Eine mahnende Stimme gegen politische Abgötter
Armin T. Wegners Manifeste und offene Briefe
Von Oliver Kohns
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBerühmt ist der Schriftsteller Armin T. Wegner heute weniger für seine literarische Produktion, sondern vielmehr für seine Rolle als Zeitzeuge, insbesondere für den Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916. Wegner war während dieser Zeit als Sanitätsunteroffizier in der heutigen Türkei, in Damaskus und in Mesopotamien unterwegs und fing umgehend an, das Leiden der Armenier literarisch und fotografisch zu dokumentieren. Seine Fotografien zählen heute zu den wichtigsten Bilddokumenten des Völkermords. Nach dem Ersten Weltkrieg betätigte sich Wegner nicht nur als Bestsellerautor, sondern immer wieder auch als politischer Publizist. Er intervenierte zugunsten der Revolution von 1918, für den Pazifismus und für verfolgte Minderheiten: für die Sache der Armenier und für die Juden in Deutschland. Mutig war Wegners Entscheidung, im April 1933 einen Brief an Adolf Hitler zu schreiben – nicht ohne eine Eingangsbestätigung zu fordern –, in dem er diesen in aller Deutlichkeit auffordert, die Verfolgung der Juden zu beenden.
Unter dem Titel „Rufe in die Welt“ haben Miriam Esau und Michael Hofmann nun Wegners politische Manifeste und offene Briefe im Wallstein Verlag veröffentlicht. Der Inhalt des Bandes reicht von Wegners Aufruf zur Beendigung des Ersten Weltkriegs vom September 1914 über die Aufrufe zur Revolution aus dem Jahr 1918, die Interventionen für die Armenier und Juden aus der Zwischenkriegszeit bis hin zum offenen Brief an Gamal Abdel Nasser aus dem Jahr 1968, in dem Wegner sich für einen Frieden zwischen Ägypten und Israel einsetzt. Michael Hofmanns kurzes, aber informatives Nachwort betont, dass die Manifeste Wegners nicht an ihren konkreten politischen Konsequenzen gemessen werden dürfen: Vielmehr habe Wegner in diesen Texten seine Rolle als moralischer „Mahner“ herausgearbeitet, „der mit den Mitteln des ‚Geistes‘ in die öffentlichen Debatten eingreift“, um dort „Plädoyers für die Entrechteten und Beleidigten“ auszusprechen und sich für „eine radikale Gewaltlosigkeit und das Engagement gegen Krieg, Wehrdienst und Militarismus“ einzusetzen. Wegners politische Arbeiten würden in dieser Perspektive gewissermaßen die Position des engagierten Intellektuellen avant la lettre entwickeln.
In der Tat ist es Wegner durch seinen Anspruch auf eine moralische Leitposition des Intellektuellen gelungen, sich in bemerkenswertem Ausmaß vom politischen common sense seiner Zeit zu entfernen. Inmitten der nationalistischen Euphorie des gerade ausgebrochenen Ersten Weltkriegs appelliert er an Europa als „eine einzige, untrennbare Gemeinschaft von Völkern“. Dem weit verbreiteten Irrtum, in Adolf Hitler einen Hoffnungsträger für eine politische und moralische Erneuerung Deutschlands zu sehen, ist er nicht verfallen. Wegner war mutig genug, dies nicht nur dem neuen Reichskanzler in einem offenen Brief freimütig mitzuteilen, sondern ihn überdies zu einer radikalen Änderung seiner Einstellung gegenüber den Juden aufzufordern. Der Brief an Hitler liest sich wie eine Lektion in Kulturgeschichte, die der selbstbewusste Literat dem Politiker in mehr als zehn Druckseiten entgegenschleudert. Für den Diktator listet Wegner die wesentlichen Einflüsse der Juden für die deutsche Kultur auf und nennt die Namen von jüdischen Erfindern, Unternehmern, Wissenschaftler und Schriftstellern. Wo die Nationalsozialisten durch ihr biologistisches Denken dem Phantasma einer kompletten Separation verschiedener „Rassen“ verfallen sind, erkennt Wegner mit Blick auf die kulturelle Genealogie eine innere Verwandtschaft und Untrennbarkeit: „Denn ist nicht der Jude, dem Deutschen verwandt durch seelische Innerlichkeit und den Hang zur Grübelei, zum Träger deutscher Kultur und Sprache geworden bis tief nach Rußland hinein und in den Städten Amerikas, – er, der in allen unseren Leiden unser Bundesgenosse war?“ Es bleibt unentscheidbar, ob Wegner tatsächlich geglaubt hat, dem selbsternannten „Führer“ durch einen wohlgemeinten Brief seinen wahnhaften Antisemitismus austreiben zu können, oder ob er Hitler vielleicht wenigstens den Triumph nehmen wollte, dass niemand einen Widerspruch gegen seine Politik gewagt habe.
