Astrids Affenzirkus

Der dänische Biograph Jens Andersen widmet Astrid Lindgren ein Lebensbild

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich glaube – genau wie Darwin –, dass der Mensch vom Affen abstammt. Bei mir zumindest ist es so. Warum sonst wäre ich in meiner ganzen Kindheit und frühen Jugend beharrlich auf Bäume, Hausdächer und andere Orte geklettert, die für denjenigen, der sein Leben aufs Spiel setzen will, bestens geeignet sind.

Biographen neigen dazu, ein literarisches Werk auf die Person des Autors zu münzen. Literarische Topoi werden auf diese Weise unweigerlich zu Lebensstationen. So kommt es auch, dass wir die biographische Topik Astrid Lindgrens bereits ziemlich gut kennen, auch wenn wir ihr Leben und Werk vielleicht nur mit einem Seitenblick und vielleicht nur als kindlicher Leser betrachtet haben. Jedermann weiß, dass diese Frau eine schwedische Ikone war, eine moralische Autorität, eine unfehlbare Instanz, wenn es galt, die Welt vom Kinde her zu denken.

Und jedermann sah (und sieht) in der erwachsenen Frau, der gereiften Schriftstellerin, der Friedensaktivistin, der paradigmatischen Mutter (im Gewissenskonflikt) die kleine Pippi Langstrumpf, die stark genug ist, die Welt aus den Angeln zu heben. Diese seelische Stärke einer zarten Person war es auch, die sie – anscheinend – so furchtlos machte. Sogar mit den schwedischen Steuerbehörden legte sie sich an und kündigte der sozialistischen Regierung unter Olof Palme die Freundschaft auf: „Ich habe ein Märchen über Pomperipossa geschrieben, die einhundertzwei Prozent Steuern zahlt“, schrieb sie 1976 an den Chefredakteur der Tageszeitung „Expressen“ und fragte ihn: „Willst du es drucken?“ Bo Strömstedt wollte, natürlich, und so veränderte ein Märchen die schwedische Innen- und Fiskalpolitik. Der Hindergrund betraf natürlich Astrid Lindgren selbst, die – ähnlich wie ihr Alter Ego im Märchen, die Schriftstellerin Pomperipossa – einen Steuerbescheid über „einhundertundzwei Prozent“ erhielt und befand, dass es sich künftig nicht mehr lohne, zu arbeiten – ebenso gut könnte sie von Sozialhilfe leben oder auf der Straße betteln gehen.

War dem schwedischen Fiskus, der Lindgren einen derartigen Steuerbescheid zugestellt hatte, mit einem Spitzensteuersatz von 102 Prozent, diese Absurdität nicht aufgegangen? Konnte Schwedens oberster Rechenmeister, der Finanzminister Gunnar Sträng, eine solche Absurdität zulassen? Lindgren bekämpfte die unmäßige Steuerlast, die der Wohlfahrtsstaat seinen Bürgern auferlegte, nicht für sich allein: Sie hatte auch den „kleinen Gewerbetreibenden“, den Handwerksmeister und Friseur, den Bauern und den Rentner im Blick, als sie den „Jungs im Kanslihuset“ ihre Rechnung präsentierte.

Jens Andersen kann zeigen, wie die Stenoblöcke der großen Schriftstellerin ab Mitte der 1970er-Jahre immer politischer werden; „immer weniger fiktionale Texte“ finden sich darauf, während sich die Anzahl streitbarer Manifeste erhöht: „Immer handelt es sich um kürzere Texte mit Überschriften wie ,Friedenspredigt in Frankfurt‘, ,Nutztierhaltung‘, ,Krieg, Frieden und Atomkraft‘, ,Drogenmissbrauch‘, ,Umweltzerstörung‘, ,Diskussionsfragen an Olof Palme‘ oder ,Brief an Gorbatschow‘. Texte, die in Art und Umfang dokumentieren, dass Astrid Lindgrens gesellschaftspolitisches Engagement in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre ihr Leben als Schriftstellerin bestimmte.“

Die literarische Mission war zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen erfüllt. Jens Andersens Biographie ist auch eine Werkgeschichte, und sie bietet im Anhang eine staunenswerte Bibliographie zum Gesamtwerk in deutscher Übertragung. Besonders schön und erwähnenswert ist, dass hier auch einige der wichtigsten deutschen Erstausgaben abgebildet werden, von „Pippi Langstrumpf“ über „Karlsson vom Dach“ bis hin zu „Ferien auf Saltkrokan“. Es gibt sogar eine „Ur-Pippi“, 2007 aus dem Nachlass erschienen!

Andersen zeichnet nach, wie es zu diesen Büchern kam. Vieles davon ist gängige Münze, fast schon Legende, anderes ist weitgehend neu und unbekannt. Wichtig waren Lindgren ihre Lektüren – Lyrik, Philosophie und Essayistik –, prominente Inspirationsquelle war die Bibel. Mir war nicht bewusst, dass Lindgren auch Gedichte verfasst hat, darunter ein „Kleines Lied darüber, dass das Leben ebenso kurz ist wie die Liebe“.

Auch als Verlagslektorin war Lindgren eine wichtige Instanz des literarischen Lebens. Vom „Nutzen eines Buches in den Händen eines Kindes“ war sie durch und durch überzeugt: „Mats liest viel, und wenn er liest, hört er nichts, man muss ziemlich laut rufen, um überhaupt irgendeine Reaktion zu bekommen. Ich habe zu ihm gesagt: ‚Du hörst ja nicht, was man dir sagt, wenn du liest‘. Worauf er antwortete: ‚Nein, und das ist auch gut so. Denn wenn Mama wütend ist, setze ich mich einfach hin und lese‘. Mir gefällt es sehr, dass Kinder auf diese Weise mit den verdammten Erwachsenen  zurechtkommen.“

Als Lindgren 1978 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennahm, plädierte sie für eine „un-autoritäre“ Erziehung: „Ja, aber wenn wir unsere Kinder nun ohne Gewalt und ohne irgendwelche straffen Zügel erziehen, entsteht dadurch schon ein neues Menschengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt? Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur ein Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, daß es eine Utopie ist. Und ganz gewiß gibt es in unserer armen, kranken Welt noch sehr viel anderes, das gleichfalls geändert werden muß, soll es Frieden geben.“

Titelbild

Jens Andersen: Astrid Lindgren. Ihr Leben.
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
448 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783421047038

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