Über die christliche Liebe, den Sex und Maria

Navid Kermani betrachtet große Gemälde und denkt über das Christentum nach

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Genauer als die meisten Theologen, die das Hauptgewicht auf das Kreuz und Auferstehung legen, besser selbst als die feministische Theologie, die mit Maria nur noch erstaunlich wenig anzufangen vermag und lieber die Sprache zurechtbiegt (bis es kracht!), haben im Christentum die katholische Volksfrömmigkeit und die östlichen Kirchen ein Gespür dafür, dass für die Menschwerdung Gottes das weibliche Prinzip konstitutiv ist.“ Und auch die Kunst hat ein Gespür dafür. Denn einige der innigsten Darstellungen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst zeigen Maria. Mal als junge Frau, die gerade von ihrer „Heimsuchung“ erfährt, mal als junge Mutter, die das kleine Christuskind auf ihrem Schoß hält, mal als verzweifelte Frau, deren Sohn gerade hingerichtet wird oder der bereits gestorben ist.

Wie viele andere ist auch der Kölner Orientalist Navid Kermani von Maria fasziniert. Warum? Weil Maria die Verkörperung der Mutter schlechthin ist. Kermani erzählt von einer „Rettung“, als er einmal als kleines Kind Ohrenschmerzen bekam:

Meine Mutter holt mich aus dem Gitterbett und nimmt mich in ihre Arme, dieses Gefühl des umfassenden Trostes, das den Schmerz nicht verscheuchte, aber nicht mehr als das schlechthin Unheimliche erschienen ließ, dieses Gefühl, mit dem Schmerz nicht mehr allein zu sein […], die Sicherheit, von der Mutter gewiegt zu werden, im konkreten, physischen Sinne geherzt: Es ist jemand für dich da, dieser Umschlag von der bodenlosen Einsamkeit und Verlorenheit in die Geborgenheit.

Der Muslim Kermani erklärt, dass auch der Koran Jesus zwar nicht als Gottes Sohn anerkennt, Marias Mutterschaft aber schon, und stellt fest: „die jungfräuliche Geburt bereitet orthodoxen Muslimen weniger Kopfzerbrechen als aufgeklärten Christen“. Für den Propheten Mohammed sei die Frau die erste der Segnungen, die Männer habe er völlig übergangen, und „Ibn Arabi, der als Großer Meister der Islamischen Mystik selbst mehr weibliche als männliche Lehrmeister hatte, geht so weit zu behaupten, dass die Anschauung Gottes, die sich für den Menschen notwendig in konkreten irdischen Erfahrungen vermittle – der Natur, der Liebe, des Traumgesichts und am stärksten der Sexualität – in der Frau die vollkommenste sei.“

In seinem neuen Buch betrachtet der vielfach ausgezeichnete Autor (zuletzt mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels) Bilder mit christlichen Motiven: Stefan Lochners „Muttergottes in der Rosenlaube“, das im Wallraf-Richartz-Museum in Köln hängt, wo er diese Mutter erkennt. Des Weiteren etwa Sandro Botticellis „Kreuztragung“, Bellinis „Segnender Christus“, Leonardo da Vincis „Der heilige Hieronymus in der Wildnis“ oder Hieronymus Boschs „Sturz der Verdammten“. In vielen Kapiteln denkt Kermani über diese Bilder nach – über das Christentum, über den Islam. Über Mystik und die monotheistischen Religionen, die doch einen seltsamen Gott haben und seltsame Gläubige, wie etwa Abraham, der auf Caravaggios „Die Opferung Isaaks“ fast unwirsch, mit tiefgefalteter Stirn, darauf reagiert, dass er jetzt doch nicht seinen Sohn opfern soll, sondern ein Tier. Der Engel muss sogar seinen Arm festhalten, damit er ihm das Messer nicht an die Kehle führt: „Sein Abraham ist ein Verwalter, nichts anderes, ein intellektuell immer schon beschränkter, im Alter erst recht verstockter Hausmeister Gottes, wohlgenährt der Leib, kräftig die Farbe seines Gesichts. An der Ordnung, die im Alltag ihren Sinn haben mag, hält er auch dann Punkt für Punkt fest, als sie durch eine Ausnahmesituation absurd, ja ganz offenkundig unmenschlich geworden ist.“

Sogar über die sexuelle Lust denkt Kermani nach, die aus manchen Bildern spreche. Etwa aus Giotto di Bondones „Die Begegnung Joachims und Anna an der Goldenen Pforte“, die sich öffentlich küssen, was damals nicht üblich war – auch nicht in Kermanis Jugendzeit im pietistischen Siegen, von dem er erzählt. Ebenso erwähnt er die Zärtlichkeit, die er in El Grecos „Der Abschied Christi von seiner Mutter“ findet.

Mit seinen privaten Erzählungen, seinen neugierigen Erkundungen und den sensiblen Bildbetrachtungen, die sich manchmal an Details aufhängen, manchmal auch einen frischen Blick zeigen, lässt Kermani den Leser an den katholischen Bildwelten und seinen subjektiven Interpretationen teilhaben. Dabei spart er auch nicht mit ironischen, flapsigen Bemerkungen, etwa wenn er die Apostelfiguren mit Tippkickern vergleicht oder den kleinen Jesusbuben als verzogenen „Rotzlöffel“ bezeichnet. Dem Leser nimmt er damit die übergroße Ehrfurcht vor dem Kunstwerk, vor der Kunst überhaupt.

So naiv manche seiner Bildbetrachtungen scheinen, so radikal subjektiv sind sie. Immer aber stützen sie sich auf seine profunde Kenntnis von Christentum und Islam. Kermani liefert in „Ungläubiges Staunen“ seine privaten Interpretationen, Empfindungen und Erinnerungen. Ein rundes Bild seiner Auffassung vom Christentum lässt sich damit nicht gewinnen, denn vieles bleibt auch unerwähnt, weil es auf den ausgewählten Bildern eben nicht vorkommt.

Dafür kommt noch etwas anderes dazu: die Politik. Ungefähr in der Mitte des ansprechend gestalteten Buches, in dem natürlich alle erwähnten Bilder abgedruckt sind, ist ein Foto abgedruckt: der Screenshot aus einem Fernsehinterview mit Pater Paolo Dall‘Oglio, der in Syrien das Kloster Mar Musa nördlich von Damaskus gegründet hat, das der Freundschaft mit dem Islam geweiht ist. Hierher kamen zu Pater Paolos Lebzeiten fast mehr Muslime als Christen. Ständig hat der Jesuitenpater die religiöse Verständigung gepredigt, den Geist der Nächstenliebe, und hat die Verbrechen des Assad-Regimes angeprangert. Im Juli 2013 fuhr er nach Rakka, um mit den Dschihadisten über die Freilassung von zwei Muslimen zu verhandeln, und verschwand spurlos. Man weiß bis heute nicht, ob er noch lebt. Kermani schreibt in diesem längsten Kapitel seines Buches:

Wenn ich etwas am Christentum bewundere, oder vielleicht sollte ich sage: an den Christen, deren Glaube mich mehr als nur überzeugte, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte, wenn ich nur einen Aspekt, eine Eigenschaft zum Vorbild nehme, zur Leitschnur auch für mich, dann ist es nicht etwa die geliebte Kunst. Es ist die spezifisch christliche Liebe. Die Liebe, die ich bei vielen Christen und am häufigsten bei jenen wahrnehme, die ihr Leben Jesus verschrieben haben, den Mönchen und Nonnen, geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe machte keinen Unterschied.

Titelbild

Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
303 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406683374

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