Nichts als Gerede

David Graeber und Tomáš Sedláček verkennen das Wesen des herrschenden Systems – folglich gehen ihre Analyse und ihre Lösungsvorschläge fehl

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haben Sie auch manchmal das Gefühl, dass diejenigen, die am meisten von einem System profitieren, genau die sind, die es am stärksten kritisieren? Dass den Kapitalismus zu kritisieren derart zum guten Ton gehört, dass es wirtschaftlich nachteilig wäre, ihn zu loben? Zumindest auf dem Sachbuchmarkt scheint das zurzeit der Fall zu sein: Titel wie „Freiheit statt Kapitalismus“ (Sahra Wagenknecht), „23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“ (Ha-Joon Chang) oder „Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ (Naomi Klein) werden nachgefragt wie nie zuvor. Ihr gemeinsames Credo: Der Markt hat versagt. Und so hat auch der Hanser Verlag, der die Gesetze des Buchmarkts kennt und nutzt wie kein zweiter, den Titel des neuen Buches von Tomáš Sedláček und David Graeber ebenso frei wie geschickt aus dem Tschechischen übersetzt. Führte das längere Interview, das Roman  Chlupatý  mit den beiden Bestsellerautoren 2013 geführt hat, noch zurückhaltend den Begriff „System“ im Untertitel, fragt die deutsche Ausgabe gleich doppelbödig nach dem „Ende des Kapitalismus“. Ein Reizwort, mit dem sich Käuferkreise erschließen lassen – geradezu ein ungeschützter Markenname. 

Verständlich – ist doch nicht nur das Krisengefühl in den letzten Jahren virulent geworden, sondern auch die Suche nach Lösungen und Wegen aus der Krise – derart virulent, dass eine gründliche Terminologie da nur stören würde. Dass dem Mainstream dabei nur die eine Vokabel, das ‚K-Wort‘, geblieben ist, um das herrschende System zu beschreiben, ist allerdings Ausdruck der Hoffnungslosigkeit allen Disputierens über die wirtschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit unter den Menschen. Denn Folge einer falschen Situationsbeschreibung ist freilich immer eine irrige Ursachenanalyse.

„Der Markt ist frei“, so lautet wohl das erste und wichtigste Fehlurteil, das das Gros der Kritiker fällt, resultierend in einem fehlgeleiteten Nachdenken über Gründe für die Misere, der freie Markt produziere durch seinen Mechanismus Ungleichheiten, sowie in einer immer wieder gehörten, deswegen aber nicht weniger hanebüchenen Folgerung, der freie Markt müsse (vom Staat) beschnitten werden, damit die unnatürlichen Ungleichheiten, die aus ihm entstanden sind, wieder zu Verhältnissen der Gleichheit und Gerechtigkeit modelliert werden. Ein hehres Ziel, weswegen es umso schwerer fällt, die so argumentierenden Kritiker zu kritisieren: Für sie ist das herrschende System eben der Kapitalismus, sie kennen keinen anderen Begriff, und so muss für sie dem Kapitalismus Einhalt geboten werden. Auf die Annahme, selbst in westlichen, liberalen Gesellschaften gebe es gar kein kapitalistisches System, da mit Staatsquoten von 50 Prozent, Steuern und Abgaben von bis zu zwei Dritteln des Einkommens und einem täglich gepflegten, blühenden Garten des Lobbyismus und der Korruption wohl eher „Korporatismus“ der Begriff der Wahl sein müsste – auf diese Annahme kommen weder die Occupy-Aktivisten von der Straße noch ihre namhaften „Vordenker“ – nicht Naomi Klein, nicht Thomas Piketty, nicht Joseph Stiglitz, und eben auch nicht Tomáš Sedláček und David Graeber.

Dies beweisen die beiden in dem durch ermüdende Einmütigkeit geprägten Interview, dessen einziger Dissens sich in den beiden titelgebenden Stichworten zusammenfassen lässt: Revolution? (Graeber plädiert für die Abschaffung der staatlichen Institutionen, will jedoch direkte Demokratie und eine andere Wirtschaftsweise, offenbar eine „mit menschlichem Antlitz“, einführen.) – Oder Evolution? (Für Sedláček liegt die Schuld, das Unmoralische bei den Institutionen, man müsse „nur“ die Institutionen reformieren, schon gesunde das System.)

