„Janz richtich vastandn ham se dir nie“

Die neue Gesamtausgabe der Gedichte von Kurt Tucholsky ist vollständig, aber verbesserungswürdig

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seine Gedichte, in denen er hemmungslos berlinert, gehören sicher zu den gelungensten, und deshalb darf auch die Huldigung an Heinrich Zille nicht fehlen. Dass „sie“ den großen Vorgänger nie ganz verstanden haben, hat sein Schüler wahrscheinlich auch von sich selbst gedacht: „Du wahst ein jroßa Meista. / Du hast jesacht, wies is.“ Auch das trifft auf einen Großteil der Gedichte Kurt Tucholskys zu – oder es tut ihnen so viel Ehre an, dass man versucht ist zu sagen: Schön wär’s.

Die Verwandtschaft mit Zille führt jedenfalls oft weiter als der ewige Vergleich mit Heinrich Heine oder gar Ludwig Börne, der die Eigenart dieser Verse doch nur sehr unzureichend trifft. Das heißt, die Vergleichsoperationen gestalten sich reichlich kompliziert, wollte man die so leicht dahingesagte Parallele beim Wort nehmen und beide wirklich konkret aufeinander beziehen, also klar sagen, worin die Verwandtschaft nun eigentlich genau besteht. Aber wahrscheinlich lebt diese Behauptung ohnehin nur von so vagen Begriffen wie ‚Gesellschaftskritik‘ und ‚Romantik‘. Der Neugermanistik, die hier angesprochen ist und tätig werden müsste, ist zu Tucholskys Gedichten auch nicht viel mehr eingefallen. Ja sie hat hier offenbar erstaunlich wenig zu bieten, außer ein paar Interpretationen für den Schulunterricht (deren Inhalt man sich denken kann). Im Übrigen werden die Gedichte stets nebenher erwähnt, wenn von der „Weltbühne“, vom Kabarett und allenfalls von den Chansons die Rede ist.

In dem schweren und stabilen Leinenband des Verlags Haffmanns bei Zweitausendeins sind sie nun alle versammelt – der Leser erinnert sich ein bisschen wehmütig (darin auch von Tucholsky bestärkt) an den Zürcher Haffmanns-Verlag, in dem bis zum traurigen Schluss im Jahre 2001 Robert Gernhardt und Julian Barnes, Eckhart Henscheid, F.W. Bernstein und David Lodge, auch Flaubert und Laurence Sterne erschienen sind. Der vorliegende Band enthält zunächst die Gedichte des einzigen von Tucholsky selbst zusammengestellten Auswahlbandes „Fromme Gesänge“ von 1919, denen auf gut 900 Seiten, gegliedert nach den Entstehungsjahren 1911 bis 1934, die einzelnen Texte folgen. Vor 1918 sind es noch wenige, am wenigsten in den Kriegsjahren von 1915 bis 1917, in den ersten Jahren der Republik besonders viele. Schon nach 1930 geht die Produktion deutlich zurück, 1933 und 1934 erschienen nur noch eine Handvoll Gedichte. Am Ende stehen zu Lebzeiten ungedruckte, „Nachgelassene Gedichte“, im Anhang findet man Tucholskys selbstverfasste Vita aus dem Antrag auf „Erlangung der schwedischen Staatsbürgerschaft im Januar 1934“: „Dr. Tucholsky ist im Begriff, seine schwedischen Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Er hat den Wunsch, die schwedische Staatsangehörigkeit zu erwerben, falls dies zulässig ist“, lauten die letzten Sätze des Emigranten aus dem neu-alten Deutschland Hitlers, das nach der Überzeugung der Mehrheit endlich zu sich selbst gefunden hatte.

Dass er nach Ablauf seines Reisepasses im März 1934 einen schwedischen Fremdenpass erhielt, der weniger als drei Monate gültig war, erfährt man nicht etwa aus dem Haffmannschen Band, sondern aus der nach wie vor lesenswerten Rowohlt-Monographie von Michael Hepp (1998). Der (oder die) Herausgeber – man weiß nicht, wer das neben dem Verleger Gerd Haffmans eigentlich ist – haben noch Erich Kästners nicht unbekannten posthumen Erinnerungsartikel von 1946 („Begegnung mit Tucho“, von einem gemeinsamen Aufenthalt von 1927 am Gardasee) sowie eine nützliche „Kleine Tucholsky-Chronik“ beigefügt. Im Übrigen gibt es nur eine zehnzeilige „Editorische Notiz“, die stolz behauptet, „die bis jetzt umfassendste Einzelausgabe der Gedichte von Tucholsky“ zu sein,[1] sonst keinerlei Angaben oder Erläuterungen. Man hat also alles beisammen, das Register ist brauchbar, weil es neben den Gedichttiteln auch die Gedichtanfänge verzeichnet, aber sonst wird man in allen denkbaren Fragen allein gelassen. Als Herausgeber des Bandes zeichnen „Petra Panter & Toby Tiger“, ein hübscher Einfall, der aber die sonstige Nachlässigkeit, mit der diese ‚Edition‘ daherkommt, auch nicht aufwiegt: Aus Peter Panter, einem der 5 Pseudonyme, unter denen Tucholsky nicht nur seine Gedichte publizierte (daher der Titel des Prosabands „Mit 5 PS“, Rowohlt 1928), ist also ein weibliches PS geworden. Eine Variante, an die Tucholsky offenbar nicht gedacht hat.

[1] Die Gedichte in einem Band (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006), herausgegeben von Ute Maack und Andrea Spingler, umfassen ebenfalls alle zu Lebzeiten publizierten Gedichte. Der neue Band bietet also zusätzlich nur die Gedichte aus dem Nachlass, die er aber, wie alle anderen, ohne jede Datierung oder Quellenangabe aneinanderreiht.

Titelbild

Kurt Tucholsky: Die Gedichte.
Herausgegeben von Petra Panter und Toby Tiger.
Zweitausendeins, Leipzig 2015.
1056 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783861509714

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