Integration und Ausgrenzung

Sarah Panters vergleichende Studie über jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Litauen und Polen gebe es „zahlreiche jüdische Kleinstädte“, die trotz ihrer „Armseligkeit“ so etwas wie „freiwillige Vertreter der deutschen Kultur“ seien: „In ihrem leidenschaftlichen Bildungseifer, in ihrer Zugänglichkeit für allen westlichen Fortschritt und nicht zuletzt auch durch ihre Sprache ist die jüdische Bevölkerung den Deutschen ein natürlicher Bundesgenosse.“ Diese Sätze waren 1915 in einer der von Ernst Jäckh betreuten „Politischen Flugschriften“ zu lesen, die von der künftigen Neuordnung der russischen Westprovinzen handelte. Ihr Autor, der Publizist Alfons Paquet, begegnete der Sache des Zionismus mit Sympathie, hatte vor dem Krieg Russland und Palästina bereist und war gerade dort beeindruckt von der jüdischen Aufbau- und Siedlungsarbeit. Seine Bemerkung über die polnischen Juden gehört zum Kontext dessen, was damals die „Ostjudenfrage“ genannt wurde. Man diskutierte sie leidenschaftlich und kontrovers, diesseits wie jenseits der jüdischen Milieus. Das Spektrum der Meinungen reichte von verklärender Romantisierung und Versuchen politischer Instrumentalisierung bis hin zu strikter, vielfach antisemitisch grundierter Gegnerschaft. Darin bündelten sich wie in einem Brennglas Rolle, Selbstverständnis und Perspektiven der Juden in den mittel- und westeuropäischen Gesellschaften, zugleich aber auch Erwartungen und Zuschreibungen, die von außen an sie herangetragen wurden.

Es überrascht daher nicht, daß die Wahrnehmungen der „Ostjudenfrage“, die darüber ausgefochtenen Debatten und die daraus erwachsenen Maßnahmen, zu den Kernbereichen des weit ausgreifenden Buches von Sarah Panter zählen. Osteuropa war, wie die Autorin zu Recht formuliert, „Projektionsfläche“ für Juden wie für Nichtjuden, eingebettet in unterschiedliche Programme und Interessenlagen, was jedoch Berührungspunkte und Schnittflächen nicht ausschloss. Dass man sich in Deutschland damit beschäftigte, lag schon deshalb nahe, weil parallel zur vorrückenden Front große Teile der in den russischen Westgouvernements beheimateten Juden unter deutsche Herrschaft gerieten. Deren Existenzbedingungen waren überwiegend miserabel, geprägt von materieller Not, antisemitischen Ausschreitungen, Entrechtung und Repression. Sie zu befreien, war eine der Losungen, die deutsche Zionisten motivierten, sich die Kriegsanstrengungen des Reichs zu Eigen zu machen. Die Jüdische Rundschau, das Organ der Zionistischen Vereinigung,präsentierte sich in den ersten Kriegswochen ebenso wie später voller Entschlossenheit: „Wir erwarten, daß unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt“, hieß es in einem am 7. August 1914 abgedruckten Aufruf. Gegen das ‚Joch des Zarismus‘ zu kämpfen, hatte im übrigen auch die Sozialdemokratie bewogen, die Politik des Burgfriedens mitzutragen und im Parlament Jahr für Jahr bis zum bitteren Ende die nötigen Kredite zu bewilligen.

Der Hoffnung, dass die deutschen Zionisten nach dem Krieg „auf ihren jüdischen Nationalismus verzichten würden“, erteilte im Oktober 1914 der spätere Literaturwissenschaftler und Schwiegersohn Martin Bubers, Ludwig Strauß,eine entschiedene Absage. Denn die „jüdischnationalen Bürger und Soldaten des Deutschen Reiches“, argumentierte er in der Jüdischen Rundschau, „ziehen hinaus“ zur Verteidigung des Vaterlandes, „ohne das Geringste“ von ihrem „jüdischen Volksgefühl verloren zu haben, ohne die geringste Absicht“, sich und ihre „jüdische Sonderart der Assimilation“ an die nichtjüdische Mehrheit „hinzugeben“. Nationalismus sei, definierte er, die „kulturelle Angelegenheit einer Bevölkerungsgruppe“, die gemeinsam mit anderen unter dem Dach des Staates zusammenlebe. Dessen Aufgabe sei es, dies zu gewährleisten. So gesehen sei die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ein Vorbild. Die nämlich habe entgegen landläufiger Vorurteile „mehr Zukunft als Vergangenheit“, die verschiedenen Ethnien dort seien Glieder der Gemeinschaft, wissend, dass ihre jeweiligen Eigenheiten und spezifischen Interessen sie nicht hindern, sich „ganz dem weiten Kreis des Völkerstaates einzuordnen“. Das sei, war Strauß überzeugt, „die sittliche Kraft der reinen, von allem Nationalismus gelöste Staatsidee“.

Dergleichen Auffassungen vertrat in Deutschland nur eine Minderheit. Die Mehrheit der Juden sah sich repräsentiert durch den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, dessen Vorsitzender Eugen Fuchs im November 1914 konstatierte, dabei den vom Kaiser verkündeten Kurs der gesellschaftlichen Integration bekräftigend: „Der Krieg nach außen wurde der Friede im Innern“. Palästina, der Sehnsuchtsort der Zionisten, sei nicht der seine, schrieb er ein andermal, als sich das  Klima in Deutschland merklich verschärft hatte und die im August 1914 beschworene Eintracht der Klassen und Konfessionen zerbröselt war: „Ich spreche deutsch, empfinde deutsch; deutsche Kultur und deutscher Geist erfüllen mich mehr als hebräische Dichtung und jüdische Kultur.“

