Im Zeichen des Nabels

Neues von und über den universellen Avantgardisten Hans Arp aus dem Georg-Kolbe-Museum Berlin

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Auf einer  Fotografie ist der Künstler zu sehen, wie er durch ein „Nabel-Monokel“ – ein herausgeschnittenes Stück Karton – ironisch und gedankenvoll die Welt betrachtet. Der Nabel als Symbol seiner Innenschau wie Weltsicht erscheint immer wieder in seinen Werken. Er schaut durch den eigenen Nabel auf die Welt, die er durch seine Kunst verändern will, er sucht sich einen Nabel der Welt durch eine eigene Form, er, der universelle Avantgardist, sieht sich als Nabel seiner Zeit – was Hans Arp auch immer damit gemeint haben kann, er war schon eine der faszinierendsten Erscheinungen der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Überall war er dort zu finden, wo sich die Kunst seiner Epoche von idealistischen Modellen und traditionellen Wirklichkeitsbindungen zu befreien suchte: Er stellte mit der Münchener Künstlergruppe „Der blaue Reiter“ aus, gehörte zum Kreis der Berliner Galerie „Sturm“ Herwarth Waldens, seine Collagen, Reliefs und Dichtungen bestimmten die Zeit des Nonsens-Dadaismus, er war sowohl mit den Konstruktivisten als auch den Surrealisten befreundet, sympathisierte mit den Abstrakten – und alle diese Lager beanspruchten ihn gleichermaßen als einen der ihren für sich. Denken, Dichten, Formen und Schaffen scheinen bei ihm den Gesetzen des „Zufalls“ zu folgen und sie können trotzdem geometrisch-konstruktiv sein, sie fallen „wie Früchte vom Baum“ und sind dennoch fern jeder imitativen Kunst. Der Themenkreis seiner so mühelos wachsenden, blühenden und zugleich doch gebändigten und gebauten Formenwelt ist zwar schon frühzeitig festgelegt, doch die Möglichkeiten an Metamorphosen scheinen unendlich zu sein, und es fehlt auch in der Spätphase nicht an völlig neu anmutenden Figurationen.

Cirka 50 Skulpturen, Holzreliefs, Gemälde, Collagen, Zeichnungen und Druckgrafik, aber auch Dichtungen und Texte von 1914 bis in die 1970er-Jahre  werden in dieser ersten Berliner Arp-Retrospektive im Georg-Kolbe-Museum (bis 11. Oktober 2015) gezeigt, ein Großteil der Arbeiten kommt von der Stiftung Arp Berlin/Rolandswerth und aus dem Arp-Museum in Rolandseck. Sie laden ein zur Zwiesprache wie zur Meditation, man kann an ihnen Heiteres und Burleskes wie Düsteres und Tragisches ablesen – die Schönheit und Harmonie seines Werkes bleiben immer spannungsvoll, der „Sinn des Unsinns“ liegt ihnen zugrunde, und auch die späten Arbeiten sind nach wie vor „nach dem Gesetz des Zufalls geordnet“ (so heißt auch ein Holzrelief von 1943).  Das ihnen innewohnende Gestaltungsgesetz aber ist das des Unvollendeten, Unvollendbaren, der unablässige Prozess des Werdens und Veränderns, die Verwandlungen, Übergänge und Verpuppungen, die nichts Abgeschlossenes, Definitives kennen. Die Formen bleiben im Fluss, sie sind auf dem Wege von einer Bedeutung zur anderen. 1953 schrieb Arp rückblickend: „Ich wanderte durch viele Dinge, Geschöpfe, Welten, und die Welt der Erscheinung begann zu gleiten, zu ziehen und sich zu verwandeln wie in den Märchen. Die Dinge begannen zu mir zu sprechen mit der lautlosen Stimme der Tiefe und Höhe“. In einem Gedicht hat er visionär umschrieben, welche Bedeutungsassoziationen etwa in seiner – hier auch ausgestellten – Skulptur „Spiegelblatt“ (1962, Bronze) möglich sind: „Aus einem wogenden Himmelsvlies steigt ein Blatt empor./ Das Blatt verwandelt sich in einen Torso./ Der Torso verwandelt sich in eine Vase./ Ein gewaltiger Nebel erscheint./ Er wächst./ er wird größer und größer./ Das wogende Himmelsvlies löst sich in ihm auf./ Der Nabel ist zu einer Sonne geworden,/ zu einer maßlosen Quelle, zur Urquelle der Welt. Sie strahlt. Sie ist zu Licht geworden. Sie ist zum Wesentlichen geworden“. Das Prinzip gestalterischer Metamorphose schließt hier Vegetabiles (Blatt), Figuratives (Torso), Dinghaftes (Vase), Organisches (Nabel) und Kosmisches (Sonne) ein.

Mit dem Prinzip der mehrfachen Metamorphose einer organischen Form bei Arp beschäftigt sich Julia Wallner, die Direktorin des Georg-Kolbe-Museums, in der die Ausstellung begleitenden Publikation. Die typische „Arp-Form“, ein „wogend aus der Symmetrie geratenes Oval“, habe der Künstler bereits in den 1910er-Jahren gefunden und ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Doch zu keiner Zeit verlief sein Werk in eine eindeutige Richtung oder folgte der Chronologie der Gattungen. Als Mitbegründer des Dadaismus, Wegbereiter des Surrealismus, wichtiger Vertreter der konkreten Kunst und auch Protagonist der organischen Abstraktion stand Arp im Zentrum der wichtigsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts und war als „Nabel der Avantgarde“ ein wichtiger Impulsgeber für seine und die nachfolgenden Künstlergenerationen. Maike Steinkamp (Stiftung Arp, Berlin) untersucht die von Arp und El Lissitzky gemeinsam herausgegebene Schrift „Die Kunstismen“ (1925), in der alle wichtigen Avantgardebewegungen seit 1914 mit charakteristischen Werken und ihren Protagonisten vorgestellt werden. Sie zeigt, wie sehr Arp in der internationalen Kunstszene vernetzt war. Jan Giebel (Georg-Kolbe-Museum) setzt sich mit der Merz-Mappe 5 auseinander, die 7 „Arpaden“ – Lithografien – von Arp enthält  und das prominenteste Resultat der Künstlerfreundschaft zwischen Arp und Kurt Schwitters darstellt. Zum Ursprung und zur Entwicklung des Reliefs im Œuvre von Arp äußert sich Astrid von Asten (Arp Museum Bahnhof Rolandseck). An dem Relief aus der Entstehungszeit der Dada-Bewegung lassen sich bereits die Prinzipien von Kombination und Metamorphose in Arps Arbeiten nachvollziehen. „Gibt es eine Moderne ohne Avantgarde?“ fragt Arie Hartog (Gerhard-Marcks-Haus, Bremen). Arps organisch fließende Formensprache wurde regelrecht zu einer Chiffre für die Moderne Kunst schlechthin und war auch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wegzudenken. Von der Schweizer Kunsthistorikerin Carola Giedion-Welcker, die mit ihrer Arp-Monographie 1957 eine der wichtigsten Grundlagen für die Auseinandersetzung mit der Kunst Arps legte, ist  ein Aufsatz „Urelement und Gegenwart in der Kunst Hans Arps“ (1952) beigefügt worden.  

Welche Gedanken und Überlegungen stellen sich beim Blättern in diesem abbildungsreichen Band ein? Arp wollte von Anfang an jede Absichtlichkeit ausschalten, jeden Hinweis auf  Empfindungen, jede erdachte Weltbeschreibung. Er wünschte, dass sich seine Arbeiten in der Natur verlören. 1916 bis 1920 hatte er Laubsägereliefs geschaffen, mit weichen organischen bis bizarren Formen, auf den Umriss reduziert („Vogelmaske“, 1918, Holzrelief). Seine „Arpaden“, jenes Mappenwerk mit 7 Lithografien (1923), entstanden in Zusammenarbeit mit Schwitters, formulieren seine Sehnsucht nach einer radikal neuen visuellen „Objekt-Sprache“, die an die ovale Ur-Form des Nabels geknüpft ist. Gerade in den 1920er-Jahren wandte sich Arp wieder der gegenständlichen Darstellung zu, er reduzierte Menschen, Tiere und Gegenstände der alltäglichen Dingwelt zu signalhaften Zeichen, die vielfältige Assoziationen zulassen, besonders wenn sie aus ihrem normalen Zusammenhang herausfallen und in ein groteskes Neben- und Miteinander geraten („Nabelhut“, 1924/63, Holzrelief, bemalt). Arp hat diese Idee später auch in zahlreichen Reliefbildern oder Collagen auf zugeschnittenem Karton ausgeführt. Und in der Dichtung ist er analog verfahren: Im spielerischen Umgang mit Wort- und Satzreihungen, in immer wieder neuen Zusammenstellungen einer beschränkten Anzahl von Wörtern stellte er Semantik und Syntax auf den Kopf.

In den 1930er-Jahren, als er sich vom geometrischen und konstruierten Bild abgewandt hatte, zerriss und zerschnitt er auch Papier, frühere Holzschnitte und Zeichnungen, klebte die Fetzen auf einer Unterlage fest und fertigte so Collagen in völliger Übereinstimmung  mit den Gesetzen des Zufalls. Im Verhältnis von Graphischem und Malerischem suggerieren sie den Glanz von Natur-Edelsteinen. Die Grenze zwischen Objekt und Skulptur wurde von Arp überschritten, als sich Anfang der 1930er-Jahre seine „Konkretionen“ zu kleinen imaginären Wesen – amöbenhaften Elementen – verdichteten, die in Bezug zu seinen Collagen und Zeichnungen standen („Kopf mit lästigen Gegenständen“, 1931, Bronze). In den folgenden Jahren vergrößerte und rundete er seine Figuren, die Reliefs wuchsen gleichsam in den Raum hinein und es entstanden regelrechte Monumentalskulpturen.

In den Torsi der 1950er-Jahre ist trotz aller Abstrahierungen der Form der Bezug zur menschlichen Figur immer gegeben („Schattenfigur“ oder „Kauernd“, beide 1960, Bronze). Die Andeutung einzelner plastischer Körpergliederungen genügt, um sich ein Ganzes vorzustellen. Arp wandte sich vor allem vollen, aufgeblühten Formen zu; er bevorzugte einfache und vollkommene Körper, die einer reifen, geschälten Frucht oder einem glatt und rund geschliffenen Kiesel gleichen. Die Bronzeskulptur „Menschlich mondhaft geisterhaft“ (1950) beschwört die Vorstellung einer aufkeimenden, aufblühenden Pflanze, der Naturphänomene des Wachsens, Werdens, Gebärens und damit der „Schöpfung“ überhaupt. In „Ptolemäus II“ (1958, Bronze) werden im Sinne des ptolemäischen Weltsystems die gleich- und kreisförmigen Bewegungen in einem ineinandergeschachtelten System mit berechenbarer Ausdehnung wiedergegeben. Diese Skulptur kann als eine bildhauerische Umsetzung des Geheimnisses des Universums, der Sprache des Weltalls verstanden werden. Mensch, Pflanze, Knospe, Frucht, Kristall, Gefäß, Zeichen, Idol, Wolke, Stern, Kosmos, Landschaft – all diese Vorstellungen werden auf wunderbare Weise in Arps Skulpturen lebendig, sie halten ihr Gleichgewicht gegen die Natur, sie verwandeln sich in Kunstformen, die sich nach ihren eigenen Gesetzen entfalten. Die lebensvollen prallen Rundungen, die weichen Übergänge, die gleitenden Konturen, das Wellige, Gebogene, Geschlängelte, Gezackte oder Konzentrische, auch das jähe Unterbrechen des genussvollen Ineinanderfließens durch harte Schnitte und scharfe Grate gehören zum bildhauerischen Formkanon dieses großen Künstlers. „Der Inhalt einer Plastik“, so Arp, „muss auf Zehenspitzen, ohne Anmaßung auftreten, leicht wie die Spur eines Tieres im Schnee“.   

Hans Arp. Der Nabel der Avantgarde
Hg. von Julia Wallner
Berlin, Georg-Kolbe-Museum 2015
188 Seiten
18 Euro