Es ist mit diesem Buch wie mit der Mehrzahl derzeitiger kapitalismuskritischer Publikationen: Es verkennt den Einfluss des Staates auf den Markt, und das sogar, obwohl Graeber und Sedláček sich über das Geldsystem so ihre Gedanken machen. Darin zumindest sind sie, vor allem der Anarchist Graeber, der mit seinem 500-Seiten-Wälzer über „Schulden“ zurecht für Furore gesorgt hat, den üblichen Verdächtigen unter den sogenannten „Star-Ökonomen“ voraus; ist das Geldsystem mit seiner heimlich, still und leise umverteilenden Macht durch ungezügelte Papiergeldproduktion aus dem Nichts doch wie ein Zauberschleier, der den Kritikern die Sicht auf die eigentlichen Ursachen verhängt. Und doch – Graeber und Sedláček erkennen nicht, dass es dank dem staatlichen Geldmonopol, das den Akteuren auf den Märkten gar keine Freiheit in der Wahl der wichtigsten Ware lässt und sie gleichzeitig durch Inflation enteignet, überhaupt keine freien Märkte geben kann. Dass also ihr ganzes Gerede über moralische Kategorien und ökonomische Modelle nichts anderes ist als das: Gerede. Schnell sind sie mit einer ausufernden Metaphorik zur Hand, die man eher aus der Agitation kennt und die der Klarheit des Denkens nicht eben förderlich ist. Von Vampiren ist da die Rede, von Frankensteins Monster, und, wie könnte er fehlen: vom Bullen, denn sein aggressiv-unberechenbares Verhalten soll als Sinnbild für das Gebaren eines ungezügelten Marktes dienen. Dass so unsauberes Denken und bildhaftes Sprechen zu wohlfeilen Slogans und voreiligen Fehlschlüssen führt, aber nicht zu tieferen Erkenntnissen, beweisen die beiden Interviewpartner aufs Trefflichste. 

Das gelingt ihnen mit Sottisen oder gut gemeinten Allerweltsphrasen wie den folgenden:

– „Man benötigt eine Art von systemischer Gewalt, weil [sic!] ein lebendiger Bulle, der nicht eingezäunt ist, einen schrecklichen Gewaltausbruch verursachen könnte.“ (Sedláček im bewährten Dreischritt: irrige Analyse, ungenaue Terminologie und fehlgeleiteter Lösungsansatz.)

– „Es ist effizienter, wenn der Markt keine Rolle spielt [sic!!]. Die meisten Systeme sind effizienter, wenn sie nicht effizient sind.“ (Sedláček )

– „Das Revolutionärste besteht darin, eine Gemeinschaft aufzubauen, die auf dem Prinzip der revolutionären Güte beruht, in der die Menschen einfach nur [sic!!!] besonders gütig, nett und hilfsbereit zueinander sind.“ (Graeber)

Erstaunlich – ohne auf 144 Seiten auch nur ein einziges Mal einen freien Markt beschrieben zu haben (wie auch?), ist und bleibt die Wahnvorstellung: Freie Märkte sind wie Frankensteins Monster. Und es ist und bleibt die Lösung: Jemand muss uns vor dem Monster schützen. Sedláček ist mit Forderungen zurückhaltender, will als „Reformkapitalist“ jedoch Chaos um jeden Preis vermeiden. Bei Graeber klingt es hingegen so: Wir müssen eine Alternative schaffen, die aufzeigt, wie man die Dinge organisieren kann. Wenn es nicht der freie Markt sein kann (ergo: die Menschen, die aus freien Stücken und zu wechselseitigem Vorteil Verträge miteinander eingehen), dann muss es wohl jemand sein („die Mehrheit“, die Regierung, Experten …), der die höhere Einsicht in die bessere Organisationsweise hat und mit mehr oder weniger Nachdruck durchsetzt. Aber das sagt Graeber wohlweislich nicht. 

Aber erstaunlich ist es doch. Zwar ist die Fragestellung des Interviewers Chlupatý zeitweilig voreingenommen („Wie kann man die Menschen vor den negativen Effekten der Märkte beschützen?“ – als wäre es der Markt und nicht der Staat, der die Menschen zwingt, Produkte zu kaufen oder ihr Eigentum herzugeben), doch vor allem Graeber beschreibt Ansätze des Korporatismus immer wieder zutreffend. So spricht er von Korruption und Bestechung, die als „Wahlkampfspende“ legalisiert wurden, von einer Verschmelzung des wirtschaftlichen und des politischen Systems, davon, dass „die Kapitalisten im Zusammenwirken mit der Regierung die Richtung der staatlichen Innovationsförderung bestimmen“; und auch Sedláček  spricht in helleren Momenten von der Sozialisierung der Verluste von Banken und Versicherungen. Dann aber, als unterlägen beide einem Sprachzauber, nennen sie das ganze „moderner Kapitalismus“. Sedláček versteigt sich sogar zu der absonderlichen Behauptung, der Markt funktioniere, wenn „General Motors bankrott geht“ und der Staat als Retter einspringt. Bei einer solchen Unfähigkeit zu terminologischer Schärfe sind stichhaltige Lösungsvorschläge nicht zu erwarten. Es bleibt der Verdacht, dass auch der Kritiker einfach zu sehr vom System profitiert, als dass er es bei seinem wahren Namen nennen wollte. Wer solche Systemkritiker hat, muss sich um die Zukunft des Systems wahrlich keine Sorgen machen.

Titelbild

David Graeber / Tomás Sedlàcek: Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?
Gespräch mit Roman Chlupatý.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans Freundl.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
144 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783446443044

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