Der Geschmack der Heimat

Kulinarische Spezialitäten lösen im Exilroman der vietnamesisch-kanadischen Autorin Kim Thúy Erinnerungen aus

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kulinarische Spezialitäten können nicht nur in Proust’scher Manier Erinnerungsprozesse auslösen, sie sind auch an konkrete Orte gebunden und können diese repräsentieren. Die in Saigon geborene und in Montreal lebende Autorin Kim Thúy widmet sich in ihrem eindringlichen Exilroman dem Geschmack der Sehnsucht, der zugleich ein Geschmack der Heimat ist.

Thúys Protagonistin Mãn wächst während des vietnamesischen Bürgerkriegs auf und kommt wegen einer arrangierten Ehe mit einem ausgewanderten Vietnamesen nach Kanada. Dort arbeitet sie in der Suppenküche ihres Mannes, die sie mit der Zeit in ein angesagtes Atelier-Restaurant verwandelt. Mãn wird zur renommierten Köchin und erzielt mit ihrem Kochbuch „Das Tragejoch“ so großen Erfolg, dass ihr eine Kochsendung im Fernsehen angeboten wird. Sogar in Paris steht ihr Kochbuch in den Schaufenstern der Buchhandlungen, wo es von der in Vietnam aufgewachsenen Französin Francine entdeckt wird: „Das Titelfoto meines Buchs – ein halb in der Glut versunkener Tontopf mit einem karamellisierten Fischsteak –, das sie in der Buchhandlung ihres Viertels gesehen hatte, hatte sie zu Tränen gerührt. Plötzlich kitzelte sie der Duft in der Nase, als stünde sie wieder in der Kochecke des Waisenhauses, wo die Köchin gerade die Fischsauce nước mắm in die heiße Mischung aus Zucker, Zwiebeln und Knoblauch goss.“

Nicht nur im Fall von Francine lösen vietnamesische Spezialitäten Gefühle und Erinnerungen an eine vergangene Zeit in Vietnam aus. Die Erinnerung an eine verloren geglaubte Heimat, ausgelöst durch kulinarische Spezialitäten, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. So entpuppt sich Mãns Restaurant als Treffpunkt kollektiver Erinnerung, wo das (Wieder-) Schmecken der Heimat möglich wird. Dabei versteht es sich von selbst, wie die Erzählerin betont,„dass manche Geschmäcker exklusiv sind und eine starke Identitätsgrenze bilden.“  

Natürlich spielt auch die Erinnerung an den Krieg eine Rolle, doch auch diese wird durch Geschmackseindrücke ästhetisiert. So versucht die Küchenhilfe Hông vergeblich eine Tomatensuppe nachzukochen, mit der sie die letzte Erinnerung an ihren inhaftierten Vater verbindet. Die in einem Lager getrunkene Tomatenbrühe, bestehend aus einem Stück Tomate und ein paar Petersilienstängeln – „[n]ie hatte sie etwas Köstlicheres gegessen“ – lässt sich einfach nicht reproduzieren, nur in der Erinnerung lebt ihr einmaliger Geschmack fort.   

Durch den Konditormeister Philippe entstehen in der Restaurantküche schließlich auch transkulturelle kulinarische Spezialitäten. Indem Philippe einen klassischen vietnamesischen Bananenkuchen mit einem Schaum aus karamellisiertem Rohrzucker überzieht, „vermählte er Ost und West, was ohnehin diesen Kuchen charakterisiert, für den Baguettebrot in Kokos- und Kuhmilch getränkt und mit ganzen Bananen gefüllt wird.“ Die Tatsache, dass die Bananen im Ofen rot werden, erklärt die Protagonistin damit, dass „sie sich schämen, bei solchen Intimitäten ertappt zu werden.“

Wird den Bananen in dieser Stelle ein eigenes Leben eingehaucht, so kommt bestimmten Lebensmitteln oder Gerichten auch eine lebensspendende Funktion zu. Sie sind Bestandteile der traditionellen Medizin: „Dem Glauben nach enthält Lotus eine Portion Ewigkeit, und Ginkgo stärkt die Nerven, weil seine Blätter die Form des Gehirns haben. Die medizinische Wirkung der Goji-Beeren hingegen ist seit den Zeiten der Kaiser und Prinzessinnen in Büchern bezeugt.“

Kochen und Essen nehmen in Thúys Roman also multiple Funktionen ein und werden zum zentralen Motiv, dem nicht nur die Kriegserfahrungen, sondern auch eine Liebesgeschichte untergeordnet werden. Die Liebesgeschichte ohne Happy End zwischen Mãn und Francines Bruder, dem französischen Restaurantbesitzer Luc, wäre ohne die gemeinsame Leidenschaft, nämlich das Kochen, kaum denkbar. Schließlich lernt die Protagonistin erst durch Luc die Zärtlichkeit kennen, die sie braucht, um eine ebenso zärtliche Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen.

Thúy ist ein außergewöhnlicher Exilroman gelungen, der zeigt, dass sich Heimat – im Exil – dank der geradezu magischen Kraft von Kochen und Essen ein Stück weit einverleiben lässt.      

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Kim Thúy: Der Geschmack der Sehnsucht. Roman.
Aus dem Französischen übersetzt von Andrea Alvermann und Brigitte Große.
Verlag Antje Kunstmann, München 2014.
143 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783888979286

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