Die unwiderstehliche Kraft kaum wahrnehmbarer Bewegungen

In seinem Roman „Kontinentaldrift“ fängt Hannu Raittila ein ganzes Stück Welt ein

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Heimat Finnland ist Raittila einer der bekanntesten und beliebtesten Autoren. Für seinen Roman „Canal Grande“, der in 30 Sprachen übersetzt wurde, erhielt er den Finlandia-Preis, die bedeutendste literarische Auszeichnung Finnlands. Mit „Kontinentaldrift“ liegt nun der fünfte ins Deutsche übersetzte Roman von Hannu Raittila vor; die Übersetzung besorgte Stefan Moster in der exzellenten Qualität, die man von ihm gewohnt ist.

„Kontinentaldrift“ erzählt die Geschichte einer kleinen Familie im heutigen Finnland aus wechselnden Perspektiven. Die Eltern Johan und Pirjo trennen sich, als ihre Tochter Paula noch klein ist. Johan Lampen, Offizier der finnischen Küstenwache, verschwindet nach der Trennung aus Paulas Leben. Ihre Mutter ist als Rundfunkjournalistin beruflich sehr eingespannt und erzieht ihre Tochter schon früh zu großer Selbstständigkeit. Die meiste Zeit verbringt Paula mit ihrer Freundin Sara, die beiden teilen alles, was sie beschäftigt, und geben sich gegenseitig Halt. Als Teenager entdecken sie den Flughafen Helsinki-Vantaa als Ort, an dem sie einen Spielraum für ihre Sehnsüchte finden. Hier vertreiben sie sich ihre Zeit, und hier entsteht ihr Traum, um die Welt zu reisen – von Flughafen zu Flughafen.

Tatsächlich machen sich die beiden Freundinnen 2001 per Airport-Hopping auf den Weg. Die Flughäfen werden ihr Zuhause. Wenn sie irgendwo landen, suchen sie sich erst einmal einen befristeten Job auf dem Flughafen, um sich den Lebensunterhalt und die Weiterreise zu finanzieren. Die erhöhten Sicherheitsanforderungen nach 9/11 kommen ihnen dabei entgegen, denn die Flughäfen können ihren Bedarf an Kontrollpersonal kaum decken. Auf manchen Flughäfen verbringen die jungen Frauen nur wenige Tage, auf anderen Monate. Wenn sie genug haben, suchen sie sich ein neues Ziel. Da sie das Flughafengelände nie verlassen, können sie zu den entlegendsten Airports der Erde reisen, ohne sich um Visa oder andere Formalitäten kümmern zu müssen.

Sara beschließt irgendwann, nach Finnland zurückzukehren, während Paula das Reisen fortsetzt. Die beiden Frauen verlieren sich aus den Augen. Viele Jahre später erkennt Sara aus einiger Entfernung, wie die hochschwangere Paula auf dem Flughafen von Helsinki ein Flugzeug verlässt und von Sicherheitsbeamten abgeführt wird. Und nun beginnt die Suche nach Paula. Als klar wird, dass Paula Finnland wieder verlassen hat, macht sich Johan Lampen auf den Weg, um seine Tochter zu finden. Diese Reise wird ihn fast um die ganze Welt führen. Sara und Paulas Mutter Pirjo versuchen unterdessen, von Finnland aus herauszufinden, wohin Paula mit ihrem Kind weitergereist ist. Während der Suchaktion kommen Johan und Pirjo das erste Mal seit vielen Jahren wieder ins Gespräch miteinander, und am Ende wird Johan fündig – allerdings findet er etwas anderes, als er gesucht hat.

„Ich finde, ein Roman muss mehr sein als nur eine Geschichte. Er muss ein Bild der Welt zeichnen. Ich glaube, ohne auf das internationale Netzwerk einzugehen – und der Luftverkehr ist Teil des internationalen Netzes – […], kann man kein Bild der Welt entwerfen“, sagt Hannu Raittila in einem Interview des WDR im September 2014. Wenig später führt er weiter aus: „Das Bild der Welt kann nicht nur in einer Stimme erscheinen. Es müssen wie in einem Spiegelsaal unterschiedliche Figuren mehrmals über dieselbe Sache reden, aber jeder aus seiner ganz eigenen Perspektive.“ Diese beiden Sätze kann man als Raittilas poetologisches Programm für „Kontinentaldrift“ lesen, das im Wesentlichen von drei Erzählstimmen getragen wird: Johan, Pirjo (d. h. Paulas Eltern) und Sara. Dazu kommen Auszüge aus Paulas Tagebüchern sowie „Die Geschichte der Flughafenrumtreiber“, die sich als wissenschaftliche Studie über das Airport-Hopping junger Frauen ausgibt.

Zu Beginn scheinen die aus den verschiedenen Perspektiven erzählten Ausschnitte des Geschehens unverbunden nebeneinander herzulaufen; es dauert eine Weile, bis man erkennt, in welchem Verhältnis die Figuren zueinander stehen. Je weiter der Roman voranschreitet, desto näher rücken die Figuren zusammen, langsam, fast unmerklich wie Kontinente in ihrer Drift. Hannu Raittila verknüpft die losen Fäden zu einem sich beständig verdichtenden Netz. Springt die Handlung zuerst mit jedem Perspektivwechsel zwischen vielen verschiedenen, oft weit voneinander entfernt liegenden Orten hin und her, verringert sich die Zahl der Schauplätze am Ende auf zwei und die Zusammenhänge werden immer klarer. Das alles wird in einem ruhigen, unaufgeregten Ton und in einer sehr klaren Sprache erzählt. In diesem Roman habe er vollkommen auf Sarkasmus verzichtet, um die Leser zu berühren, sagt der Autor. Das ist ihm zweifellos gelungen. Gelegentlich jedoch gerät Johan ins Dozieren über technische Themen, weltpolitische Zusammenhänge und Ähnliches, dann mag man sich arg belehrt fühlen und der Versuchung nachgeben, zwei Seiten weiterzublättern, bis der Vortrag vorbei ist. Man verpasst nichts, was für das Verständnis der Romanhandlung unerlässlich wäre.

Die entscheidenden Bewegungen in „Kontinentaldrift“ finden weit unter der Oberfläche statt, an der es bisweilen dramatisch zugehen kann. Ihrer tiefgreifenden Wirkung kann sich keiner der Beteiligten entziehen. Noch lange, nachdem man den Roman gelesen hat, klingt sein Echo nach – und je länger man darüber nachdenkt, umso mehr Themen offenbaren sich und umso mehr Hüte zieht man vor Hannu Raittilas kunstvollen Verknüpfungen.

Titelbild

Hannu Raittila: Kontinentaldrift. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
411 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874494

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