„What was was.“ – Sport statt Mord?
Lorenz Pfeiffer und Moshe Zimmermann legen einen Sammelband zur Bedeutung jüdisch-deutscher Wettkämpfe während des Nationalsozialismus und für die Nation Israel vor
Von Marie-Luise Wünsche
I
Sport ist mehr als Bewegung. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein Spektrum von Kulturtechniken und hinter der Praxis ein Ensemble von damit korrespondierenden Körpertechniken. Im Einzel, Doppel oder als Mannschaftsspiel gemäß bestimmter Regeln, auf deren Einhaltung nicht selten Schiedsrichter Acht geben wie Höllenhunde, damit kein linker Hund das Rasenspiel oder die Judo-Kata auf der Dojo-Matte störe, geht es in bestimmten Räumen, allesamt säkularisierte Heiligtümer der Sportler und ihrer Fans, um das Messen, Austesten und Überschreiten eigener und fremder Grenzen. Jedes Mal geht es idealiter dann vor allem auch darum, sich selbst, die Mannschaft, den eigenen Verein, ja sogar den gegnerischen Verein und dessen Mitglieder und Fans physisch, psychisch, konditionell und kognitiv-spirituell, aber auch ethisch-moralisch ein bisschen über die eigenen Grenzen hinauswachsen zu lassen. Was nicht heißen will, dass die entsprechenden Vereinsstatuten mehr als gelegentlich in der von Klüngel und differenten Interessensgemeinschaften geprägten gesellschaftlichen Wirklichkeit Schiffbruch erleiden müssen. Allein: Fairness und Gemeinschaftssinn sind bereits als Utopie, also als Orte mit nur imaginären, nicht aber mit realen Räumen stark genug, um indirekt dann eben doch auch die vielen verschiedenen Alltagswirklichkeiten vieler historisch gewordener Gesellschaftsformen um eine Idee besser und gerechter werden zu lassen. Und sollte selbst das nicht gelingen, weil die Verhältnisse weltweit (wieder) einmal nicht danach sind, so gewähren Sportpausen stets Kampfpausen, selbst jenen, die ansonsten um ihr von Hunger, von körperlicher Gewalt und von Schmerz- und Ungezieferplagen gezeichnetes Leben bangen und fürchten müssen, und spiegeln als solche das Ungeheure und den Sarkasmus von Unrechtstaaten wieder.
Welche enorme Bedeutung etwa der Fußball innerhalb der Konzentrationslager für die Häftlinge annahm, um die an ihnen begangenen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wenigstens zu überleben, damit sie später Zeugnis ablegen könnten, das hat etwa Giorgio Agamben mit Verweis auf Primo Levi in seinem nicht unumstrittenen Beitrag „Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge“ unter anderem sehr nachdrücklich klar gemacht. Der Zeuge „Miklos Nysizli, einer der ganz wenigen Überlebenden des letzten Sonderkommandos von Auschwitz“, so Agamben, „erzählte, daß er während einer ‚Arbeitspause‘ bei einem Fußballspiel zwischen einer Mannschaft der SS und einer aus Mitgliedern des Sonderkommandos anwesend war.“ Dieses Spiel, bei dem Angehörige der SS und Angehörige des Sonderkommandos, Täter und Opfer also, einander anfeuerten, Wetten abschlossen und klatschten, „als würde das Spiel nicht vor den Toren der Hölle, sondern auf dem Fußballplatz irgendeines Dorfes ausgetragen“, hat, so Agamben weiter, „nie aufgehört“ und „ist das eigentliche Grauen des Lagers“, da es so ist, „als daure es noch immer an, ununterbrochen.“ (Agamben 52003, S.22-23) Klar gemacht hat Agamben mithin auch, dass die vielen und längst nicht hinreichenden Prozesse nicht nur zur Klärung des ungeheurer normal dahergekommenen Massenmordens beitrugen und zur Bestrafung einiger, sondern eben auch zur Verklärung: als könne es je gelingen, Auschwitz auch nur annähernd angemessen zu (ge-)denken: als etwas ein für alle Mal Überstandenes.
Gerade in Zeiten negativer und positiver Ausnahmezustände also, wie es etwa Weltkriege und faschistoide Terrorregime einerseits und Staatsgründungen andererseits darstellen, ist Sport als Praxis mehr als Freizeitgestaltung oder Hobby: er ist Lebensversicherung, Obsession und praktizierte Chance auf Zukunft individueller und kollektiver, etwa auch diplomatischer Beziehungen und eröffnet den Transfer zwischen Staaten, auch zwischen verfeindeten Staaten.
II
Im vorliegenden Sammelband, herausgegeben von Lorenz Pfeiffer, Professor für Sportpädagogik an der Leibniz Universität Hannover, und Moshe Zimmermann, Professor für deutsche Geschichte und Politologie an der Hebrew University in Jerusalem und Direktor des Richard Koebner Minerva Center for German History, steht die Bedeutung des Sports für die in Europa, vor allem im nationalsozialistischen Deutschland unter extremer Isolation und Bedrohung des Lebens lebenden Juden (Diasporajuden) einerseits und die bereits in Palästina lebenden Juden aus aller Welt (Nationaljuden) andererseits im Zentrum des Interesses.
Durch die historisch motivierte Rekonstruktion des Sport-Transfers in Theorie und Praxis zwischen Nazideutschland und Erez Israel wird gleich dreifach Licht ins Dunkel dieses Aspektes von Alltagsgeschichte in Ausnahmezuständen gebracht.
Erstens gelingt es, hinter der sehr wirksamen antisemitischen Vorstellung vom „jüdischen Schwächling“, also dem vermeintlich qua genetischer Disposition zwar gelehrten, aber völlig unsportlichen und deshalb laut Klischee an der Sitz- und Denkkrankheit leidenden jüdischen Menschen, die Diffamierende und Diffamierte gleichermaßen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung lenkten, die Vielfältigkeit und den Erfolg jüdischer Sportler und Sporttheoretiker respektive Sportdidaktiker aufscheinen zu lassen.
Zweitens und damit zusammenhängend wird sichtbar, dass die aus Deutschland nach und nach Emigrierten, dort aus der gescheiterten Assimilation und der Lebensbedrohung entkommenden Juden, nun im „gelobten Land“ abermals der Assimilation, hier nun an die deutlicher jüdisch-orthodoxen Traditionen außereuropäischer Prägung oblagen und dass dabei neben der Wissenschaft vor allem der Sport eine besondere Rolle spielte. Beide Kulturelemente trugen aber eben ihrerseits deutliche Spuren der Tradition des Ursprungslandes. Eine bereits in der Einleitung von den Herausgebern thematisierte Pointe der hier vorliegenden Forschungsergebnisse liegt darin, dass nicht nur der Gedanke des neuen Juden, des sogenannten „Muskeljuden“, der bei der Gründung des Staates Israel 1948 eine entscheidende symbolische Rolle spielen sollte, sich „als Erbe des deutschen Zionismus, ein Import aus Deutschland“ erweist, sondern sowohl „die Idealisierung des jüdischen Sports“ als auch der „Sport selbst und nicht zuletzt die Sportler“, wenn nicht ausschließlich deutsche, so doch europäische Einwanderer waren.
Drittens wird innerhalb der einzelnen Beiträge von jeweils unterschiedlicher Perspektive aus die Bedeutung des Sports für den Zionismus und die Konstruktion kollektiver Identitäten thematisiert.
Unter dem Titel „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ und mit Verweis auf Kurt Blumenfelds Definition „Ein echter Zionist ist ein Marathonläufer“ rekonstruiert Ofer Ashkenazi die Bedeutung dieser und anderer olympischer Disziplinen, die eben auch Disziplinen der sogenannten jüdischen Olympiaden waren, der ersten Makkabiah im Jahr 1932 in Tel Aviv und der zweiten Makkabiah 1935, ebenfalls in Tel Aviv, für die parteipolitischen Querelen, die gelegentlich dem Aspekt des politisch Vereinigenden bei allen Differenzen im Wege standen.
Im Anschluss daran spürt derselbe Autor, nun gemeinsam mit Eyal Gertmann, sportdidaktischen Konzepten von Arthur Biram in Erez Israel nach.Ein kontrastierender Vergleich zu den Präambeln des Turnvater Jahn lässt dabei deutlich werden, dass die Grenzen zwischen schulischer und militärischer Körperausbildung, jedenfalls in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, durchaus fließend waren und dennoch zum Wohle der individuellen und kollektiven Friedens-Bildung dienen sollten.
Henry Wahlig rekonstruiert dann „Die Beteiligung jüdischer Sportler aus Deutschland an der II Makkabiah 1935 in Tel Aviv“, indem er vor allem auch auf die „Ghettoisierungen der jüdischen Bevölkerung“ bereits ab 1933 eingeht, die gerade in Bereichen sportlicher Institutionen und Orte mittels rigider Ausschlussverfahren früh erschreckend gut und konsequent funktionierte. Umso wichtiger war es für die in ihrem Heimatland von sportlichen Highlights sowohl als Sportler als auch als Sportjournalisten und Publikum auf den Tribünen, in den Hallen und an den Hängen und Pisten immer systematischer und vollständiger Ausgegrenzten, an diesen jüdischen Sportveranstaltungen von hohem Prestige teilnehmen zu können. Die Disziplinen, innerhalb derer dies geschah, reichten von Fußball, Handball, Hockey, Tennis und Tischtennis zu Turnen, Schwimmen und Rudern, aber auch Boxen, Ringen, Fechten und Jiu Jitsu.
Eyal Gertmann und Lorenz Pfeiffer geben ihren bemerkenswerten Anmerkungen zu einem sportlichen Reisereigen, der angesichts der damaligen realpolitischen Situation in Nazideutschland nahezu surreal wirkt, einen angemessen auffälligen, nahezu barocken Langtitel: „Im Schatten antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung. Sportliche Begegnungen zwischen jüdischen Mannschaften aus Nazideutschland und Erez Israel im Jahre 1937“. Im Zentrum des Interesses dieses Beitrages stehen Beobachtungen zu einem sportlichen Austausch zwischen jüdischen Mannschaften aus Deutschland und aus Erez Israel. Von dort hatten Mannschaften noch im Jahre 1937 eine offizielle Einreise-Genehmigung erhalten, als die Repressionen, denen jüdische Mitbürger im damaligen Deutschland und Resteuropa ausgesetzt waren, schon ein recht hohes Maß an Willkür und Brutalität erreicht hatten. Über die Gründe dafür kann man wohl nur spekulieren, doch sicher ist es im Bereich des Denkbaren, dass sich offizielle Vertreter des nationalsozialistischen Staates mit dieser vermeintlichen Liebenswürdigkeit wahrscheinlich einen Erfolg in Bezug auf die sogenannte „Judenfrage“ erhofften. Neben Amerika konnte eventuell so auch Palästina für Ausreisewillige an Attraktivität zunehmen, wodurch die Staatseinnahmen des Deutschen Reiches selbstverständlich zunehmen würden, hätten die Emigranten sich das doch etwas kosten lassen müssen. Die Recherchearbeiten für diesen Aufsatz, darauf weisen die Beitragenden expressis verbis hin, gestalteten sich alles andere als einfach. Allerdings gelang es durch entsprechende Hartnäckigkeit, mit „dem Tagebuch von Shmuel Shapira“, eines Handballspielers aus Erez Israel, ein Dokument für diesen Forschungsbericht nutzbar zu machen, mittels dessen sich gut rekonstruieren lässt, „wie die antisemitischen Diskriminierungen ihrer Glaubensgenossen im nationalsozialistischen Deutschland wahrgenommen und empfunden“ wurden.
Moshe Zimmermann, der andernorts einmal vom gegenwärtigen Fußball als „Weltreligion“ sprach, widmet sich der Bedeutung eben dieses Mannschaftssports „Zwischen Diaspora und Erez Israel“. An dieser Darstellung beeindruckt besonders die Rekonstruktion mehrerer Biographien von Fußballern und Fußballtrainern, die direkt oder indirekt von Verfolgung und lebensbedrohlichen Konzentrationslager-Aufenthalten betroffen waren und oft auf abenteuerlichen Fluchtwegen letztendlich dann im Staat Israel seit seiner Gründung im Jahre 1948 wichtige Funktionen für den Fußballsport und seine Rolle in Bezug auf den Zionismus übernahmen. Deutlich wird, dass lange Zeit weder „in der Sportpresse noch in der dürftigen Geschichtsschreibung“ thematisiert wurde, dass manche der Fußballer „keine Sabras (Kaktusfrüchte, Spitzname für gebürtige Israelis) waren, sondern in der Diaspora Geborene.“ Erst seit etwa 2000, so lesen wir hier, wird gelegentlich das brutale Schicksal der Verfolgten von ihnen selbst oder ihren Nachfahren thematisiert, die selbst zuvor schwiegen, sicher aus vielen Gründen, und die der junge und um positive Utopien bemühte zionistische Staat wahrscheinlich auch nicht früher hatte hören mögen. Legendär ist in diesem Zusammenhang, so Zimmermann, die Antwort „What was was“ von Shlomo Sherf, die dieser einem deutschen Journalisten gab, der vor einem Spiel gegen Deutschland wissen wollte, welche Bedeutung die Shoa als Hintergrund dieses Sportereignisses habe.
Lorenz Pfeifer und Nadine Werner beschäftigen sich dann in zwei Beiträgen mit der Bedeutung des „Turnunterrichts“ respektive des „Schulsports“ von 1933 bis 1938, wie er mittels entsprechender Berichte in deutsch-jüdischen Zeitungen rekonstruierbar wird, bevor dann ein umfangreicher Dokumentationsteil gleichsam als Anhang zu den Beiträgen diesen Sammelband abrundet.
III
Der Band ist der zweite, der Ergebnisse eines entsprechenden Forschungsprojektes präsentiert, das vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie vom Kobener Minerva Center der Hebrew Universität Jerusalem unterstützt wurde. Der erste Band war das historische Handbuch für Niedersachsen und Bremen, das unter dem Titel Juden im Sport während des Nationalsozialismus 2012 erschien. Das entnehme ich dem Vorwort. Der Einleitung, die die Herausgeber Lorenz Pfeiffer und Moshe Zimmermann besorgten, entnahm ich gleich zu Beginn meiner Lektüre, dass dieser zweite Band insbesondere für deutsche Leser ohne jüdischen Hintergrund in einem wohl noch viel umfassenderen Sinne ein „Vorstoß in eine ‚terra inkognita‘“ darstellen könne, obwohl es sich um ein Stück deutsche Geschichte außerhalb Europas handele.
Es stimmt, es war für mich eine so ungewöhnliche, so lohnende Lektüre, bei der stets drei Fragezeichen mitreisten über die lesefreundlich bedruckten Seiten und die Sorge, etwas falsch verstanden zu haben oder unangemessen wiederzugeben, verließ mich auch nicht mit Abschluss dieser Rezension, aber auch die Hoffnung nicht, dass derartige historische Untersuchungen, die „Sportgeschichte als Kulturgeschichte“ begreifen, Einlass auch in den Geschichts-Unterricht (fast) aller Jahrgangsstufen und Schularten finden mögen und natürlich darüber hinaus von möglichst vielen Menschen gelesen werden, die dann ausnahmsweise einmal weder denken noch gar sagen mögen: Ja, aber, das, was heutzutage in Palästina…Denn das steht ja historisch stets auch zur Debatte, nur eben dann an anderen Orten und innerhalb anderer historischer Diskurse. Dieses Buch aber hat es eben allemal verdient, dass es als Rekonstruktion sportlicher Kulturtransfers „zwischen NS-Deutschland und Palästina“ gewürdigt wird, ohne Wenn und Aber: dies, obwohl in ihm, von einer winzig kleinen Ausnahme abgesehen, Frauensport keine Rolle spielt. Sei’s drum! –
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