Die Watschen-Katharsis

Karin Peschka fasziniert mit ihrem Debütroman über das Wien der Nachkriegszeit

Von Simon HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war eine echte Wiener Institution: der Watschenmann im Prater. Für einen kleinen Geldbetrag durfte man dem ledernen Gesicht dieser menschenähnlichen Figur eine ordentliche Watschen, also Ohrfeige verpassen. Abreagieren, seiner Wut freien Lauf lassen und den Zuschauern durch die eigene, ungezügelte Kraft imponieren – für all das war der Watschenmann in der Realität da. In Karin Peschkas gleichnamigem Debütroman ist es kaum anders, mit einem feinen Unterschied: Der Watschenmann ist hier aus Fleisch und Blut.

Heinrich, so sein richtiger Name, animiert andere Menschen immer wieder dazu, ihn zu verprügeln. Dieses Verhalten irritiert freilich – sowohl den Leser als auch die anderen Figuren des Romans. Es lässt sich aber erklären. Heinrichs Streben, ein echter Watschenmann zu sein, fungiert in erster Linie als spezielle Form der individuellen Kriegs- und Vergangenheitsbewältigung. Damit ist er trotz seiner Eigenheiten doch wieder ganz normal. Die Handlung spielt nämlich im Wien des Jahres 1954 und damit in einer Zeit, in der die österreichische Gesellschaft noch stark von den Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Austrofaschismus geprägt wird. Dies illustriert Peschka auch an ihren Charakteren. Egal ob Täter oder Opfer, müssen sie alle die Herausforderung meistern, sich in der Nachkriegsordnung einzurichten. Die gewählten Strategien fallen dabei unterschiedlich aus. Häufig wird das Gewesene verdrängt, teilweise nur noch in Erinnerungen gelebt oder, wie im Falle Heinrichs, ein ganz eigener Weg beschritten.

Peschkas Roman bietet aber noch mehr als eine kluge Auseinandersetzung mit der Kriegsverarbeitung und -verdrängung im Österreich der 1950-Jahre. Er thematisiert zudem die unterschiedlichen, häufig gegensätzlichen menschlichen Potentiale und die Variabilität unseres Normalitätsempfindens. Aufgrund der Abhängigkeit von anderen Individuen und Ereignissen, auf die wir keinen Einfluss haben, kann sich die eigene Lebenssituation und damit das, was wir als normal empfinden, ohne eigenes Zutun verändern. Durch die Thematisierung dieses Zusammenhangs ist der Roman, obwohl vor über einem halben Jahrhundert spielend, höchst aktuell.

Im Zentrum der Handlung stehen drei Menschen, die wie eine Travestie der Heiligen Familie wirken. An die Stelle der Bethlehemer Krippe tritt im Roman ein Bretterverschlag in einem Wiener Hinterhof. Aus der jungfräulichen Maria wird die Prostituierte Lydia, die auf ihren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befindlichen Geliebten wartet. Josef ist der serbische Boxer Dragan und Jesus der Watschenmann Heinrich – ein junger Mann, der aber immer wieder wie ein Kind wirkt. Keiner ist mit den anderen verwandt. Sie haben zufällig zueinander gefunden.

Anders als es die Auflistung der zentralen Figuren vielleicht vermuten lässt, zielt Peschka mit diesem Setting aber auf keinen komischen Effekt ab. Das Spiel mit biblischen Motiven hat eine andere Funktion. Es dient in erster Linie der Betonung inhaltlicher Parallelen. Auch im Watschenmann werden Kategorien verhandelt, die für die Bibel elementar sind. Es geht um Schuld, Erlösung, Trauer, Vergebung, Nächstenliebe und die Abkehr von alten Lebenswegen. Für die Protagonisten selbst spielt Religion aber keine oder kaum eine Rolle. Gott ist in ihren Lebenskonzepten nicht existent und kann somit auch keinen Halt bei der Verarbeitung eigener Kriegserfahrungen bieten. Es müssen also andere Strategien entwickelt werden.

Am interessantesten (weil am überraschendsten) ist der Bewältigungsversuch Heinrichs. Dieser wirkt auf den ersten Blick vollkommen altruistisch, geht es bei ihm doch – auch hier wieder ein biblischer Bezug – um die Erlösung seiner Mitmenschen. Heinrich erkennt, dass die „schöne neue Welt“ nicht so perfekt und friedlich ist, wie sie vorgibt: „Alles fesch und g’sund, sagen die Filme. Sagen die glänzenden Auslagen in den zahnlückigen Häuserreihen. So soll’s sein. Und ist es nicht.“

