Ein Gewinn für interdisziplinäre Studien

Kersten Sven Roth entwirft eine pragmatisch-interaktionale Diskurssemantik

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits der Titel Diskursrealisationen. Grundlegung und methodischer Umriss einer pragmatisch-interaktionalen Diskurssemantik verdeutlicht den akademischen und spezifisch sprachwissenschaftlichen Hintergrund der vorliegenden, überarbeiteten Fassung der 2012 von der Universität Zürich angenommenen Habilitationsschrift von Kersten Sven Roth. Zwar versprechen die Häufung der Fremdwörter und insbesondere die zweifache Verwendung des Begriffes „Diskurs“ in den Komposita keine leichte Lektüre. Indessen können nicht nur dezidierte Sprachwissenschaftler dieses Buch mit Gewinn lesen. Der komplexe Titel verweist auf Roths doppeltes Anliegen: Ihm geht es darum, die theoretische Basis einer diskurspragmatischen Forschungspraxis für die Methode der Analyse von teilnehmerorientierten Realisationen von Diskursen (abgekürzt als TOR) zu schaffen, die er anschließend in der Praxis erprobt.

Die teilnehmerorientierte Realisation eines Diskurses ist nach Roth gekennzeichnet durch das interaktionale Gespräch (Face-to-Face-Kommunikation), welches zu einem Thema nichtöffentlich stattfindet. In den Gesprächen bringen die Teilnehmer gemeinsam subthematische Sachverhalte zur Sprache und handeln sie aus; sie realisieren so ihr diskursives Wissen. Die teilnehmerorientierte ist von der massenmedialen Diskursrealisation abzugrenzen, wobei es in den jeweiligen Realisationen eines Diskurses zu Interferenzen kommen kann.

Als Grundlage für die Konzeptionierung der TOR-Analyse entwickelt Roth eine schlüssige Theorie einer pragmatisch-interaktionalen Diskurssemantik, für die er den diskursgrammatischen Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand um den diskurspragmatischen ergänzt und mit der Rhetorik, interaktionslinguistischen Semantikforschung sowie Critical Discourse Analysis vergleicht. Dabei arbeitet er vor allem die Gemeinsamkeiten der Theorien heraus, die er produktiv in seine Grundlegung einbringt.

Für die diskurspragmatische TOR-Analyse unterscheidet Roth fünf Ebenen, denen er jeweils eine Leitfrage und ein Phänomen zuordnet. So beginnt die Untersuchung mit der Sektorenanalyse, die die subthematischen Aspekte erfasst, umreißt und kartiert, also nach ihrer zentralen oder peripheren Bedeutung im Gespräch ordnet und auf einer Diskurskarte verzeichnet. Die Untersuchung der Sektoren impliziert auch die Latenzanalyse, die nach dem Ungesagten fragt.

Die Sektorenanalyse bildet das Fundament und die Analysestruktur für die weiteren Arbeiten. Die anschließende Aussagenanalyse untersucht die Manifestation von Inhalten (das Was) innerhalb einer Einheit beziehungsweise eines Sektors. Roth geht hier exemplarisch auf die argumentative Inkonsistenz sowie die Aussageschichten in den Beiträgen ein. Die folgende Formatanalyse fragt nach dem Wie. Roth zeigt am Beispiel der Phraseologie und der pronominalen Referenz, „wie die konkreten Versprachlichungsweisen diskursiven Wissens von konkreten interaktiven Bedürfnissen und Verläufen abhängen“. Die Handlungsanalyse beschäftigt sich mit dem interaktionalen Potenzial und fragt nach der Funktion, mit der etwas gesagt wird. Die abschließende Interferenzanalyse geht über die TOR-Analyse hinaus, da sie untersucht, inwiefern massenmediale die teilnehmerorientierten Diskursrealisationen konstituieren.

Um die TOR-Analyse durchführen zu können, wurde sechs Gruppen die Aufgabe gestellt, innerhalb von 20 Minuten über die „Deutsche Bahn“ einen durchaus subjektiven dreiminütigen Meinungsvortrag zu erstellen. Den Gruppen wurde nur der Gegenstand als Thema genannt, die einzelnen subthematischen Aspekte mussten die Teilnehmer aushandeln. Der alltägliche Gegenstand erwies sich dabei als äußerst tragfähig, um ein aussagekräftiges Korpus für die TOR-Analyse zu gewinnen.

Die pragmatisch-interaktionale Diskurssemantik Roths leistet mit ihrer Methode der TOR-Analyse einen wichtigen Beitrag für die Untersuchung und Reflexion von teilnehmerorientierten Gesprächen. Während Roth für seine Untersuchung mit dem Thema „Deutsche Bahn“ einen alltäglichen Gegenstand wählte und eine künstliche Gesprächssituation herbeiführte, die allenfalls als Testlauf für seine Konzeption anzusehen ist, verspricht das Verfahren der TOR-Analyse zu produktiven und erhellenden Ergebnissen zu führen, wenn es auf „reale“ Gesprächssituationen angewendet wird. Roth entwickelt seine pragmatisch-interaktionale Diskurssemantik zwar aus der Perspektive des Sprachwissenschaftlers mit der entsprechenden Fachsprache der Linguistik, dennoch weiß er präzise und schlüssig seine Gedanken und Argumentationen auszuführen, so dass sein methodischer Umriss mit Gewinn für interdisziplinäre Studien (etwa im Verbund mit der Sprachdidaktik, Pädagogik, Psychologie, Politik oder Wirtschaftswissenschaft) genutzt werden kann.

So dürfte die TOR-Analyse etwa für die Untersuchung von Beratungs-, Planungs- und Unterrichtsgesprächen von großem Interesse sein, um zu rekonstruieren, wie diskursives Wissen geäußert, ausgehandelt und akzeptiert wird. Allerdings sollte man dann noch stärker die Teilnehmer und ihre Rolle, Position und ihren Anteil im Gespräch in den Blick nehmen, als das bei Roth geschieht, um etwa die Gründe für die Annahme von strittigen Aussagen oder inkonsistenten Argumentationen ermitteln zu können. Außerdem sollten Metakommunikation und Gesprächsorganisation, die Roth als nicht-thematisch ansieht und daher nicht in das Sektoreninventar aufnimmt, ebenfalls berücksichtigt werden, da durch jene eine Strukturierung und Kartierung des Gesprächs und Möglichkeiten der Ordnung von Wissen seitens der Teilnehmer offenbar werden können.

Titelbild

Kersten Sven Roth: Diskursrealisationen. Grundlegung und methodischer Umriss einer pragmatisch-interaktionalen Diskurssemantik.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
392 Seiten, 79,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155453

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