Veröffentlicht im August 1917, war dies ein Bekenntnis, dem Folge zu leisten spätestens nach der im Herbst 1916 vom preußischen Kriegsministerium für die Streitkräfte angeordneten, von den Betroffenen als diskriminierend empfundenen „Judenzählung“ schwer fiel. Konfrontiert mit einem mächtig anschwellenden, bösartigen und rabiaten Antisemitismus, der in der Bevölkerung, aber auch in den Ministerien, Ämtern und Behörden breiten Widerhall fand, entpuppten sich die anfangs gehegten Hoffnungen als Illusion, geriet die deutsche Judenheit zunehmend unter Druck, gewann der Zionismus gerade in der jüngeren Generation Resonanz und Einfluss, erschien aller Patriotismus der deutschen Juden als verlorene Liebesmühe. Selbst im Centralverein wurden Stimmen laut, die für eine „Neuorientierung in der Judenfrage“ plädierten, und es war kein Zufall, dass die auf Ausgleich bedachte Schrift des Marburger Philosophen Hermann Cohen – „Deutschtum und Judentum“ (Gießen 1915) – kontroverse Reaktionen auslöste.

Der „Ostjudenfrage“ in Deutschland vergleichbar waren, wie Sarah Panter zeigt, in Österreich-Ungarn die Diskussionen, die sich am Schicksal jener Juden entzündete, die in großer Zahl aus den von den russischen Truppen bedrohten oder überrannten Bezirken Galiziens in das Landesinnere, namentlich nach Wien, geströmt waren. Dabei ging es zuvorderst darum, die Geflohenen zu versorgen, was im Blick auf die kontinuierlich sich verschärfende Versorgungslage nur mit Mühe zu bewältigen war, zugleich aber wurden durch die Begegnung mit einem orthodox traditionellen Judentum Fragen nach der Selbstverortung der assimilierten Juden im Vielvölkerstaat aufgeworfen. Hinzu kam, dass hier, wie in Deutschland, die Erfahrungen eines immer prekärer werdenden Alltags, die nicht enden wollenden Entbehrungen, die Lasten und Opfer, die den Menschen aufgebürdet wurden, Wasser auf die Mühlen der Antisemiten waren, deren hasserfüllte Parolen je länger desto wirksamer auf fruchtbaren Boden fielen. Auf der anderen Seite ließ sich die Hoffnung der Zionisten, die auf Anerkennung einer jüdischen Nationalität drängten, nicht realisieren: weder in der Monarchie noch danach in der Republik.

Nicht der Krieg sei der eigentliche Grund für die jüdische Misere, aber er habe sie sichtbar gemacht, und sie werde sich im Frieden fortsetzen, war Anfang 1916 der Jurist und Verfassungsrichter Louis Brandeis überzeugt, einer der führenden Köpfe im amerikanischen Zionismus. Schon dies deutet an, dass auch in der angelsächsischen Welt die „Judenfrage“ wahrgenommen wurde. Aber die Diskussionen in den USA und im Vereinigten Königreich verliefen in anderen Bahnen als in den Mittelmächten, kristallisierten sich allerdings auch hier um Besorgnisse und Fragen nach der Solidarität der jüdischen Bürger in der Ausnahmesituation des Krieges, gerade angesichts der Tatsache, dass grenzüberschreitende jüdische Kommunikationskanäle und Netzwerke existierten. Auch in Amerika und England machte sich Misstrauen bemerkbar, während der zweiten Kriegshälfte bisweilen in antijüdischen Ausschreitungen kulminierend. In der Bevölkerung gab es Tendenzen, die Juden als pro-deutsch einzustufen, zumal dann, wenn sie erst vor kurzem eingewandert und noch nicht naturalisiert waren. In Großbritannien trugen Juden, zumal solche mit osteuropäischem Hintergrund, Bedenken, Seite an Seite mit Russland zu fechten, wo die Glaubensgenossen unter der zaristischen Autokratie litten, was aufs Ganze gesehen die Bereitschaft zu loyaler Erfüllung patriotischer Pflichten jedoch nicht in Zweifel zog.

Nicht alles, was Sarah Panter ausbreitet, ist prinzipiell neu. Aber die Art und Weise, wie sie die verschiedenen nationalen Stränge in vergleichender Perspektive miteinander verknüpft und ein vielschichtiges, aus Archiven und zeitgenössischer Publizistik geschöpftes Quellenmaterial organisiert, ist eine respektable, den Forschungshorizont erweiternde Leistung. Die im Detail rekonstruierten Problemlagen und die innerjüdischen Fraktionen, die sich darüber die Köpfe heiß redeten, brachen nicht erst im Krieg auf. Die waren sämtlich schon vor 1914 vorhanden, aber der Krieg hat die damals diskutierten Fragen unausweichlich gemacht, hat die Positionen zugespitzt, die innerjüdische Polarisierung entlang gegenläufiger, konkurrierender „Identitätsentwürfe“, so der Begriff der Verfasserin, vorangetrieben. Und schließlich: Die im November 1917 von der britischen Regierung veröffentlichte Balfour-Deklaration, die den Juden in Palästina keinen eigenen Staat, wohl aber eine „Heimstätte“ zubilligte, verlieh den bereits vor 1914 gehegten und kontrovers diskutierten Erwartungen mit einem Mal so etwas wie Realitätsmächtigkeit, eröffnete die Möglichkeit, Visionen in politische Praxis zu übersetzen, aus denen wiederum, das wurde bald schon sichtbar, neue, bis heute andauernde Konflikte erwuchsen. Diese freilich sind ohne Kenntnis der Vergangenheit kaum zu begreifen. Auch dazu leistet Sarah Panters Studie nützliche Dienste.

Titelbild

Sarah Panter: Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.
410 Seiten, 79,99 EUR.
ISBN-13: 9783525101346

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