In der österreichischen Gesellschaft existieren in Wirklichkeit die unverarbeiteten Kriegstraumata, Gewaltfantasien und die faschistische Ideologie weiter fort. Der Krieg, weiß Heinrich, „der steckt in uns allen“. Erst wenn dieser aus allen Individuen verschwunden sei, könne endlich Frieden und Ruhe herrschen – „sonst hört das nie auf“. Aus dieser Einsicht resultiert nun sein Watschenmann-Konzept. Es lässt sich als provozierte kathartische Gewaltausübung resümieren. Immer wieder versucht Heinrich, andere Individuen dazu zu bringen, ihn zu schlagen. Häufig reicht schon seine pure Anwesenheit. Heinrichs Ruhe und Sensibilität, die sich radikal von der nationalsozialistischen Aggressivität und Kraftmeierei unterscheidet, scheint gerade alten Parteigängern Provokation genug zu sein. Die Folge sind zahlreiche unbarmherzige Übergriffe auf Heinrich. Obwohl er unter diesen körperlich leidet, werden sie von ihm begrüßt. Er hegt nämlich die Hoffnung, dass es sich um finale Wutausbrüche handelt, bei denen die letzten Reste kriegs- und ideologiebedingter Gewalt ausgelebt werden. Wie beim echten Watschenmann im Prater sollen sich die anderen Individuen also an Heinrich abreagieren, um so endgültig von ihren negativen Energien und Anlagen befreit zu werden.

Das Watschenmann-Konzept wirkt also einmal nach außen, gleichzeitig aber auf vielfältige Weise auch nach innen auf Heinrich. Es ist also nicht ganz so altruistisch, wie man annehmen könnte. Zunächst schenkt die „Arbeit“ als Watschenmann seinem Leben zumindest partiell Orientierung und Sinn. Dann dient sie ihm als Beweis individueller Stärke und Kraft, die ihm in der Kindheit vor allem von seinem Vater, einem überzeugten Nazi und skrupellosen Nervenarzt, abgesprochen worden war. Und schließlich eröffnen ihm die Momente, in denen er mit Schlägen und Tritten traktiert wird, eine Fluchtmöglichkeit aus der Welt. Um die Schmerzen zu ertragen, zieht er sich ganz in seine Seele zurück und damit in ein Inneres, zu dem niemand sonst Zugang hat. Die „Erinnerungen an eine wahnsinnige Zeit“ sind zwar auch hier präsent. Trotzdem fühlt er sich in der Seele, „diesem hohen Raum“ mit seinen dicken „Wänden“, geschützt.

Nahezu bis zum Ende des Romans ist für Heinrich Normalität also gleichbedeutend mit eigenem Leid und Weltflucht. Eine dauerhafte Perspektive stellt das nicht dar – schon rein aus körperlichen Gründen. Am Schluss scheint aber eine grundlegende Veränderung einzusetzen. Die durch Lydia, Dragan und Heinrich konstituierte Gemeinschaft wird aufgelöst. Die Rückkehr des ehemaligen Geliebten Lydias, die aber so anders verläuft, als von ihr erhofft, fungiert als Wendepunkt. Bei seiner Ankunft ahnt Heinrich, „dass jetzt wieder so ein Zeitpunkt ist mit einem Vorher, das vergeht, und einem Danach, das beginnt“. Lydia wird enttäuscht und verliert die lebenssinnstiftende Hoffnung auf eine Zukunft in einer glücklichen Paarbeziehung. Dragan fühlt sich aufgrund der (vermeintlichen) männlichen Konkurrenz deplatziert und verschwindet. Für Heinrich bedeutet dies den Verlust seiner temporären Familie. Ein einziges Ereignis reicht also, um das Normalitätskonzept dreier Menschen komplett aufzulösen. In diesem Fall scheint das aber eher positive Folgen zu haben. Zumindest für Heinrich. Er wirkt wie befreit, so als wäre das Selbstbewusstsein Dragans mit dessen Verschwinden auf ihn übergegangen. Im letzten Kapitel ist er sogar zu einem ersten, vorsichtigen Flirt in der Lage. Für Heinrich eröffnet sich die Perspektive einer neuen, lebenswerteren Normalität.

Auf beeindruckende Weise zeigt Peschka, wie Individuen Strategien entwickeln, mit Trauer und persönlichem Leid – hier als Folge des Krieges – umzugehen. Diese müssen von außen betrachtet nicht rational oder nachahmenswert erscheinen. Für jene, die sie ausbilden, besitzen die Strategien aber eine eigene, zwingende Logik. Hierdurch kann die Ausnahmesituation zum Dauerzustand und damit zur eigenen Normalität werden. Peschkas Roman überzeugt zunächst durch die Thematisierung solcher Zusammenhänge. Mindestens genauso faszinierend sind aber auch die genaue Figurenzeichnung, die Vielzahl von Anspielungen, die immer wieder zu eigenen Reflexionen anregen, und nicht zuletzt die Sprache. Der Roman wird von kurzen, präzisen Sätzen dominiert. Die textimmanente Realität wird ohne Floskeln, ausschmückende Worte und Beschönigungen beschrieben. Und gerade deswegen verfehlt kein Satz dieses hervorragenden Debüts von Karin Peschka seine Wirkung.

Titelbild

Karin Peschka: Watschenmann. Roman.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2014.
298 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783701312207

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch