Mehr als Hofberichterstattung

In „Ungleiche Gleichgesinnte“ erörtert Gerrit Brüning die „Beziehung zwischen Goethe und Schiller 1794-1798“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller sind die Royals des germanistischen Hofberichterstattungsboulevards. Wer wann wie auf wen zugekommen ist, wer der Gebende, wer der Nehmende des Verhältnisses war, wie es um die gemeinsamen und adoptierten Kinder (Xenien, Wilhelm Meister, Kraniche des Ibykus und wie sie alle heißen) steht, all das sind Fragen, mit denen man sich immer wieder gerne beschäftigt. Die Regenbogenpresse wird nicht müde zu fragen: Waren sie befreundet? Oder nur Kollegen? Hat es zwischen ihnen, rein intellektuell natürlich, gefunkt – oder ist es nur eine Zweckgemeinschaft gewesen?

Als vor ein paar Jahren Rüdiger Safranskis Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft herauskam, schien alles gesagt. Immerhin brachte dieses Buch die Angelegenheit auf einen 300-seitigen Punkt und verfiel dabei weder ins unangemessen Biografistische noch ins abschreckend Philologische. Was könnte Gerrit Brüning mit seiner Dissertation zu den Ungleichen Gleichgesinnten also leisten, was nicht schon geleistet worden ist?

Die Antwort lautet: Allerhand! Denn während Safranski mit der Geste des souveränen Erzählers Menschliches und Literarisches verquickt, fröhnt Brüning der Andacht zum Unbedeutenden und vertieft sich in die einzigen wirklich relevanten, da einzig unmittelbaren Zeugnisse dieser Dichterfreundschaft: die Briefe. Das Ergebnis dieser Achtsamkeitsübung räumt mit manchem Irrtum der bisherigen Forschung auf und zeigt gleichzeitig, zu welchen herausragenden Ergebnissen eine echte Briefphilologie gelangen kann.

Dabei ist die im Titel anklingende Erkenntnis noch die uninteressanteste, die sich dem Leser bietet. Denn ob Goethe und Schiller nun „Geistesantipoden“ waren oder „ungleiche Gleichgesinnte“ ist letzten Endes völlig unwichtig. Was zählt, sind ihr Gedankenaustausch und ihre Zusammenarbeit, sind die gemeinsam bestrittenen oder gegenseitig befeuerten Projekte. Kein unvoreingenommener Leser des Briefwechsels wird leugnen wollen, dass hier ein aufrichtiger Respekt und eine echte Wertschätzung des jeweils anderen zum Ausdruck kommt.

Mit der Unvoreingenommenheit, das ist eine der wichtigeren Leistungen von Brünings Arbeit, ist es allerdings oft nicht so leicht. Gerade für die Goetheforschung wirkt es entlarvend, wenn der Autor sich den Beginn des Briefwechsels im Kontext der Horen und des Wilhelm Meister ansieht. Was wurde da nicht alles behauptet: Der ‚Weltgeist‘ Goethe habe mit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten den Schillerʼschen Plan, die aktuelle Politik aus der Zeitung fernzuhalten, unterwandern und bloßstellen wollen. Und später, als sich der starrköpfig-frostige Idealist Schiller in den Roman des lebensvollen Realisten Goethe einmischen wollte, habe dieser die absurden Forderungen des Ästhetikers mit der Souveränität des geübten Romanciers unter den Tisch fallen lassen.

Im Kontrast mit Brünings nüchtern-präzisem Stil klingen die Zitate aus der Goethephilologie schrill und peinlich, gerade so, als müsse man den Liebling vor bösen Geistern schützen. Noch peinlicher wird dies dadurch, dass die Vorwürfe völlig haltlos sind. Im Falle der Unterhaltungen hätte schon ein Blick auf die Chronologie genügt: Als Goethe den Text schrieb, wusste er noch nichts von der programmatischen Ausrichtung der Horen, deren berühmte Ankündigung Schiller erst Monate später schrieb und dem Weimarer Genius übersandte. Vom trickreichen Ausbooten des Herausgebers durch den Beiträger kann hier also gar keine Rede sein, zumal – auch darauf weist Brüning hin – der Ausschluss des Politischen kein kategorischer war, sondern nur ein gradueller: Die Horen sollten keine Tagespolitik machen, konnten aber sehr wohl ,politisch‘ sein, wenn es angebracht war. Die Briefe über die ästhetische Erziehung sind dafür das beste Beispiel.

