Die Fremde in Büchern erfahren

Ein Interview mit Axel Dunker, Leiter des Instituts für Kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien der Universität Bremen, zum Phänomen der DDR-Reiseliteratur

Von Axel DunkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Dunker und Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Linda Maeding: Wenn wir an „DDR-Literatur“ denken, dann fällt den meisten wohl kaum etwas zu Reiseliteratur ein. Auf den ersten Blick scheint das nur schwer zusammenzugehen. Dennoch haben Sie die Popularität der Reiseliteratur in Ostdeutschland konstatiert, die sich unter anderem in hohen Auflagen niederschlug. Wie erklären Sie sich dies?

Axel Dunker: In der gesamten Geschichte der DDR gab es für die Normalbürger erhebliche Reisebeschränkungen. Reisen ins kapitalistische Ausland waren normalerweise nicht erlaubt; spontane Reisen auch innerhalb der DDR waren problematisch. Der in der DDR geborene Autor Kurt Drawert stellt fest: Paris war „von Halle oder Leipzig in den 1970er Jahren entfernter als eine Reise zum Mond“. Für viele Leserinnen und Leser dürfte die Lektüre von Reisebeschreibungen und -reportagen gerade über das westliche Ausland daher eine Art Ersatzhandlung gewesen sein. Man durfte in der Realität nicht dorthin reisen, also wollte man wenigstens darüber lesen und die Reisen gewissermaßen im Kopf machen. Man könnte vielleicht sagen: das war eine andere Art von Eskapismus.

Linda Maeding: Die von DDR-Autoren und Autorinnen produzierte Reiseliteratur ist nur wenig erforscht. Wo genau sehen Sie, im Anschluss an die vom Institut für Kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien 2013 organisierte Tagung dazu, noch Forschungslücken? Welche Fragen lassen sich an diese Literatur über 25 Jahre nach der Wende noch stellen?

Axel Dunker: Zum einen wären empirische Untersuchungen nötig: gab es explizite Vorgaben dafür, was ein Autor über das westliche Ausland schreiben durfte und was nicht? Oder war es mehr die Schere im Kopf, die Befürchtung, nicht wieder reisen zu dürfen, wenn man zu positiv über den Westen und damit implizit vielleicht auch zu kritisch über die DDR schrieb? Man müsste dazu zum Beispiel die Archive von DDR-Verlagen durchgehen, die größtenteils unveröffentlichten Briefwechsel der Verlage mit den Autorinnen und Autoren anschauen, ermitteln, ob es Aufzeichnungen über die Art der Lektorierungen der entsprechenden Manuskripte gibt und so weiter. Zum anderen sind die Theorien und Methoden der inter- und transnationalen Literaturwissenschaft bisher kaum auf die in der DDR entstandene Reiseliteratur angewendet worden, vielleicht weil man tatsächlich nicht unbedingt an ‚Reiseliteratur‘ denkt, wenn es um die Literatur der DDR geht – oder umgekehrt, man denkt nicht an die Literatur der DDR, wenn Reiseliteratur im Fokus steht. Und schließlich finde ich es sehr interessant, vor dem Hintergrund aktueller Phänomene in den neuen Bundesländern (Stichwort: Pegida) und der sich dort immer wieder äußernden Fremdenfeindlichkeit und der damit in Zusammenhang stehenden Angst vor allem Fremden zu sehen, wie in der Reiseliteratur mit dem Fremden umgegangen wird. Wenn es richtig ist, dass viele Bürger der DDR ihre Fremdheitserfahrungen vor allem über die Lektüre dieser Bücher gemacht hat, da es direkte Kontakte mit Fremden kaum gab, kann man hier vielleicht etwas über die Genese von Einstellungen erfahren, die heute noch virulent sind.

Linda Maeding: Sie plädieren gemeinsam mit Bernd Blaschke und Michael Hofmann als Herausgeber des Sammelbandes DDR-Reiseliteratur. Bestandaufnahmen und Modellanalysen gewissermaßen aus methodischen Gründen dafür, dass es aufgrund der Verflechtung von Fremd- und Eigenwahrnehmung auch eine „DDR-spezifische Reiseliteratur“ gegeben haben muss. Wie würden Sie diese knapp beschreiben?

Axel Dunker: Das begründet sich eben dadurch, dass das Reisen als Privileg beziehungsweise die Unmöglichkeit, selbstbestimmt zu reisen, immer mit zu lesen sind. Darin trifft sich die Literatur der DDR mit der Literatur der anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Komparatistische Studien wären daher sicher aufschlussreich.

Linda Maeding: Zugleich betrachten Sie die DDR-Reiseliteratur durchaus als Teil europäischer Reiseliteratur. Wo identifizieren Sie Momente, die eine solche Einordnung jenseits der geographischen Evidenz rechtfertigen?

Axel Dunker: Exotismus und Zivilisationskritik in der Tradition von Rousseaus „Zurück zur Natur“ gab es in der Reiseliteratur der DDR genauso wie im Rest Europas auch. Auch hier scheinen mir aber doch wieder Differenzierungen interessanter als Gemeinsamkeiten. Die DDR verstand sich als Bruderland zahlreicher sozialistisch orientierter Staaten der damals so genannten ‚Dritten Welt‘. Hier wäre zu fragen, ob sich dadurch etwas an dem ändert, was die postkolonialen Studien etwa auf den Begriff des ‚Orientalismus‘ gebracht haben. Meinem Eindruck nach eher nicht. Eurozentrismus gab es hier wie dort.

Linda Maeding: Wie weit ist die Rezeptionsforschung der DDR-Reiseliteratur: Was weiß man über deren Leserschaft?

Axel Dunker: In dieser Frage sind wir noch weitgehend auf ältere Untersuchungen der DDR-Literaturwissenschaft, die natürlich nur mit großem Vorbehalt zu betrachten sind, angewiesen. 1982 war in einer DDR-Zeitschrift zu lesen, dass „etwa jeder zehnte bis zwölfte Titel der Erstauflagen von DDR-Gegenwartsliteratur der Reiseprosa zuzurechnen ist.“ Dort ist auch von den „hohen Auflageziffern dieser Bücher“ die Rede, „von denen manche mehrere Zehntausend Exemplare errei­chen“ und der „Vielzahl von Nachauflagen“, „die Auskunft über die Beliebtheit bei einer großen Leser­zahl“ geben. Daraus ist natürlich noch nicht zu entnehmen, wer genau diese Bücher gelesen hat, ob es geschlechts- oder altersspezifische Unterschiede gibt. Eine Beantwortung dieser Fragen gehört zu den Desiderata der Forschung zur Reiseliteratur in der DDR.

Linda Maeding: Es ist ein Topos der Reiseliteratur, das Reisen nicht nur mit Welterfahrung, sondern auch und vor allem mit Freiheit zu assoziieren. Welche Bedeutung hat dieser Topos für die DDR-Reiseliteratur?

Axel Dunker: Zur individuellen Freiheitserfahrung kommt hier gewissermaßen die politische hinzu. Allerdings waren es ja nicht die Regimekritiker, die reisen und ihre Reiseberichte dann in der DDR publizieren durften, sondern mehr oder weniger systemkonforme Autorinnen und Autoren. Auch ist zu bedenken, dass es immer eine Freiheit auf Zeit oder auf Bewährung war: man konnte nie sicher sein, bestimmte Reisen wiederholen zu dürfen. Bei der Lektüre der Reiseliteratur ist das immer mit zu bedenken, wenn es um Werturteile über die westlichen Länder oder die DDR selbst geht.

Linda Maeding: Welche Rolle spielt Ihrem Eindruck nach die Zensur in Werken der Reiseliteratur? Man geht bei diesem Genre nicht unbedingt davon aus, dass ein Lesen zwischen den Zeilen erforderlich ist. Inwieweit kommen individuelle Erfahrungen jenseits vorgeschriebener Wertungen zum Ausdruck, wenn Reisen auf eigene Faust eher selten waren?

Axel Dunker: Die Reiseliteratur-Forschung hat gezeigt, dass Kommentare über das Fremde immer auch implizite oder explizite Kommentare über das Eigene sind. Es ist daher sehr spannend zu sehen, wie die Texte hin- und herschwanken zwischen Anpassung an die offizielle Linie der DDR auf der einen Seite, was manchmal vielleicht auch den Charakter von Lippenbekenntnissen hat, Floskeln, die halt eingefügt werden müssen, und vor allem impliziter Kritik an den Verhältnissen in der DDR auf der anderen. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Leserschaft der DDR sehr geübt darin war, zwischen den Zeilen zu lesen, was für uns heute manchmal gar nicht so einfach nachzuvollziehen ist. Häufig sind es ältere Autorinnen und Autoren gewesen, die reisen und über ihre Reisen publizieren durften. Diese waren, wie Fred Wander zum Beispiel, in den 1930er- und 40er-Jahren in Frankreich im Exil und wenn sie jetzt wieder dorthin kommen, suchen sie nach den Spuren ihrer eigenen Vergangenheit. Ansonsten kann man sicher darauf vertrauen, dass ein guter Schriftsteller Wege finden wird, sich individuell auszudrücken, das gilt für die Reiseliteratur genauso wie für alle anderen Genres.

Linda Maeding: Die Sowjetunion und die Ostblockstaaten nehmen vermutlich eine wichtige Rolle ein, was die Destinationen der Reiseliteratur betrifft. Wie sieht es mit Reisetexten zu westlichen Ländern aus, welche Schwerpunkte sind hier auszumachen?

Axel Dunker: Schwerpunkte bilden die Länder, die auch im Westen bis heute beliebte Reiseländer sind, Italien oder Frankreich etwa. Natürlich gibt es ein paar Besonderheiten. Ich selbst habe mich vor allem mit Reisen nach Frankreich beschäftigt. In den betreffenden Texten von Fred und Maxie Wander, Rolf Schneider, Inge von Wangenheim und anderen sind es immer wieder die Französische Revolution und die Résistance, in deren Tradition man sich selber sieht, auf die Bezug genommen wird, ebenso wie die kommunistische Partei, die in Frankreich und Italien in den 1970er- und 80er-Jahren ja recht stark war. Man trifft sich mit französischen oder italienischen Kommunisten und berichtet über deren Erfahrungen, was dann häufig gegen die touristischen Glanzseiten der Sehnsuchtsländer ausgespielt wird. Viel stärker als in den zeitgleich publizierten Reisetexten westdeutscher Autoren werden bestimmte Fremdheitserfahrungen angesprochen, die man in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik kaum machen konnte, die vielen Menschen mit Wurzeln in anderen Teilen der Welt, vor allem Schwarze, denen man zum Beispiel in Paris ständig begegnete. Hier zeigen sich häufig Ressentiments gegen das interkulturell Fremde, die den sich wahrscheinlich als fortschrittlich und weltoffen verstehenden Reisenden vermutlich gar nicht bewusst waren. Gerade diese Aspekte finde ich angesichts der heute immer noch zu beobachtenden Ängste vieler Menschen besonders in den östlichen Bundesländern vor allem Fremden sehr interessant und wichtig, weil er wahrscheinlich einiges aussagt über die Genese dieser Einstellungen.

Linda Maeding: Lässt sich für die Jahre nach der Wende von einer Fortsetzung der DDR-Reiseliteratur auf anderer Ebene sprechen; etwa in Texten, die Reiseerlebnisse bereits durch das Prisma der geschichtlichen Erfahrung von 1989 erzählen?

Axel Dunker: Die 1977 in den Westen übergesiedelte Sarah Kirsch schreibt in einem ihrer späteren Texte über die Provence, sie besitze nun „einen fröhlicheren Paß, ein rechtes Sesam-öffne-dich-Blättchen ohne die Angst das seh ich nicht wieder.“ Das war noch vor 1989, dürfte aber die Reiseerfahrungen vieler Autoren aus der Ex-DDR auch nach der Wende bestimmen. Wolfgang Hilbig reflektiert in einem bitteren Text die problematischen Bedingungen des Reisens in der DDR, die zu billigen Kompensationen und schließlich zu der Unfähigkeit führten, nach einer langen Zeit des Wartens das Sehnsuchts­bild Italien überhaupt noch adäquat aufzunehmen.