im gesamten Österreich darstellte. Wer durch das Friedhofstor eintritt, scheint die Großstadt hinter sich zu lassen und eine andere Welt zu betreten. Unzählige Wege durchbrechen die Gräberreihen, die kein Ende zu nehmen scheinen. Es ist, als könnte jedes einzelne Grab seine eigene Geschichte erzählen; manche sind unscheinbar und fallen kaum auf, andere lenken mit imposanten Blumenarrangements oder auffallenden Grabsteinen die Blicke auf sich. An vielen nagt der Zahn der Zeit, etliche sind kaum noch zu erkennen; die Namen der Toten auf den Grabsteinen sind verblasst, wie auch die Erinnerung an. Links fährt ein Fiaker vorbei, in dem sich ein Paar aus Neugier und Unterhaltungsbedürfnis über den Friedhof fahren lässt. Ein grotesk wirkendes Bild, das die längst vergangene Zeit der Pferdewagen wieder wachruft.

Wie eine Kathedrale erhebt sich in der Mitte des Friedhofs, die Borromäuskirche, als sollte sie mit ihrer imposant wirkenden Patinakuppel über den Friedhof herrschen. Vor ihr die Präsidentengruft mit den Särgen der österreichischen Bundespräsidenten und ihre Gattinnen. Rechts und links von der Gruft befinden sich die Ehrengräber, genau geplant und symmetrisch angelegt. Mehrere hundert österreichische Persönlichkeiten aus Kultur und Politik haben hier ihre letzte Ruhe gefunden und waren dabei nicht selten auf ein wahrlich einprägsames Andenken bedacht. So nehmen in der Abteilung der österreichischen Komponisten Prunk und Glanz kein Ende. Beeindruckende Denkmäler wachsen meterhoch um die Wette. Das Grabmal von Johann Strauss erregt besondere Aufmerksamkeit: Eine Marmorfigur der Polyhymnia schaut milde lächelnd leicht zur Seite gedreht nach unten; ihr steinernes Haar wirkt, als sei es durch den kalten Frühjahrswind in Bewegung versetzt. In ihrer Hand hält sie ihre Harfe, die von einem Besucher vor kurzer Zeit mit einer blühenden Rose geschmückt wurde. Über ihr schwebt ein Putto, der Geige spielt; schließlich krönt das Konterfei Strauss‘ das Grabmal wie eh und je mit Schnurrbart und Fliege.

Wer sich von diesem mittleren Teil des Zentralfriedhofes entfernt und in Richtung Osten über den alten jüdischen Friedhof das Gelände verlassen will, erlebt einen Kontrast wie er auf den Friedhöfen dieser Welt selten zu finden ist. Fernab von den fast schon einschüchternd wirkenden Ehrengräbern liegt ein Gräberfeld, das, umrankt von Bäumen und Sträuchern, zu verschwinden scheint. Die Gräber der in Wien einst so zahlreichen jüdischen Gemeinde scheinen eine Symbiose mit der Natur eingegangen zu sein; die Grabsteine sind nicht selten von Efeu überwuchert, die kleineren Gräber vom kniehoch gewachsenen Gras verdeckt. Es ist das malerische Bild eines Friedhofes, wie man ihn sich in einem abgeschnittenen, vielleicht seit langer Zeit verlassenen Dorf vorstellt. Ein Friedhof, der noch stumm Zeugnis von den Bewohnern, den Familien der längst verlassenen Gegend ablegen will. Umso unwirklicher wirkt dieser Ort, wenige Meter neben ihm, hinter der Mauer, das Leben des 11. Wiener Bezirks pulsiert, es fahren dort Busse und Straßenbahnen durch die Hektik des Alltags.

In vielen Städten gibt es einen Zentralfriedhof, aber in keiner anderen Stadt ist der Friedhof zu einem solchen Touristenmagnet geworden wie in Wien. Die enorme Größe ermöglicht es, den trotz einer für Friedhöfe vergleichsweise sehr hohen Besucherzahl als einen ganz besonderen Teil Wiens wahrzunehmen, an dem Tod und Leben koexistent zu sein scheinen.

Die Wiener und der Tod, das ist nämlich, will man einem alten Klischee Glauben schenken, schon immer eine besondere Beziehung. Zumindest in der Wiener Volks- und Schlagermusik scheint dieser Befund nicht ganz von der Hand zu weisen sein:

Fast jedes Kind in Wien kennt die Legende vom lieben Augustin, einem Volkssänger, der im 17. Jahrhundert volltrunken in eine Grube mit Pesttoten fällt und am nächsten Morgen aus der Grube gezogen wird, ohne sich mit dem ‚schwarzen Tod‘ infiziert zu haben. Der Liedermacher Georg Kreisler lässt den Tod selbst zum Wiener werden, der die Verstorbenen pünktlich zur Himmelstür geleitet, weil nur ein Wiener das richtige Gespür dafür hat, während der Herrgott Wein trinkend gnädig auf die Stadt hinunterblickt und so selbst die Wiener Madel am Ende ihres Lebens lächelnd den Tod als einen Wiener besingen. Nicht wie das Ende, vor dem man sich zu fürchten braucht, sondern wie ein lieber alter Freund wirkt hier der Tod, untrennbar mit der Stadt verbunden.

Auch über die Stadtgrenzen Wiens hinaus ist der zum hundertjährigen Jubiläum des Zentralfriedhofs erschienene Schlager „Es lebe der Zentralfriedhof“ von Wolfgang Ambros bekannt. Als er 1975 veröffentlicht wurde, war er in ganz Österreich ein voller Erfolg. Neun Wochen lang schaffte er es, seine Erstplatzierung in den österreichischen Charts zu verteidigen. „Wenn’s Nacht wird über Simmering“, erwachen die Toten hier zum Leben und trinken hemmungslos auf ihren Friedhof. Während Lebenden der Zugang verwehrt bleibt, feiern die Toten, als gäbe es kein Morgen, trinken Skelette mit Urnen um die Wette und das Mausoleum wird zur Diskothek. Diese „Stimmung beim Zentralfriedhof“ kennt keine Grenzen, sodass Pfarrer mit Huren tanzen und beim Krematorium das Knochenmark angebraten wird, bis der Knochenmann mit seiner Sense den anbrechenden Tag ankündigt. Was auf den ersten Blick ziemlich makaber erscheint, ist vor allem eine Hommage auf den Wiener Zentralfriedhof, der längst zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Wer durch die Gräberreihen des Friedhofs flaniert und dabei Ambros’ Schlager im Hinterkopf hat, kann nicht anders, als den Friedhof noch einmal mit andern Augen zu betrachten.

In Wien scheint man den Tod leichter zu nehmen als anderswo, vielleicht weil man ihn hier nicht ausblendet und sich so lange vor ihm versteckt, bis man unausweichlich mit ihm konfrontiert wird, sondern ihn als Teil des Lebens begreift.