Das Kapitel über Schillers Beitrag zum Wilhelm Meister ist neben dem Gegenstück zu Goethes Rolle bei der Entstehung des Wallenstein das umfangreichste und sicherlich wichtigste der Arbeit.Denn mit einer beeindruckenden und jedem zur Nachahmung empfohlenen Gründlichkeit prüft Brüning, auf welcher Grundlage Schiller wann welche Forderung an den Meister stellte. Dafür untersucht er sogar ein Manuskript des achten Kapitels und weist die von Schiller vorgenommenen Anstreichungen nach, aus denen sich ein konkreter Eindruck von dessen Redaktionstätigkeit gewinnen lässt. Und siehe da – nahezu alles, was Schiller vorgeschlagen hat, ist von Goethe übernommen worden, entweder ausdrücklich oder stillschweigend. Hinter dieses Kapitel wird man in der Forschung zu Goethes Roman nicht mehr zurückgehen können, und fast wünschte man, Brüning hätte seine Ergebnisse separat publiziert, um mehr Aufmerksamkeit für sie zu erreichen.

Gleiches gilt für das Wallenstein-Kapitel, in dem ersichtlich wird, dass Goethe im Gegenzug nicht so viel mitredete wie Schiller. Gerade diese Differenz, so der Autor, ist kennzeichnend für das Verhältnis, denn Schiller habe sich während all der Zeit intensiver mit Goethe und dessen Werk befasst als umgekehrt. Die dreifache Ungleichheit nach Alter, sozialem Stand und literarischem Ruhm habe Schiller immer akzeptiert und nie absichtsvoll überspielt, während Goethe – noch ein Schlag ins Gesicht seiner vermeintlichen Verteidiger – sich stets bemüht zeigte, die Differenzen zu überwinden oder wenigstens zu verdecken.

Mit dem Wallenstein beendet Brüning seine Untersuchung des Briefwechsels – kein Wunder, verflacht der schriftliche Austausch nach 1798 wegen der häufigeren Besuche und des Umzugs Schillers nach Weimar zunehmend. Den Schluss seiner Arbeit bildet allerdings ein Kapitel zu Goethes später Erzählung Glückliches Ereignis, in der er bekanntlich das Treffen mit Schiller in Jena und die ihre Freundschaft begründende Diskussion um Erfahrung und Idee verarbeitet. Was jedem zum kritischen Denken geschulten Germanisten klar sein sollte, macht der Autor hier noch einmal überdeutlich: Das Glückliche Ereignis ist kein historischer Tatsachenbericht, sondern eine autobiografisch durchwirkte Fiktion.

Erkennbar wird das bereits daran, dass sich kein passender Termin für die Versammlung der Naturforschenden Gesellschaft finden lässt. Wann genau sollte die Begegnung also stattgefunden haben? Auch die Vorgeschichte passt nicht, leugnet der Erzähler doch, Schiller vor diesem Tag in besonderer Weise wahrgenommen zu haben, während Begegnungen beider seit 1788 verbürgt sind. Man wird also aufhören müssen, die Legende vom Streit um die Urpflanze unkommentiert weiterzuerzählen. Stattdessen sollte man sich lieber auf das konzentrieren, was man hat, und den Briefen größere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dann wäre Schluss mit der Hofberichterstattung und dem Gezerre um Freundschaft oder Feindschaft, um Zusammenarbeit oder Konkurrenz – es stünde schließlich schlecht um die Textwissenschaft, wenn sie ihre Texte verleugnen würde. Brünings Monografie leistet dazu, ganz souverän, einen wichtigen Beitrag.

Titelbild

Gerrit Brüning: Ungleiche Gleichgesinnte. Die Beziehung zwischen Goethe und Schiller 1794-1798.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
360 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316386

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch