Spiel nicht mit den Schmuddelkindern …

Selten war ein Mord so nebensächlich wie in Andrea Maria Schenkels Roman „Täuscher“

Von Pepe DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pepe Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die frühen 1920er-Jahre waren in ganz Deutschland eine Zeit des ständigen und oft gewaltsam herbeigeführten Umschwungs. Und das nicht nur in Berlin: Auch im Süden waren die Wogen der formell wie schlagend geführten Kämpfe zu spüren. Das Frauenwahlrecht stand noch auf jungen Füßen, der Freistaat war nur wenige Tage älter. Gerade erst hatte Kurt Eisner das herrschende Königshaus der Wittelsbacher für abgesetzt und den Staat frei von der Monarchie erklärt, da wurde er nur wenige Monate später von einem nationalistischen Studenten auf offener Straße erschossen. Die politische Spannung infolge des entstandenen Machtvakuums glich einem Pulverfass: Politische Interessengruppen kämpften rhetorisch um die Legitimation zur Regierungsbildung und militärisch um die Durchsetzung ihres Machtanspruchs. Die in Bayern kurzzeitig herrschende Räterepublik wurde mit aller Gewalt niedergeschlagen – ihre Anhänger und viele, die man schlicht der Anhängerschaft beschuldigte, fanden vor Standgerichten den Tod oder wurden zu langen Haftstrafen verurteilt.

Die historisch-politischen Wirren dieser Zeit bilden die stille Grundierung von Schenkels Plot um einen Doppelmord im bayerischen Landshut des Jahres 1922: Eine ledige Musiklehrerin und ihre bettlägerige Mutter werden Opfer eines Raubmords. Die Beute: der Familienschmuck. Die Stadt: in Aufruhr. Denn allein der Umstand einer so schaurigen Attraktion genügt, auf dass vom örtlichen Tagelöhner bis zum Kleinbürger wortreiche Einigkeit herrscht, wohin der schleichende Sittenverfall sichtlich führe. Hinzu kommt der Stand des Hauptverdächtigen. Als Sohn eines wohlhabenden Fabrikbesitzers steht der namensgebende Hubert Täuscher nicht nur für die Fehlbarkeit einer stets als tadellos deklarierten Oberschicht, er bietet auch die willkommene Ableitung für verhohlene Klassenwut und Sensationsgier einer Menge, die den Prozess am liebsten soweit kürzen würde, auf dass er gleich ganz ausfällt. Folglich wird das Ende der Ermittlungen auch gar nicht erst abgewartet, das Urteil wird prompt gefällt und ist drastisch. Im Auge der Allgemeinheit steht es da schon lange fest.

Andrea Maria Schenkel ist mittlerweile bekannt für die kriminalliterarische Verarbeitung tatsächlicher Begebenheiten. Ihr Erstling und bis heute größter Erfolg Tannöd basiert auf Akten und Prozessdokumenten eines ungeklärten Mordfalls im heutigen Waidhofen, ebenfalls in Bayern. Beide Morde, der an den Bewohnern des Hofes Hinterkaifeck und der in Landshut, fanden beinahe zur selben Zeit statt. Doch anders als bei ihrem Debut verwendet Schenkel in Täuscher eine gänzlich andere Tonlage, verschiebt Dialoge bisweilen nah an die Grenze zum Possenhaften, ohne ins Lächerliche abzugleiten. Dabei verlangt sie den Lesern vor allem zu Beginn einiges an Durchhaltevermögen ab, denn die Zermürbung, die etwa der Landshuter Kriminaloberwachtmeister erfahren muss, als ihm zwei ältere Damen redselig von verdächtigen Eindrücken im Wohnhaus der Opfer berichten, überträgt sich auf den Leser. Ein emotionaler Übersprung, der sicher kein Teil eines Immersions-Konzepts ist: Lesern auf die Nerven zu gehen, weil eine der Figuren dies ebenso durchmacht, wäre kein produktiver Ansatz.

Das detaillierte Bild der Figuren, ihre Sicht auf das Geschehen und damit zugleich auf die Welt lebt aber von vermeintlich belanglosen Tratschereien und Gehässigkeiten, die einer über den anderen verbreitet. Die merkliche Ambivalenz von Hörigkeit einer strengen sozialen Hierarchie gegenüber und dem stillen Wunsch nach einem strauchelnden Mitglied der Oberschicht ist hierbei ein wichtiger Mosaikstein im Bild des Doppelmordes: Die gesellschaftliche Stellung einer Person kann großes Gewicht haben, das Momentum einer bewegten Masse unterschiedlicher Interessengruppen, deren Laune auf Strafe schnell Verlangen wird, wiegt mehr.

Dass die Handlung chronologisch hin- und herspringt, zwischen den Tagen vor der Tat, den Tagen danach und dem wenig später stattfindenden Prozess, erhöht die Spannung nur marginal. Überhaupt ist Täuscher eine selten unspektakuläre Mordgeschichte, das Verbrechen selbst beinahe ein Nebenschauplatz. Die Bluttat ist vielmehr der Klang eines Echolots: Einmal gesendet, macht er das ungeschönte Wesen seiner Umgebung sichtbar. Im Durcheinander der unterschiedlichen Gespräche, Aussagen und Mutmaßungen wird so deutlich, wie weit die Perspektive auf das eigene Leben und die Wahrnehmung anderer desselben auseinandergehen können. Wenn der vermeintliche Täter Hubert Täuscher seinen Wünschen einer Karriere als Filmschauspieler abseits des familiären Betriebs nachhängt, ist das für ihn ein ernstzunehmendes Ziel. Für viele andere jedoch nur das eskapistische Hirngespinst eines arbeitsscheuen Hallodris. Überhaupt haben die modernen Lichtspielhäuser, in denen er gerne seine Zeit verbringt, Symbolcharakter. Denn nicht etwa das Kino und seine lebensarme Reproduktionstechnik stehen zur Debatte, es ist die fehlende Medienkompetenz der älteren Generation. Einen verderblichen Einfluss des Films auf eine immer tabulosere junge Generation meinen in Landshut, wie nicht anders zu erwarten, einige auszumachen. Andrea Maria Schenkel aber führt den Medienstreit auf die Ebene der Medienangst: Als der Kriminaloberwachtmeister seiner Frau nach dem Besuch eines Thrillers erklären muss, dass das Mordopfer im Film keinesfalls ermordet wurde, sondern dies nur vortäuschte, wird die fehlende Erfahrung im Umgang mit neuen Medien deutlich. Viel tragischer: Der Mangel an Fakten wird durch Ängste kompensiert. Diese Dynamik, 1922 schon so aktuell wie heute noch, ist nicht zuletzt Teil der Basis, auf der eine rechtsstaatliche Farce gedeiht, wie es die Volksgerichte waren. Und vor denen Schicksale wie das von Hubert Täuscher im Schnelldurchlauf besiegelt wurden.

Täuscher ist eine raffinierte Melange aus dem Psychogramm eines desillusionierten Kriegsrückkehrers, der sich seinem beruflichen Erbe verweigert und stattdessen für seine Zeit und sein Milieu höchst infantilen Träumen von Schauspielerei und einem Leben zwischen den Lichtern der Großstadt nachhängt. Und einer gesellschaftskritischen Systemanalyse, die am kleinen Beispiel das große Bild der gnadenlosen Ruckzuck-Mentalität in einer restaurativen Zeit zwischen Niederschlagung linker Umstürze und Frühfaschismus verhandelt. Die noch jungen Volksgerichte, eingerichtet 1918 zur Beschleunigung der Prozesse um schwere Straftaten, sind hier keinesfalls nur oktroyierte und aus heutiger Sicht in höchstem Maße verfassungswidrige Entledigungsmaschinen. Sie treffen auch einen hasserfüllten Nerv tief in der Bevölkerung, den bloßzulegen Schenkels Meisterleistung in Täuscher ist.

Titelbild

Andrea Maria Schenkel: Täuscher. Kriminalroman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013.
238 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783455404296

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