Mal sehen

Rede zum 85. Geburtstag von Günter Grass – veröffentlicht zu seinem Tod am 13. April 2015

Von Heinrich DeteringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Detering

Es ist mir eine Ehre, hier über einen Künstler zu sprechen, mit dessen Werk ich – Jahrgang ’59 wie die Blechtrommel – erwachsen geworden bin und den ich heute meinen Studierenden zu vermitteln versuche, den ich seit dem Thomas-Mann-Preis persönlich kenne und mit dem ich in Sachen Hans Christian Andersen mit dankbarem und großem Vergnügen zusammengearbeitet habe. Das Lübecker Grass-Haus, das heute zum fünfundachtzigsten Geburtstag seines Namensgebers in neuer Gestalt eröffnet wird, zeigt die vielen Seiten eines Künstlers, der – man muss davon sprechen – in der öffentlichen Meinung der letzten Monate oft nur im Zusammenhang mit einem einzigen Thema wahrgenommen worden ist. Es ist schon erstaunlich zu sehen, wie rasch und leicht, wie schreibfederleicht sich ein Lebenswerk, das tausende von Seiten umfasst, reduzieren lässt auf einen einzigen Text – und wie man die Biographie des Autors nachträglich zusammenschnurren lassen kann auf die sechs Monate, in denen der damals Siebzehnjährige sich zur Waffen-SS hatte einziehen lassen.

In einem öffentlichen Gespräch, das ich vor genau einem Jahr in der Göttinger Universitätsaula mit ihm führte, kam Günter Grass auch auf die damals vorgebrachte Verleumdung zu sprechen, er habe deutsche Kriegsgefangene und Holocaustopfer gegeneinander aufrechnen wollen, und sagte (ich zitiere aus der Nachschrift): „Es gibt ja viele beredte Leute, auch im Bereich der Germanistik, die meine Bücher kennen. Ich wundere mich dann doch schon ein bisschen, dass im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte von dieser Seite keine Gegenstimmen kommen. Ich muss immer in eigener Sache sprechen, da ist man manchmal in einer sehr schwachen Position. Das nur als kleine Ermunterung.“ Die will ich beherzigen und daran erinnern, dass doch gerade Günter Grass zu den wenigen deutschen Schriftstellern der Nachkriegszeit gehörte, die nicht nur den Krieg zum Thema machten, sondern auch die Verfolgung und Ermordung der Juden, und die von der Begeisterung von Millionen Menschen für den Nationalsozialismus nicht nur in der dritten Person schrieben, sondern auch in der ersten Person Singular.

Es ist in letzter Zeit gelegentlich in Erinnerung gebracht worden, dass Grass nach dem Kriegsende weder gegenüber den amerikanischen Truppen noch gegenüber jüdischen Freunden und Kollegen die Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwiegen hat. Aber wie viel bedeutsamer als diese privaten Erinnerungen ist der Umstand, dass er von der Begeisterung des Hitlerjungen für Hitler, von der Verwechslung des Vernichtungskrieges mit einem Männerabenteuer, von der bedingungslosen, nichts wissen wollenden Gefolgschaft für Hitler in der Ich-Form erzählte – in einer Zeit, in der die deutsche Literatur ganz überwiegend nur das Leiden der Landser kannte und in der Exilanten wie Thomas Mann oder Willy Brandt sich auch von deutschen Schriftstellern als Vaterlandsverräter denunziert sahen. „In welchen Romanen zuvor fänden sich, über die Judenverfolgungen im Dritten Reich, Passagen wie diese – die uns schaudern machen, weil zum ersten Mal […], die Vergangenheit nicht als nationales Verhängnis verdrängt, sondern als Summe individueller Schuld, millionenfachen persönlichen Versagens verhandelt wird.“ In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war das zu lesen, 1987.

