Auf den Spuren des Vaters

In „Verraten“ erzählt der in den USA lebende Ha Jin die Geschichte eines chinesischen Topspions

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lilian Shang ist die Tochter eines chinesischen Topspions in den USA. Von 1949 bis zu seiner Verhaftung 1980 arbeitete Gary Shang als Maulwurf in der CIA. Parallel zu seinem Aufstieg in der Hierarchie des amerikanischen Geheimdienstes stiegen auch Rang und Ansehen des Mannes in seiner Heimat. Dass er dort, neben seiner amerikanischen Familie, in der Lilian als Garys Tochter aufwuchs, noch eine zweite Familie besitzt, ahnt in den USA allerdings niemand. Erst als die Historikerin Lilian nach dem Tod beider Eltern die Tagebücher ihres Vaters zugeschickt bekommt und sich in sie vertieft – das FBI hatte die sechs Bände zusammen mit sämtlichen anderen Schriftstücken des enttarnten Agenten beschlagnahmt –, erkennt sie, in welchem Zwiespalt dieser Mann fast sein gesamtes Leben verbringen musste. Und weil sie die Chance hat, einen ihrer Geschichtskurse als Gastdozentin an einer Pekinger Hochschule anzubieten, nimmt sie die Gelegenheit wahr, die verborgene Geschichte ihres Vaters vor Ort zu erforschen.

Ha Jin wurde 1956 als Jin Xuefei in China geboren. Um zu studieren, verließ er 1985 sein Vaterland und ging in die USA. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 brachte ihn dazu, China für immer den Rücken zu kehren. Seit 1997 ist er amerikanischer Staatsbürger. Der preisgekrönte Autor, der zu den wichtigsten Stimmen in der amerikanischen Gegenwartsliteratur gezählt wird, unterrichtet heute Englische Literatur an der Boston University. Seine „chinesische Vergangenheit“ spielt bei seinem Schreiben aber weiterhin eine große Rolle. In dieser Beziehung ist er dem Mann, dessen Schicksal er in seinem 2014 erschienenen Roman „Verraten“ beschreibt, nicht unähnlich: Beide leben sie zwischen zwei Heimatländern, zwischen dem, welchem sie von Geburt an zugehörten, und jenem, in das sie später – der eine freiwillig, der andere mit einem politischen Auftrag ausgerüstet – emigrierten.

Has 2008 erschienener Essay „The Writer as Migrant“ (ins Deutsche 2014 ebenfalls von Susanne Hornfeck unter dem Titel „Der ausgewanderte Autor. Über die Suche nach der eigenen Sprache“ übertragen)  lässt keinen Zweifel daran aufkommen, wie problematisch und frei von allen überlieferten Klischees dieser Autor das Schicksal von Emigranten zwischen den Kulturen sieht. Wobei bei einem Spion wie Gary Shang noch einmal eine ganz eigene Dimension zu dieser Problematik hinzukommt. Denn Gary ist zum Schweigen verpflichtet. Niemand darf ihm auf die Schliche kommen. Die Dienste des seit den 1950er-Jahren zunächst als Dolmetscher, später in immer vertrauensvolleren Positionen von der CIA beschäftigten Mannes werden von beiden Seiten gut bezahlt, verlangen ihm aber auch absolute Geheimhaltung ab. Das ist für einen Spion nichts Ungewöhnliches. Für einen Mann, der eine Frau und Kinder in China ebenso wie eine Frau und eine Tochter in den USA hat, bedeutet es jedoch eine Anstrengung, an der Shang letzten Endes zerbricht.

Ha Jins Roman verfolgt in sich einander abwechselnden Kapiteln den Werdegang Gary Shangs bis zu seiner Enttarnung und Verhaftung samt dem sich anschließenden Prozess, in dem der Agent zu 121 Jahren Gefängnis und drei Millionen Dollar Geldstrafe verurteilt wird, sowie die Suche der Historikerin Lilian Shang nach Garys – und ihrer – chinesischen Familie. Dabei erfährt der Leser aus den Kapiteln, in denen die Entwicklung von Lilians Vater zum Topspion aus der Perspektive von dessen Tagebüchern verfolgt wird, viel über die wechselvolle Geschichte Chinas und seines Verhältnisses zu den Weltmächten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Die Gegenwartskapitel hingegen zeigen die sich im sämtliche Lebensbereiche erfassenden Wandel befindliche chinesische Gesellschaft von heute.

Der ‚Beruf‘ des Spions wird dabei weitestgehend entmythologisiert. Gary Shang ist kein James Bond. Er weckt keine „Schläfer“, leert keine „toten Briefkästen“, schaltet niemanden aus, wird in seiner Jahrzehnte andauernden Karriere weder in wilde Schießereien noch Blechschäden verursachende Verfolgungsjagden verwickelt. Wenig spektakulär geht er seiner Arbeit nach, wird befördert und belobigt, kümmert sich um seine Familie, legt sich eine Geliebte zu – über die seine Tochter nach dem Tod ihrer Mutter Nellie zum ersten Mal von ihren chinesischen Halbgeschwistern erfährt – und liefert Informationen an seine Auftraggeber in Fernost. Wenn er dabei in Konflikte gerät, dann vor allem mit sich selbst, seiner Identität und Zugehörigkeit. Helfen kann ihm in dem Dilemma, in dem sich sein Leben befindet, freilich niemand. Denn ganz egal, für welche Seite er sich schließlich auch entscheiden würde – jede dieser Entscheidungen für das eine beinhaltete zur gleichen Zeit auch den Verrat am anderen.       

In seinem Essay „Der ausgewanderte Autor“ schrieb Ha Jin 2008: „Historisch gesehen war es immer die Einzelperson, die dem Vorwurf des Landesverrats ausgesetzt wurde. Doch warum sollten wir den Spieß nicht einmal umdrehen und dem Land vorwerfen, dass es jemand verraten hat? Die meisten Länder begehen notorisch Verrat an ihren Bürgern.“ „Verraten“ liest sich wie der in die Geschichte eines Lebens umgesetzte Beweis zu dieser These. Gary Shang wird zwischen den beiden Existenzen, die er führen muss, obwohl sie sich eigentlich gegenseitig ausschließen, letzten Endes zerrieben. In den Recherchen seiner Tochter wird dem Mann erst nach seinem Tod Gerechtigkeit zuteil. Und mit ihren Reisen nach China versucht die Historikerin Lilian wieder zueinander zu bringen, was das Doppelleben ihres Vaters einander immer mehr entfremdet hatte.      

Titelbild

Ha Jin: Verraten. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck.
Arche Verlag, Zürich 2015.
366 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783716027257

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