Landlust versus Großstadtsehnsucht
Stefan Rehm spürt in der Weimarer Republik der Großstadteuphorie der Moderne und den Wurzeln der parallel aufkommenden Rückzugsfantasien aufs Land nach
Von Silke Hoklas
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVieles kommt einem merkwürdig vertraut vor, wenn man Stefan Rehms Dissertationsschrift zur Stadt-versus-Land-Debatte liest. Jedoch nimmt Rehm nicht etwa die gegenwärtigen Debatten um die Landflucht erschöpfter Großstädter in den Blick, sondern die Hochzeit der Verstädterung während der Weimarer Republik. Schon seit etwa 100 Jahren fungieren Stadt und Land in der öffentlichen Diskussion als untrennbares Gegensatzpaar, bei dem das eine ohne das andere nicht zu denken ist. Beide leben als gesellschaftliche Idee von der Abgrenzung zueinander, sie entstehen überhaupt erst durch den Blick auf das jeweils andere.
Rehm erklärt daher zunächst, warum es zwangsläufig zu kurz greift, die Urbanisierung der langen Jahrhundertwende und die mediale Repräsentanz derselben als isoliertes Phänomen zu betrachten. Sein Ziel ist es stattdessen, Stadt und Land „in ihrer gegenseitigen, konstitutiven Funktion zu untersuchen“. Tatsächlich füllt der Autor damit eine Forschungslücke, denn bislang gab es zwar umfangreiche Literatur zum Verstädterungsprozess und dessen Auswirkungen in der Moderne. Rehm hingegen untersucht erstmals detailliert die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts massiv in der Öffentlichkeit diskutierte Verstädterung und Landflucht in Relation zu den darauf reagierenden Gegenströmungen als ein und dasselbe Phänomen.
Dadurch kann er aufzeigen, dass beide, Landflucht und Landlust, wesentlich von der Gegenüberstellung der beiden Sehnsuchtsräume Stadt und Land, Metropole und Provinz leben. Die Stadt erhält ihre Bedeutung – sowohl ihren Reiz als auch ihre abstoßende Wirkung – erst durch ihren Gegenpol, das Land. Umgekehrt erzeugt das ambivalente Großstadtbild, das in den 1920er-Jahren stets beides vereint, wunschtraum- und albtraumhafte Ausmaße, überhaupt erst die Idee jenes als ursprünglich empfundenen Landidylls, zu dem man, der Hektik der modernen molochartigen Metropole entfliehend, wieder zurückkehren will. Auch die Vorstellung der ländlichen Regionen als provinziell, kleinbürgerlich und konservativ entwickelt sich erst in dem Moment, in dem die Großstadt als Gegenstück in der öffentlichen Wahrnehmung an Kontur und Bedeutung gewinnt.
Der Autor fasst den Stadt-Land-Gegensatz dazu als eine Raumkonfiguration, in der sich zahlreiche Konflikte dieser gesellschaftlichen Umbruchszeit widerspiegeln. Das heißt, Rehm versteht das Gegensatzpaar Stadt/Land als eine Denkfigur, die eine starke Persistenz und Stabilität aufweist und so zum gesellschaftlichen Orientierungsmuster, zu einer „elementare(n) Lebensordung“ für mehrere Generationen werden kann. Kein Wunder also, dass die Argumentation der Gegenbewegungen zur Urbanisierung aus den 1910er- und 1920er-Jahren, die der Autor materialreich vor dem Leser ausbreitet, streckenweise merkwürdig aktuellen Debatten um Landlust und Landfrust gleicht. Vor allem die Idee von der „Stadt als ‚Krankheitsherd‘ besitzt wie das Land als ‚Jungbrunnen‘ eine erstaunliche Kontinuität“, resümiert der Autor. Wer sich durch die bisweilen etwas zähe akademische Prosa der Dissertationsschrift kämpft, erfährt zur Belohnung viel Wissenswertes, nicht über den Prozess der Verstädterung im frühen 20. Jahrhundert, sondern über die gesellschaftliche und künstlerische Wahrnehmung desselben. Dass nicht allein reale räumliche, sondern vor allem weltanschauliche Gräben zwischen beiden liegen, wird spätestens dann deutlich, wenn etwa Kurt Tulcholski nicht nur von geografischer, sondern „geistiger“ Provinz spricht.
Um die in den 1920er-Jahren förmlich explodierende großstadtkritische Debatte darzustellen und den zum Teil sehr unterschiedlichen Gegenbewegungen zur Großstadteuphorie Herr zu werden, muss sich Rehm zwangsläufig auf einzelne Kernpunkte konzentrieren. Er tut dies, indem er sich auf drei, wie er es nennt, „Register“ beschränkt. Als exemplarische Gegensätze wählt er die Paare Gesundheit/Krankheit, Metropole/Provinz und Masse/Individuum aus, um aus seiner Perspektive als Germanist der Ausgestaltung dieser Motive in der Weimarer Zeit nachzuforschen. Dabei geraten jedoch nicht allein literarische Entwürfe, sondern auch filmische Großstadtbilder und Landdarstellungen und sogar stadtplanerische Darstellungen mit in den Blick.
Die Einengung auf Berlin als zentrales politisches, ökonomisches wie kulturelles Ballungszentrum der jungen Republik mag verständlich und pragmatisch sein, tut der Studie jedoch nicht gut. Sie sollte zweifellos das Korpus einschränken. Doch dass dadurch zahlreiche Groß- und Mittelstädte der Weimarer Republik mit Provinz gleichgesetzt werden, ist beim Lesen störend, weil es die Schwammigkeit des Begriffs „Stadt“ nicht auflöst. Als Stadt, als Metropole, Großstadt, Zentrum wird bei Rehm allein Berlin untersucht – als Prototyp gewissermaßen. Den deutschen Künstlern, Literaten und Filmschaffenden galt zweifellos Berlin als Inbegriff der modernen Metropole. Zum Teil erscheint dadurch im Gegensatz zur Hauptstadt alles andere als Peripherie – jedoch nur zum Teil. Einige Entwürfe der Zeit zielen generell auf den Gegensatz zwischen Stadt und Land, andere explizit auf die Gegenüberstellung der Metropole Berlin, mit ihren explodierenden Bevölkerungszahlen (von 932.000 Einwohnern im Jahr der Reichsgründung auf viereinhalb Millionen bis Mitte der 1920er-Jahre) mit dem restlichen Deutschland. Dem Leser begegnen in den vielen, aussagekräftig eingesetzten Zitaten deshalb sehr widersprüchliche Konzeptionen von dem, was in der Stadt-Land-Debatte der Zeit als „Stadt“ gefasst wird. In einer Arbeit, die sich erstmals nicht allein auf die Großstadtbilder der Zeit zwischen den Kriegen konzentriert, sondern auch deren Gegenentwürfe mit in den Blick nimmt, wäre daher vorab zu klären gewesen, wo für welche Gruppen aus welchen Gründen die jeweilige Trennlinie zwischen Stadt und Land verläuft. Allein von einem Idealtypus auszugehen ist zu ungenau.
Wenig Neues bringen im zweiten Teil die detaillierten Studien zu vier exemplarischen literarischen und filmischen Zeugnissen der Weimarer Zeit. Rehm untersucht drei Romane und einen Film. Es sind Lion Feuchtwangers neusachlicher historischer Roman „Erfolg“ von 1930, Ernst von Salomons zwei Jahre später erschienener Roman „Die Stadt“ und Paul Gurks zwischen 1923 und 1925 verfasster Großstadtroman „Berlin“ sowie F. W. Murnaus Film „Sunrise“, der 1927 bereits in den Vereinigten Staaten produziert wurde. Markanterweise unternimmt darunter allein der untersuchte Film den Versuch einer Aussöhnung zwischen der Großstadt und dem Land. Einer anfänglichen Verlockung und Bedrohung durch die Stadt in Form einer mondänen Großstädterin wird hier ein versöhnliches Ende verliehen.
Die Stärke der Arbeit liegt jedoch deutlich im allgemeinen Teil des Buches, nicht in den Fallbeispielen. Rehm breitet dort ein beeindruckendes Ensemble ländlicher Visionen der Gesundung, Entschleunigung und der Rückkehr zum ‚Urzustand‘ vor dem Leser aus, die zum Teil noch heute als Beschwörungsformeln kursieren. Das ländliche Leben als Gegenbild zur Hektik und Krisenhaftigkeit der Welt, zur Entfremdung, Isolation und Reizüberflutung in den Städten – großstadtkritische Diskurse, so führt Rehm anschaulich vor Augen, entwerfen all dies zum ersten Mal bereits vor einem Jahrhundert. Dennoch wird beim Lesen der Studie auch klar: Die Beziehung des Gegensatzpaares Stadt und Land, das sich beständig reproduzieren muss, hat sich heute in vielen Punkten stark verändert. Das Land, heute medial omnipräsent als romantisch verklärte Vergangenheit mit blühenden Bauerngärten und Großmüttern, die die Gutsküche mit Kuchen- oder Puddingduft erfüllen, erscheint in den 1920er-Jahren noch als (gleichsam romantisch verklärte) Zukunftsvision, in der aber Fortschritt, Technik und Industrie noch als Gewinn imaginiert wurde und nicht in ihren Auswirkungen von Massentierhaltung und Genmais.
Das Phantasma von der Regenerationsleistung des Landes und das Mantra, dass die Entfernung von der Natur zur dauerhaften Erschöpfung des Menschen führt, bleibt dennoch dasselbe. Wer dem anhaltenden medialen Trend zu dieser Debatte etwas abgewinnen kann oder ihm entgegen halten möchte, findet hier ein bisweilen etwas spröde daherkommendes, aber ausgesprochen informatives und mit beeindruckender Breite recherchiertes Buch, das auch ohne die Kapitel mit den vier Literatur- und Filmbeispielen sehr gut funktioniert.