Angesichts des Umstands, dass der Band Texte versammelt, die zwischen 1914 und 1968 entstanden sind, fällt nicht nur die Kontinuität in Wegners moralischer Energie, sondern auch in seiner politischen Rhetorik auf. Diese ist durchgehend an der Tradition der biblischen Sprache orientiert: Man könnte sagen, Wegner übersetzt die politischen und kulturellen Themen seiner Zeit in die Sprache der christlichen Rhetorik. Das zeigt sich nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene der sprachlichen Bildlichkeit – etwa wenn die Völker Europas im Ersten Weltkrieg als kopflose „Lämmer“ bezeichnet werden –, sondern vor allem auf struktureller Ebene: Die Fanatismen und politischen Religionen seiner Zeit erscheinen Wegner durchweg als maskierte Götzen, als falsche Idole und Abgötter. Im Nationalismus des deutschen Reichs erkennt Wegner die „Tierfratzen [s]einer Gottheit“ und einen „rasenden Tanz um die Säule“ wieder, er klagt die „Anbetung vor den gestürzten Machthabern“ an und verwirft „Macht und nationale Selbstsucht“ als „verfluchte Gottheit“ und als „abscheulicher Fetisch“. Die „Presse“ erscheint als „vielmäuliges, Papier- und Druckerschwärze fressendes Ungeheuer“ und „riesenhafte Hure für jeden Gedanken“, während der „Gewinn“ im Kapitalismus zum „Götzen Europas“ wird. Die rhetorische Geste seiner Texte wiederholt, kurzum, immer wieder den heiligen Zorn Moses’ angesichts seines um das goldene Kalb herum tanzenden Volkes. Wegners politische Manifeste entwickeln, mit anderen Worten, nicht weniger als eine umfassende Kritik der politischen Theologie der Moderne aus einer Perspektive, die an die revolutionäre Politik der Puritaner des 16. Jahrhunderts erinnert (für die die Geschichte Moses’ bekanntlich eine wesentliche Inspiration war).
Die revolutionäre Konsequenz ist hier wie da radikal: Wenn es keinen Gott außer dem einen geben darf, muss jede irdische Machtentfaltung skeptisch betrachtet werden, denn sie fordert allzu leicht Götzendienst ein. Interessant ist Wegners Ambivalenz gegenüber der politischen Autorität eines Anführers. Wegners Manifest „Dem Führer!“ (aus dem Jahr 1918) verheißt sehr zeitgemäß die Prophezeiung eines kommenden politischen Anführers in expressionistischer Sprache: „Du stachelst die Trägen auf, verwirfst die Zweifelnden, machst die Furchtsamen mutig, die Stolzen schüchtern“. Nur zwei Jahre später verwirft Wegner jedoch jede Form politischer Autorität – „alle Vorherrschaft von Fürsten, Königen, Stammeshäuptern, Rittern, Plantagenbesitzern“ – als gewaltsamen Raub und Bruch des Gesellschaftsvertrags und folgert konsequent das Ende von Herrschaft überhaupt, um Gewalt abschaffen zu können. Die „Manifeste und offenen Briefe“ Armin T. Wegners lohnen eine Lektüre so nicht nur, weil der Autor sich als Zeitzeuge und Mahner beweist, sondern auch, weil sie eine radikale Kritik der modernen Politik und Kultur im Geiste des revolutionären Puritanismus unternehmen.
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