Die Quellen des Fonts

Philipp Vanscheidt und Markus Polzer haben einen durchwachsenen Sammelband zur Typographie der letzten 100 Jahre herausgegeben

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf seine außergewöhnliche Novität wollen die Herausgeber des vorliegenden Bandes zur Begründung ihres Projekts nicht so ganz abheben: Zwar heißt es bereits im vierten Satz ihrer Einleitung „Die Literaturwissenschaft hat das lange weitgehend ignoriert“, nämlich, dass die Schrift „mehr als der transparente Übermittler einer Botschaft“ ist. Weiter unten auf der gleichen Seite aber wird festgehalten, dass es „übertrieben wäre zu behaupten, diese Wissenschaft habe dies vollständig ignoriert“, nämlich, dass „das Wort ,Literatur‘ es nahe [legt], Schrift als einen möglichen Gegenstand der Literaturwissenschaft anzusehen und einzufordern.“

Dies meint wohl zunächst alle Literatur der sogenannten Visuellen oder Konkreten Poesie und ihre bis in die Anfänge der Schrift reichenden Vorläufer, die zum festen Bestandteil literaturwissenschaftlicher Forschung gehören – im vorliegenden Band verweisen die Beiträge von Klaus Dencker zu Typografie als Poesie und Christiane Fischer zu Kurt Schwitters’ Spiel mit der Typografie auf diese Traditionen.

Die Herausgeber schreiben weiter: „Konkrete Auseinandersetzungen mit der Typographie dichterischer Werke sind aber schwer zu finden.“ Dies beginnt sich zu ändern und eine Vortragsreihe der Berliner Staatsbibliothek „Materialität der Literatur“ spricht in ihrem Flyer bereits von einer Hochkonjunktur der Forschung zur materiellen Kultur. In diesem auch in anderen Teilen der Geisteswissenschaft bemerkbaren „material turn“ kann also das neu und anders erwachte Interesse am Text und seiner materiellen Verfasstheit situiert werden – an, wie Anna Sinofzik in ihrem Beitrag formuliert, jener „Schwelle zwischen Inhalt und dessen Präsentation“, wo es um „Schnittstellen [geht], um literarische Mittel, bei denen eine klare Zuordnung zum Peritext auf der einen Seite und zum Haupttext auf der anderen unmöglich scheint. Und darum, literarische Sprache in eben diesem Grenzbereich zu erforschen.“ Sinofziks Autoren sind Hubert Selby, Tom Wolfe und Arno Schmidt – letzterer kommt erstaunlicherweise nur hier ausführlicher in dem Band vor.

Lieblingsautor aktueller „materialistischer“ Literaturforschung scheint nicht nur in diesem Band Mark Z. Danielewski mit seinem Roman „House of Leaves“ (2000; dt. 2007) zu sein, da dort vielfältige typografische Anwendungen ebenso im Spiel sind wie auch ihre komplexen erzähltechnischen Funktionen: Alles, was der moderne Setzkasten bietet, findet bei Danielewski Anwendung, so dass die Seiten bei dem auch als Filmautor ausgebildeten US-Autor wie eine Zeitungsseite oder ein Kommentar zur Kabbalah aussehen – der Vergleich zu den seit der Antike florierenden Technopägien ist unmittelbar nahe liegend. Wie Sabine Zubarik ausführt, ist Danielewskis Roman auch als Labyrinthgedicht deshalb so einschlägig, da bei Danielewski „die typographische Umsetzung meist alle Erzählstränge bzw. alle Schichten der [fiktiven] Herausgeberschaften [betrifft].“ Erhellend sind Zubarniks Ausführungen zur sowohl topografischen wie auch sequentiellen Struktur des Romans, die sie insbesondere auf eine Lesart der Deleuze’schen „Falt(ung)en“ zuführt. Ihr geht es um den in der Symbiose von Text- und Bildbedeutung gewonnenen Mehrwert solcher „Sehtexte“.

Ausführlich nimmt Markus Polzer die vielfältigen intermedialen Hinweise und Praktiken von „House of Leaves“ in den Blick, das mitunter wie eine Kamerafahrt, dann wieder wie die Navigation durch ein Hypertextsystem funktioniere und auch als musikalische Partitur zuweilen lesbar sei. Danielewskis Roman exerziert das Aufbrechen der Linearität des Textes unter anderem durch wissenschaftsfiktionale Fussnoten und Kommentare, durch Formen von „Faltungen“, die mitunter das veritable ,Auf-den-Kopf-Stellen‘ des Textes erfordern.

Wie Danielewski hat im Laufe der Literaturgeschichte eine nicht geringe Reihe von Autoren sich die Bandbreite typografischer Ausdrucksdimensionen erschlossen und spielerisch für die Realisierung ihrer Texte genutzt. (Insofern ist zu bedauern, dass der epochale Zuschnitt des Bandes sich zu sehr auf die scheinbar unmittelbarer zugänglichen letzten 150 Jahre beschränkt, zumal wenn die viel ,repräsentativeren‘ Jahrhunderte davor in den Aufsätzen immer wieder zur Sprache kommen.)

Vielfach reichen die durch die Grenzüberschreitung von typografischen Konventionen gewonnenen Freiheiten bereits in den bildnerischen Bereich, wie etwa das Beispiel Schwitters oder auch der materialreiche Beitrag von Bettina Braun über die Runenpoesie und als Tonverschriftung intendierten Buchstabensammlungen des Proto-Avantgardisten Otto Nebel zeigen. Den Rückgang auf den Ursprung der Schrift in seiner technischen Bedingtheit demonstriert präzise und theorieangeleitet der Beitrag von Annette Gilbert zur Schreibmaschinenpoesie als ,Letternpunktik‘. Diese Maschine fand bei einzelnen Autoren wie Charles Olson, Carlfriedrich Claus, Carl Andre, Maurizio Nannucci, Jiři Kolař oder dem russischen Samizdat Anwendungen, die eher in den Bereich der künstlerischen Ausdrucksmittel fielen. Olson etwa verstand das ,Typen‘ als Möglichkeit des Poeten, “to record both the acquisitions of his ear and the pressures of his breath.” Die von Gilbert gebrachten Abbildungen illustrieren überraschend die Variationsbreite der vor allem in Verbindung mit den Nachkriegskunstbewegungen der Konkreten Poesie, minimal art, op art, Fluxus florierenden Maschinenkunst. Die Szenerie der Stempelkunst jener Epoche führt Siegfried J. Schmitts historischer Text von 1980 zeitnah vor.

Dort, wo die typografische Gestaltung durchsichtiger ist als in den Formen der Visuellen Poesie und Bildproduktion hat sich viel seltener ein Interpret gefunden, der die scheinbar gewöhnliche und konventionelle, fast zufällig erscheinende typografische Gestaltung etwa eines Romans oder eines philosophischen Werkes zum Gegenstand ausführlicher Analysen gemacht hätte. Wie verhält es sich also mit der konventionellen Typografie? Was sagt dem Leser die Anwendung der Typo-Zeichen im Rahmen der möglichst unauffällig verbleibenden Buchausgaben etwa belletristischer Prosa? Der Reichtum an Ausdrucksbezügen kann in der Typografie an kleinsten Einheiten demonstriert werden – wie etwa dem Asterisk. Magnus Wieland widmet diesem Zeichen einen aspektreichen Beitrag, in dem Texte von Isidor von Sevilla und über Christian Morgenstern hinaus Konstellationen zwischen dem bestirnten Himmel und der menschlichen Phantasie aufscheinen lassen. Weniger materialgesättigt erscheint da Bernhard Metz’ (englischsprachiger) Werbebeitrag für die Schrift Minion des Softwarehauses Adobe, der ziemlich linear und ohne Gegenargumente oder -beispiele heranzuziehen, die Frage stellt, aber nicht beantwortet „Can there Really Be a ‚Best Little „a“ in the Business‘?“. Da bietet der durch die Digitalisierung noch einmal um eigene Galaxien erweiterte Fontkosmos doch mehr als die Serifenschrift Robert Slimbach’s. (Im Vorwort verweist der Mitherausgeber Philipp Vanscheidt darauf, dass er den Satz des Bandes mit eben dieser Adobe-Software erstellt hat – „honi soit qui mal y pense“.)

Das Manko des Bandes wird deutlich in seiner wenig theoretisch ausgerichteten Anlage. Einige der in dem Band versammelten buchgestalterischen Praktiker versuchen zwar „Angemessenheit“, „Inhaltsgerechtigkeit“, „Dialektik von Form und Inhalt und emotiver und poetischer Funktion“ zu explizieren, aber bereits im Eingangsbeitrag weist Wulf D. v. Lucius knapp darauf hin, dass Übertragbarkeit seit Beginn der Schrift zu deren Merkmalen zählt und mithin kulturelle, historisch-ideologische und sonstige Festlegungen typografischer Ausdrucksfähigkeit meist keine überzeugende Fundierung finden. Eine philosophische Begründung kann man in Björn Ganslandts Aufsatz über Wort und Bild in der Begründung der Semiotik durch Charles S. Peirce finden: Peirce sah bereits im scheinbar arbiträr definierten Zeichen Ikonizität, Bildlichkeit am Werk, so dass die Schrift immer bereits „mit den Möglichkeiten der Typographie verwoben ist.“ Nahe ist man damit bei Walter Benjamins Gedanken der „Schriftbildlichkeit“, auf die Gilbert hinweist. Nicht völlig entgegengesetzt profiliert Lutz Albrecht Jacques Derridas „Iterabilität“ als Theorie der Schrift und ihrer metaphysischen Bildimplikationen vor. Von diesen theoretischen Ansätzen aus wäre ein Zugang zu den Gegenständen des Sammelbandes spannender gewesen als durch die zahlreichen und eher beliebig wirkenden Fallbeispiele.

Weitere Beiträge widmen sich der Illustration von Prosatexten (bei Peter Weiss) oder der Störung des Leseflusses durch Schriftwechsel (bei Uwe Johnson oder Walter Moers) oder der Typografie der „Fackel“; Astrid Lange kritisiert Alexander Kluges Gebrauch von Typografie in der TV-Adaption seiner Holocaust-Erzählung „Ein Liebesversuch“ als unangemessen, Ursula Paintner versucht nachzuweisen, dass Christoph Ransmayrs Gebrauch des Flattersatzes in seinem Roman „Der fliegende Berg“ „mehr als Artistik“ biete, sondern „die Kernaussage des Romans graphisch um[setze]“ und damit „auch einen Beitrag zum erneuten Überdenken eingefahrener typographischer Konventionen leistet“ – ob dies aber in der Aufhebung des Blocksatzes wirklich begründet liegt, bleibt offen.

In diesem wie in anderen Fällen stellt sich die Frage nach einer möglichen editorischen ‚Wiederholung‘ solcher Texte – etwa in Werkausgaben. Annedore M. Cruz Benedetti diskutiert sehr überzeugend am Beispiel ihrer Übersetzungen des kolumbianischen Dichters Jorge Artel, welche Bedeutung gerade in der Lyrik bereits Spatien, Leerzeilen und Titel einnehmen können. Vor den eigentlichen editorischen Entscheidungen untersucht der Beitrag von Philipp Vanscheidt detailliert die Manuskriptentwicklung von Friederike Mayröckers „Reise durch die Nacht“. Es bleibt aber offen, wie diese etwa für editorische Entscheidungen genutzt werden könnten.

Der Band bietet über einzelne eingehende Studien hinaus, die auch literaturtheoretische Vorüberlegungen erkennen lassen, zwar eine Zusammenstellung zahlreicher Beiträge zu Beispielen typografischer Gestaltung und ihrer Begründung, aber letztere ist nicht Sache der Praktiker allein, sondern sollte auch als literaturwissenschaftliche Anstrengung verstanden werden. So wäre eine konzisere Beschränkung auf deren Fragestellungen der Geschlossenheit der Argumentation und damit der Überzeugungskraft des Bandes zuträglich gewesen. Weiterhin ist zu monieren, dass der erfreuliche Illustrationsreichtum in einem Buch über das Visuelle an der Literatur nur dann wirkungsvoll ist, wenn die gelieferte Auflösung der Bildvorlagen dem Wahrnehmen des Dargestellten nicht entgegensteht.

Titelbild

Markus Polzer / Philipp Vanscheidt (Hg.): Fontes Litterarum. Typographische Gestaltung und literarischer Ausdruck.
Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York 2014.
479 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783487151038

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