Und Grass blieb bei diesem Thema. Seine leidenschaftliche Unterstützung für Willy Brandt ist im kollektiven Gedächtnis gespeichert – nicht aber die Tatsache, dass zu den Gründen, die er selbst immer wieder dafür nannte, auch das Bemühen gehörte, aus dem moralischen Versagen des Jugendlichen, der er selber gewesen war, gegenüber dem Nationalsozialismus zu lernen. Auch die Verfolgung der Juden blieb sein Thema, in einer Zeit, in der antisemitische Tendenzen nicht nur bei der Rechten, sondern auch bei der Linken noch lange nicht verschwunden waren. Als Günter Grass 1973 in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung seine kritische Haltung gegenüber der Politik der damaligen israelischen Regierung erklärte, kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg, da verteidigte er zugleich vehement das Existenzrecht des, wie er schrieb, „kleine[n] gefährdete[n] Land[es]“ und erklärte: „Drei Mal habe ich Israel besucht; kein einziges Mal reiste ich in arabische Länder. Keines meiner Bücher war frei oder leichtfüßig genug, um das den Deutschen bis heute anhängende Verbrechen – die Vernichtung von sechs Millionen Juden – zu umgehen.“ Und wer nicht nur die Blechtrommel gelesen hat, sondern auch die Hundejahre und das Tagebuch einer Schnecke, der weiß, wie konsequent Grass bei diesem Thema blieb und wie unmissverständlich er, wo immer es um ihn selbst ging, auch die eigene frühe NS-Begeisterung als eine Ursache dieser Beharrlichkeit benannte – denn, um noch einmal seinen Artikel zu zitieren, „der Anlass macht zu betroffen, um ihn dem Plural zu überlassen.“

Als dann die Zeiten sich änderten und Teile der Linken sich soweit nach links wandten, dass sie ihrerseits totalitären Gewaltphantasien erlagen, auch da blieb der sozialistische Demokrat, der demokratische Sozialist, der public intellectual, der Bürger Grass bei seiner Sache, und das hieß für ihn: der Sache Willy Brandts, der Sache der Bürgerrechtler in der DDR, bei der freien Zivilgesellschaft und ihrer ‚Westbindung’. Es ist erstaunlich, wie über dem Streit um das Weite Feld Texte wie der von Grass initiierte Offene Brief an den DDR-Schriftstellerverband nach dem Mauerbau in Vergessenheit geraten sind, wie tief die Versenkung zu sein scheint, in der Theaterstücke wie Die Plebejer proben den Aufstand liegen. Und so könnte ich weiter aufzählen, was alles wiedergelesen zu werden verdient, was wiedergelesen werden muss aus diesem Werk der fünfziger und sechziger Jahre, in denen Grass sehr zurecht weltweit zu einem Klassiker der Gegenwartsliteratur avancierte.

Es ist leider notwendig geworden, an diese Zeit – und an Grass’ Romane, Aufsätze und Reden aus dieser Zeit – zu erinnern, weil es bei weithin verbreiteter Leseunlust üblich geworden ist, auf die Kapitel seiner autobiographischen Erzählung Beim Häuten der Zwiebel, die von der Mitgliedschaft des Jugendlichen in der Waffen-SS erzählen, so zu reagieren, als habe der Autor sich bis dahin zum gewissermaßen von Kind auf antifaschistischen Kämpfer stilisiert. Was immer ihn bewogen haben mag, nach der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Jahre lang nicht mehr von der Waffen-SS zu sprechen, sondern allgemeiner von seiner frühen Nazi-Begeisterung – dass er dies getan hat, ist so unbestreitbar wie der Umstand, dass er ja auch diese Kapitel der Autobiographie aus freien Stücken und nicht unter irgendeinem Enthüllungsdruck verfasst hat. Ganz und gar unangemessen, ja skandalös verfälschend aber scheinen mir die in letzter Zeit hier und da unternommenen Versuche, ausgerechnet den Schriftsteller Günter Grass zu einer Art lebenslänglichem SS-Mann zu erklären, ihn mit dem Stigma des Hakenkreuzes zu versehen und sein Lebenswerk als durchzogen von unterschwelligem Antisemitismus zu denunzieren. Man fragt sich, was nur seine Leser und Kritiker in aller Welt, die ihm befreundeten und ihn bewundernden Dichter von Salman Rushdie über Tadeusz Rósewicz bis zu Nadine Gordimer, was die Literarhistoriker und notabene die Jurys des Büchnerpreises, des Bremer Literaturpreises, des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, des Literaturnobelpreises und der höchsten kulturellen Auszeichnungen von Spanien bis nach Dänemark – man fragt sich, was sie alle bewogen haben mag, diese NS-Imprägnierung eines Werkes restlos zu übersehen, das sie vielmehr für ästhetisch und moralisch gleichermaßen maßgeblich hielten, weshalb sie alle den Verfasser stattdessen mit den höchsten literarischen und moralischen Ehrungen auszeichneten, die sie zu vergeben haben.

Wie weise oder wie töricht auch immer seine Ansichten über die gegenwärtigen Konflikte im Nahen Osten sein mögen (Eva Menasse hat eben davon gesprochen), wie gerecht oder ungerecht seine Meinung über die israelische Regierung, wie klug oder unklug sein Urteil über die Regierung des Iran oder sonstige politische Akteure – dass der Entstehungsgrund dieses Gedichtes, das auch mir Schwierigkeiten macht, in einem Hass auf Israel liege, in einer „Kreuzzugs“-Mentalität, gar in einem Vernichtungswillen gegenüber dem jüdischen Volk (und dies alles war ja in Print- und elektronischen Medien zu lesen), das ist so empörend ehrenrührig, oder schlichter gesagt: so unfair, dass man nicht laut genug an das Lebenswerk dieses Dichters erinnern kann. An dieses Lebenswerk, das in den fünfziger Jahren begann und an dem er zum Glück bis heute weiterschreibt.

Erstaunlich viele Grass-Kritiker der letzten Monate haben, scheint mir, die genaue Lektüre ersetzt durch Einblicke in das Unterbewusstsein des Autors und verkündet, was Grass zwar nicht gesagt habe, in Wirklichkeit aber habe sagen wollen. Eine solche Lektüre aber ist nicht falsifizierbar. Wo die Leser von vornherein wissen, was der Autor zu einem Thema nur meinen könne, da ist alles Sprechen von vornherein vergebens. Da nützt es ihm auch nichts, wenn er den israelischen Träger des alternativen Nobelpreises, Mordechai Vananu, als Vorbild für friedliebende Menschen ausdrücklich auch im Iran rühmt. Die Schwundstufe dieser Kritik hat ein deutscher Dichter formuliert, einer der besten und klügsten dieses Landes, Durs Grünbein, der seinen Beitrag zur Debatte mit dem Anraunzer beendete: „Geh weg, du Günter Grass, du!“ – als sei schon der Name ein Schimpfwort und als müsse mit dem bald Fünfundachtzigjährigen noch immer ein Generationenkampf ausgefochten werden um Geltungsansprüche und Rederecht.

Meine Damen und Herren: Günter Grass ist nicht weggegangen, er ist nicht weg. Er ist hier, er ist in einem emphatischen Sinne des Wortes gegenwärtig. Er ist ein Gegenwartsdichter geblieben, von den ersten Gedichtbänden der Nachkriegszeit – denn er war ja schon ein bedeutender Lyriker, ehe er den ersten Roman veröffentlichte – bis zu den jüngsten Romanen, Erzählungen, Gedichten, Essays. Wer Grass’ Werk in seiner Chronologie verfolgt, liest eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland von subtiler Detailgenauigkeit und, bei allem Witz und Erzählvergnügen, von bewundernswertem moralischen Ernst. Dieser Satz ist eine Binsenweisheit. Und das gilt auch für den zweiten Satz, der gleich hinzugefügt werden soll: Dieses Lebenswerk ist ein Kunst-Werk im glanzvollsten Sinne des Wortes. Nicht dass es nicht auch Schwächeres gebe und Misslungenes, nicht dass dies alles gleichermaßen meisterhaft wäre – aber wieviel wunderbar Gelungenes, wieviel Meisterhaftes gibt es da, eben weil dieser Dichter nie aufgehört hat zu experimentieren, neue Stoffe und Schreibweisen zu erproben. Man kann die Rättin für missglückt halten oder für ein aufregendes, wild-groteskes Erzählexperiment (ich neige zur zweiten Ansicht), man kann den eindringlichen Text-Bild-Kombinationen des Indienbuches Zunge zeigen aus dem Weg zu gehen versuchen – aber welche Beobachtungsenergie, welcher unbändige, die eigenen Mittel immer neu aufs Spiel setzende Ausdruckswille und welche Gestaltungskraft sind da am Werk! Wie souverän schreibt Grass in Hundejahre die Erzählkunst Jean Pauls, im Weiten Feld den Fontane und im Treffen in Telgte den Grimmelshausen fort! Und dass er mit der monumentalen Welt-Geschichte vom Butt nicht bloß sein zweites weltliterarisches Meisterwerk nach der Danziger Trilogie geschrieben hat, sondern auch das längste und wundersamste – und bei aller kompositorischen Raffinesse – vergnüglichste Kunstmärchen der deutschen Literatur, das sollte man in einer Zeit der kleinsten Informations-Bits und des kulturellen Kurzzeitgedächtnisses immer wieder laut sagen. Nicht nur weil es die Gerechtigkeit gegenüber Günter Grass gebietet, sondern auch aus ganz egoistischen Gründen: weil die Lektüre solcher Kunstwerke uns, weil sie mir soviel Leselust, soviel intellektuelle Provokation, soviel spielerische Unterhaltung bescheren kann.

