Deutsch-deutsche Erinnerungsarbeit

Jochen Schmidt und David Wagner arbeiten in „Drüben und drüben“ ihre unterschiedlichen Kindheiten im Westen und Osten Deutschlands auf

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Vierteljahrhundert ist sie jetzt her – die friedliche Revolution in der DDR. Mauerfall, erste freie Wahlen, Währungsunion und Wiedervereinigung waren ihre Folgen. 25 Jahre – eine Zeit, von der man meinen sollte, dass sie lang genug gewesen sei, um Normalität in einem neuen Deutschland einziehen zu lassen. Aber noch immer gibt es sie: die „Wessis“ und die „Ossis“, die Vorurteile und Nachreden, falschen Vorstellungen und halbwahren Behauptungen. Zeit also, dass zwei, einer aus dem Osten und einer aus dem Westen unseres Landes, endlich einmal Klartext reden. Indem sie nicht argumentieren, sondern erzählen. Aus jener Zeit, in der sie zwar die gleiche Sprache sprachen, aber jeder in einem anderen Teil der Heimat, die heute wieder beiden gehört.  

Jochen Schmidt (Jahrgang 1970) und David Wagner (Jahrgang 1971) sind alt genug, um sich an jene Zeit, als die Mauer noch stand, detailliert erinnern zu können, andererseits aber auch wieder zu jung für Ost- oder Westalgie. Ideale Zeitzeugen also – weniger freilich für das den Alltag durchdringende Politische als für all jene Kleinigkeiten, aus denen das Leben letzten Endes besteht, wenn man es dort aufsucht, wo die Dinge wichtiger sind als die Spruchbänder, die drüber flattern.

Knappe 150 Seiten für jeden Autor hat das Buch, das man von vorn wie von hinten lesen kann – mal aus der Westsicht von Wagner, mal den Ostfokus von Schmidt einnehmend. Schmidt hat ein paar Seiten mehr geschrieben als Wagner, aber das liegt vor allem daran, dass seine Anekdoten gelegentlich ausgreifender sind als die seines sich strenger an die Vorgaben haltenden Kollegen. Dafür, dass die beiden nicht allzu sehr auseinanderdriften, sorgt die Gliederung des Ganzen, die – identisch bei beiden – in 13 Kapiteln von „Kinderzimmer“ über „Küche“ und „Garten“ bis zu „Schule“ und „Ferien“ markante Orte des Alltags aufruft.

Interessant ist da schon allein der Umfangsvergleich einzelner Kapitel. Braucht Wagner zum Beispiel für die Beschreibung der Westküche seines Elternhauses im Rheinischen Andernach fast 20 Seiten, erledigt Schmidt dieselbe Aufgabe auf nicht einmal fünf. Dazu muss man natürlich wissen, dass in der Einbauküche eines DDR-Neubaublocks mit Durchreiche zum Wohnzimmer gerade mal Platz für zwei Personen war und bei vielen technischen Geräten, die bei den Wagners tagsüber schnurrten und brummten, im Osten Fehlanzeige herrschte. Ähnlich steht es mit den Gärten: Spielt sich bei den Wagners viel unter freiem Himmel ab – fünf Kinder mussten schließlich beschäftigt werden, ohne dass allzu viel Hausrat in die Brüche ging –, erinnert sich Schmidt zwar auch an den kleinen Schrebergarten von einst, erzählt aber lieber von luftschutzgeeigneten Kellern unter den Neubaublocks, Spielplätzen und Turnhallen. Das „Schweinebaumeln“ an den Reckstangen dieser Ertüchtigungsorte kennen beide, auch wenn es Wagner etwas gewöhnungsbedürftig für die im Osten Sozialisierten „schweinebammeln“ nennt.

„Waren wir reich?“, fragt sich der Westdeutsche David Wagner an einer Stelle. Und gibt eine Einschätzung seiner Familiensituation als der eines „nivellierten Mittelklasseparadieses, in dem Kultur und Bildung für die feinen Unterschiede sorgten“. Bei Schmidt, dessen Eltern Akademiker waren, klingen verwandte Töne an. Die Neubauwohnung samt Keller vollgestopft mit Büchern, Bildern, Karteikarten, Zeitungsstapeln und anderen Schätzen, kehrt der Filius den überlegenen Bildungsbürger heraus, als zum Fliesen des Bades ein Handwerker erscheint, dem das Lesen von Büchern nicht Lebensnotwendigkeit ist: „Die vielen Bücher, er lese ja nicht so gerne, die würde er zum A&V bringen, besonders die da mit der goldenen Schrift auf dem Einband (unser alter Meyer!). Ich musste mich verstellen, damit er nicht merkte, dass er nicht unser Niveau hatte.“

Durchaus vergleichbar also in zahlreichen Punkten sind diese Lebensgeschichten, auch weil mit der Konzentration der Erinnerungen auf die Kindheitsjahre ja ein Lebensabschnitt in den Mittelpunkt rückt, der zwar vom Politischen – zumal im Osten Deutschlands – nicht gänzlich unberührt blieb, aber immer noch genug Freiräume des Erlebens ließ, in die der Staat nicht einzudringen vermochte. Deshalb besitzt auch für Schmidt in gewisser Weise Gültigkeit, was David Wagner an einer Stelle feststellt, indem er schreibt: „Ich habe diese Kindheit immer dabei, aus ihr komme ich nicht heraus. Alles, was war, schleppe ich mit mir herum“.

Wichtiges und Banales, Skurriles und Nachdenkliches, Bedrückendes und Erheiterndes – die beiden Autoren haben, damit dieses Buch entstehen konnte, tief in den Schatz ihrer jeweiligen Erinnerungen gegriffen. Abenteuerliche Fahrten im Trabant unternahmen die einen, während bei den Wagners schon die Haushälterin im Mercedes vorfuhr. War der Westen im Osten stets präsent und für Kinder natürlich immer dann am wichtigsten, wenn die wohlriechenden Pakete der Verwandten von „drüben“ eintrafen, kümmerte man sich auf der anderen Seite der Grenze weniger darum, was das Leben jenseits der Mauer für die dort lebenden Menschen bedeuten mochte. Horrorgeschichten über den jeweils anderen kursierten hier wie da. Aber auch Stolz kam auf, wenn die Sportler der kleinen DDR bei einer Olympiade wieder einmal vor ihren Brüdern und Schwestern im Medaillenspiegel auftauchten.   

„Drüben und drüben“ thematisiert in seinem letzten Kapitel schließlich den Mauerfall am 9. November 1989. Wo man war in diesem weltgeschichtlichen Moment, ist ja eine beliebte Frage, wenn die Rede auf dieses Ereignis kommt. Was Wagner und Schmidt diesbezüglich zu berichten haben, klingt freilich wenig spektakulär. Beging der Ostdeutsche Jochen Schmidt an jenem Tag seinen 19. Geburtstag als Armeeangehöriger, was nicht viel Zeit zum Feiern zwischen Brandschutz- und Küchendienst zuließ, erreichte David Wagner die Nachricht von der offenen innerdeutschen Grenze in der Disco.

Während Letzterer aber immerhin noch bekennt, dass die Maueröffnung für ihn ein „außergewöhnliches Fernsehereignis“ darstellte und ihm „zum ersten Mal das Gefühl vermittelte, im Hier und Jetzt passiere etwas“, quittiert Schmidt den historischen Moment lapidar mit: „Ein paar Stunden Schlaf wären mir lieber gewesen.“ Unaufgeregtheit hier wie da – geschuldet vielleicht der Jugend beider Protagonisten und sicher auch dem zeitlichen Abstand, aus dem sie zurückschauen in ihre private Geschichte und jene der Länder, in denen sie groß wurden. Eine Unaufgeregtheit aber auch, wie sie dem aktuellen Miteinander der Deutschen in Ost und West nur zu wünschen ist. Denn nur wenn man das Trennende endgültig überwindet, wird eine gemeinsame Zukunft möglich.

Titelbild

David Wagner / Jochen Schmidt: Drüben und drüben. Zwei deutsche Kindheiten.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.
330 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498060558

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch