Er war kein Urvater des Pop
Rolf Dieter Brinkmann zum 75. Geburtstag
Von Markus Fauser
Am 16. April 2015 wäre der in Vechta geborene Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann 75 Jahre alt geworden. Seit langem gehört er zum festen Bestand der modernen Literatur – aber sein Bild ist nach wie vor von falschen Annahmen geprägt. Höchste Zeit für eine Korrektur. Schon die frühen Anfänge zeigen den vielschichtigen und umfassend interessierten Autor. Ein kommendes Handbuch wird nun erstmals sein Gesamtwerk vorstellen.
Wie auch immer wir ihn einschätzen: Ob wir glauben, er wollte gar kein Dichter sein oder ob wir meinen, er sei bloß auf die Welt gekommen, um zu krakeelen, ob wir ihn für einen oberflächlichen Bearbeiter von aufgeschnappten Songs oder für das einzige Genie der Literatur halten; ob er als das unerträgliche Enfant terrible des Literaturbetriebs dasteht, das zielsicher alle Freunde vergrault hat, oder ob er zum letzten Grenzgänger zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur stilisiert wird – ganz gleich, wo er stehen soll, die Frage, woher und wie er zum Schreiben kam, bleibt im Dunkeln.
„Wie soll das alles weitergehen?“
Obwohl er in seinen Tagebüchern und Briefen zahlreiche Details aus seinem Alltag notiert, wissen wir von seinem Leben nicht sehr viel. Nur einige Stationen sind bekannt. Brinkmann erzählt von traumatischen Erfahrungen in den Bombennächten, berichtet von der Kinderlähmung und dem Tod des Großvaters 1950, dem Krebstod der Mutter 1957. Die von Brinkmann als belastend erfahrenen Umstände setzten sich in der Erziehung fort, beim dominanten Vater Josef Brinkmann, der als Finanzbeamter in Vechta arbeitete, vor allem aber in der Schule, denn er musste das Gymnasium zu Ostern 1958 ohne Abschluss verlassen. Zunächst versuchte er in Cloppenburg sein Abitur nachzuholen, hielt aber nicht durch und hatte zuvor schon die Ausbildung beim Finanzamt Oldenburg abgebrochen. Als letzte Chance bot sich eine Buchhandelslehre in Essen.
Dort lernt er den langjährigen Freund und Ko-Autor Ralf – Rainer Rygulla und seine spätere Frau Maleen Kramer kennen. Sie heiraten 1964 und bekommen im selben Jahr ihren Sohn Robert. Seit 1962 leben sie in Köln, wo beide an der Pädagogischen Hochschule studieren, Brinkmann kann die Begabtensonderprüfung ablegen. Das Familienleben gestaltet sich wohl sehr schwierig, die kleine Familie lebt oft am Rande des Existenzminimums, weil Brinkmann eine berufliche Tätigkeit ablehnt. Und mit seinen literarischen Arbeiten kann er den Unterhalt zu keiner Zeit sichern. Immer wieder muss er seine Büchersammlung verkaufen und notiert die bange Frage: „Wie soll das alles weitergehen?“ Ab 1965 hält er sich mehrmals in London auf, bekommt Stipendien wie das sehr gut dotierte Stipendium der „Deutschen Akademie Villa Massimo“, das ihn 1972 für ein Jahr nach Rom führt. Beim letzten großen Auslandsaufenthalt ist er 1974 zu Gast am „German Department“ der Universität Austin, Texas. Ein für sein Nachleben wichtiger Auftritt gelingt beim renommierten „International Poetry Festival“ im April 1975 in Cambridge, England. Auf der Rückreise wird Brinkmann in London am 23. April 1975 von einem Auto überfahren.
„Schreiben ist Intensität“
Ihm war nicht zu helfen. In seinem kurzen Leben schuf er unter enormem Druck einige größere Werke. Schon in der Schulzeit wird von seinen Fähigkeiten berichtet. Die Schüler des „Gymnasium Antonianum“ trafen sich regelmäßig an Sonntagen, um ihre Texte vorzutragen oder kleine Vorträge zu halten. Dort sprach Brinkmann über den Existentialismus, über Gottfried Benn oder Arthur Rimbaud und rezitierte Gedichte von Rainer Maria Rilke oder Ezra Pound. Das Protokollbuch der „Rhetorika Vechtensis“ dokumentiert in kurzen Zusammenfassungen den Verlauf der Gespräche, aber auch Vorfälle, wie die mehrfach an Brinkmann ausgesprochenen Strafen für sein unbotmäßiges Verhalten. Er spielt bei Theateraufführungen mit, einmal in der Hauptrolle in Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“. Natürlich schreibt er auch Gedichte und widmet sie seinen Jugendlieben.
Seine Veröffentlichungen zu Lebzeiten sind nicht sehr zahlreich. Neben ersten Einzelpublikationen in Zeitschriften und Anthologien seit 1960 folgen mehrere schmale Gedichtbände, dann 1965, mit größerem Erfolg, die Erzählungen in „Die Umarmung“ und im Jahr darauf die Prosatexte in „Raupenbahn“, bevor er mit dem Roman „Keiner weiß mehr“ 1968 den ersten großen Erfolg feiern kann. Die Bindung an den Verlag Kiepenheuer in Köln blieb lange erhalten, auch wenn die Anthologie „Acid“ mit der neuen amerikanischen Literatur im legendären März Verlag erschien. In den letzten Jahren folgte der Wechsel zu Rowohlt, wo der letzte Band „Westwärts 1&2“ im Todesjahr in gekürzter Form herauskam und wo seither alle Bände betreut werden.
Seit 2005 besitzt die Vechtaer Bibliothek 300 Blatt der frühen Gedichte und 250 Blatt Prosa, die der mittlerweile verstorbene ehemalige Schulfreund Peter Hackmann aus der gemeinsamen Kölner Wohnung gerettet hat. Der Bestand, im vergangenen Jahr in einer Dissertation erschlossen, zeigt die Einflüsse aus der zeitgenössischen Moderne.
Alle nach 1975 erschienenen Ausgaben sind Editionen der Witwe Brinkmanns, die Aufzeichnungen „Rom, Blicke“ sowie die Tagebücher, die „Erkundungen“, auch die Neuausgaben der Gedichte und Erzählungen, die „Briefe an Hartmut“ sowie zuletzt die in Vechta verwahrten frühen Gedichte „Vorstellung meiner Hände“. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich nicht sagen, in welcher Gestalt der Autor die Texte veröffentlichen wollte oder ob sie dafür überhaupt bestimmt waren. Die ganze Bandbreite seines Wirkens einschließlich der Arbeiten für den Rundfunk lässt sich nicht zuverlässig beurteilen.
Kein Popkünstler
Wir müssen es akzeptieren, wenn er 1971 schreibt, „die ganze Rebellion mit Pop, Untergrund usw. ist für mich vorbei“. Der Blick von den Anfängen her, vom Beginn seiner Arbeit mit den Texten der französischen Moderne, des Schülers in Vechta bis 1958, des Buchhändlerlehrlings in Essen bis 1962 und des freien Autors in Köln bis Mitte der 1960er-Jahre belegt die ganz anderen Prägungen. Sie haben sich durch die sehr kurze Phase der Beschäftigung mit Pop, in der Musik wie in der Literatur, hindurch erhalten und führten nach 1970 zur Abkehr von der Popkultur seiner Zeit. Selbst die Übersetzungen aus dem Amerikanischen verwarf Brinkmann schneidig: „Die USA –Dinger hätte ich gar nicht machen dürfen“.
Seine gesamte Prosa hatte ohnehin mit Pop nichts zu tun und nur ein kleiner Teil seiner Gedichte war davon angeregt. Gerade auch die jüngeren Studien aus der Forschung legen darauf Wert. Pop steht nicht nur in der Literatur bis heute für ein positives Weltverhältnis, für einen spielerischen Umgang mit der Realität und – vielleicht am wichtigsten – für das Hinnehmen von Konsum und Kommerz. Nichts davon passt auf Brinkmann. Die vom ehemaligen Leiter der Bibliothek Gunter Geduldig aufgebaute Arbeitsstelle Brinkmann widmet sich dieser neuen Sicht. Sie wird in dem gerade begonnenen Handbuch fortgeführt.
Entschieden modern
Sein Werk steht vielmehr im Zeichen der nachholenden Moderne. Er begann schon in der Vechtaer Zeit als Anhänger des französischen Existentialismus und kultivierte den Typ des modernen, verruchten Poeten und Bürgerschrecks. Die damit verbundene Haltung, nicht eben nur Provokation, muss man sehr ernst nehmen. In Essen und Köln konvertiert er vollends zur europäischen Moderne und begreift die Kunst in einem ganz elementaren Sinne als Erweiterung des Lebens. Deshalb überschreitet er die Grenzen von Kunst und Nicht-Kunst und beschreitet mit jedem Projekt neue Wege.
Brinkmann war einer der intensivsten Leser unserer Literatur. Es bleibt erstaunlich, was der Autodidakt alles kannte und daraus machen konnte. Allerdings kommt seine Suche nach dem wahren Leben aus einer tiefen Enttäuschung über die Welt der frühen Bundesrepublik. Anklage, Ablehnung der Realität und hoher Anspruch an eine von jedem Druck befreite Gegenwart sind die beiden Seiten seiner Haltung, die viele bis heute verstören.
Zu hoher Anspruch an „befreites Bewusstsein“
Sobald er merkt, dass die Popkultur, eben auch die von ihm so geliebten Songs, nur eine weitere Form des Massenkonsums in der damals so genannten „Unterhaltungsindustrie“ bedeutete, distanziert er sich davon. Darin unterscheidet er sich am tiefsten von der neuen, stark am Kommerz orientierten Popliteratur der letzten zwanzig Jahre. Zwar nimmt er für drei Jahre (1968 – 1970) die ästhetischen Möglichkeiten der neuen Alltagskultur auf, gestaltet sie aber um in die Forderung nach einem „befreiten“ Bewusstsein. Und die trägt er so radikal vor, dass die Zeitgenossen seiner düsteren Diagnose am Ende nicht mehr folgen.
Zurück in Vechta
Von Beginn an hat sich Brinkmann mit Vechta schwer getan. Aber durch den Hass hindurch vernimmt man auch die enge Bindung an die Region, die tatsächlich nie abriss. Nur während des Schreibens lebte er wahrhaft. In helle Erregung versetzte ihn alles, was ihn davon abhielt. Immer auf der Suche nach einer Antwort auf die eine, drängende Frage: „Wo aber ist das Leben?“ Dass er es nach so kurzer Zeit verlor, mag man als eine Ironie der Geschichte nehmen, genau wie die Tatsache, dass er am Ende nach Vechta zurückkehrte. Dem Grabstein auf dem katholischen Friedhof wurden erst 1992 ganz unten die Lettern „Rolf Dieter 1940 – 1975“ hinzugefügt. Bis dahin ruhte er anonym im Familiengrab.
Anm. der Red.: Markus Fauser ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Vechta. Gemeinsam mit Sibylle Schönborn (Düsseldorf) und Dirk Niefanger (Erlangen) gibt er das „Brinkmann Handbuch“ bei Metzler heraus.