Meine Damen und Herren: Der Geschichtenerzähler, der Redner und Essayist Günter Grass hat, ich sagte es schon, von Beginn an bis heute auch Gedichte geschrieben. Manche davon beziehen sich auf unmittelbar tagespolitische Fragen, viele, die meisten tun das nicht (auch im gerade erschienenen neuen Band handeln die meisten von anderen Themen). Erlauben Sie darum, dass ich nun zum Schluss von der Makro- in die Mikroperspektive wechsle und damit meine eigene Forderung beherzige, nicht nur über Grass zu reden, sondern ihn neu zu lesen. Ich wähle dazu den kürzestmöglichen Text, ein ganz kleines und wenig auffälliges Gedicht, erst ein paar Jahre alt, das ich sehr gern habe. Es exemplifiziert eine Haltung, die mir für Günter Grass soviel charakteristischer zu sein scheint als alle abziehbildhaften Verkürzungen. Das Gedicht heißt Späte Neugierde, es handelt nicht von Politik und Geschichte, sondern von der Landschaft bei Lübeck und geht so:

Die Felder kahl geschoren,
der Himmel leergefegt.
Dieses Gedicht will als Drache steigen
und Ausschau halten:
mal sehen,
ob etwas Neues über den Horizont kriecht.

Die Landschaft, die dieses Gedicht eines Zeichners skizziert, könnte eine schöne Herbstlandschaft sein, mit weiten Feldern und blauem Himmel. Aber die Felder sind „kahl geschoren“, wie ein nackter Schädel, und der Himmel über ihnen ist nicht rein und blau, sondern „leergefegt“. So jedenfalls erscheint es dem Betrachter, für den es „spät“ geworden ist, im Jahr und im Leben. Keine Heimat sieht so aus, sondern eine Welt, in der man ausgesetzt ist, verlassen und allein unterm leeren Himmel.

Aber das kann doch nicht alles gewesen sein! Wo der Betrachter sich alt und gebunden vorkommen mag, da bleibt seine Neugier immer noch beweglich. Er lässt sie in die Lüfte aufsteigen, um einen weiteren Horizont zu sehen als den engen Radius seines irdischen Blicks. Wo er selber nicht mehr weiter sieht, da hält die Phantasie Ausschau. Aber in welcher Gestalt? Als Drache. Als der Drache, den das alt gewordene Kind unverdrossen aufsteigen lässt in den leeren Himmel – und zugleich als der Drache des Märchens, der Weisheit und Weitblick verkörpert.

Und wirklich, mit ihm kommt Bewegung ins Herbstbild! Indem das Gedicht aufsteigt wie ein Drache, wird auch am Horizont, der eben noch leer war, Bewegung sichtbar. Ob da nicht doch „etwas Neues“ heraufkommt? Langsam nur, aber es „kriecht“: wie jene Schnecke, als die Grass einst den Fortschritt gemalt hat. Und der Drache, der das erblickt – er ist „dieses Gedicht“ selbst, das zwar nicht der Silbenzahl, aber der lakonischen Bildkraft nach fast ein Haiku sein könnte. Mit seiner Hilfe kann der Alte aufsteigen, fliegen, über sich selber hinauskommen. Da wird die Redensart „mal sehen“, beim Wort genommen, auf einmal zur Formel der Hoffnung. Und das ist das kleine, das beinahe himmlische Wunder der Poesie.

Lieber Günter Grass: danke für Ihre Neugier, danke fürs Ausschauhalten und fürs Aushalten, danke für Ihre Dichtung.

Anmerkung der Redaktion: Die Rede, die uns Heinrich Detering zur Veröffentlichung aus Anlass des Todes von Günter Grass überlässt, hat er am 14. Oktober 2012, zwei Tage vor dem 85. Geburtstag des Autors, im Lübecker Günter Grass-Haus gehalten, dessen zehnjähriges Bestehen mit der Eröffnung einer neuen Daueraustellung gefeiert wurde. Heinrich Detering ist Mitherausgeber einer 2013 erschienenen Dokumentation der Debatte über Grass’ Gedicht „Was gesagt werden muss“.