Hundsjahre

Tibor Dérys Berichte aus dem stalinistischen Ungarn

Von Maximilian MurmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Murmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungarn im Jahr 1948: Das mörderische Bündnis mit Nazi-Deutschland ist Geschichte, doch auch nach Kriegsende bietet die politische Lage kaum Grund für Zuversicht. Aber der Reihe nach: In einem Vorort von Budapest leben die Ancsas. Er ist Professor und Ingenieur, sie Hausfrau. Ihr einziger Sohn ist im Krieg gefallen. Eines Tages taucht ein Foxterrier-Mischling bei den Ancsas auf und trotz anfänglicher Zweifel beschließt das Paar, die junge, anmutige Hündin zu behalten. Als in Budapest die lang ersehnte Wohnung frei wird, ziehen die Ancsas zusammen mit Niki in die Stadt. Die Hündin gewöhnt sich nach und nach an den Trubel in der Metropole und begnügt sich fortan mit Spaziergängen entlang der Donau. Doch das sorgenfreie Leben nimmt ein abruptes Ende, als sich Nikis Herrchen korrupten Parteikadern in den Weg stellt. Die Säuberungen sind in vollem Gange, nur Ancsa weiß die Zeichen nicht zu deuten. Er wird entlassen und zu niederen Arbeiten in der Provinz verdonnert. Schließlich verschwindet er ganz.

Mit der Verhaftung des gutgläubigen Ingenieurs im Kurzroman nahm Tibor Déry (1894–1977) sein eigenes Schicksal vorweg. Die Originalausgabe von Niki oder Die Geschichte eines Hundes erschien kurz vor dem Ungarischen Volksaufstand 1956. Im darauffolgenden Jahr wurde Déry, Mitglied des Petőfi-Kreises und Wegbereiter der Revolution, zu neun Jahren Haft verurteilt. Das war jedoch nicht gänzlich neu für diesen: Der überzeugte Kommunist gehörte zu den wenigen ungarischen Autoren, die sowohl unter dem Nationalisten Miklós Horthy als auch unter dem Stalinisten Mátyás Rákosi mit Repressionen zu kämpfen hatten. In Niki oder Die Geschichte eines Hundes drückt Déry in deutlichen Worten seine Enttäuschung über die sozialistische Gesellschaftsordnung aus. Für diesen Mut erhielt der Autor auch jenseits des Eisernen Vorhangs Anerkennung, unter anderem von Albert Camus und T.S. Eliot. Vor knapp 15 Jahren wurde Ivan Nagels deutsche Übersetzung von Niki wiederentdeckt. Nun veröffentlicht der kleine Berliner Verlag Das Arsenal den Text zusammen mit der Kurzgeschichte Liebe oder „Fragen Sie nicht so viel“, in der es um einen politischen Gefangenen geht,  der nach sieben Jahren Haft zu seiner Familie zurückkehrt. Als Tibor Déry 1960 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde, musste er erfahren, dass Niki, sein geliebter Foxterrier, in seiner Abwesenheit gestorben war.

Auch an der Titelheldin des Kurzromans geht der Verlust des Herrchens nicht spurlos vorüber, zumal Frau Ancsa alle Kraft und Zeit darauf verwendet, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten: „dem Tier schien es hundsegal, ob es von seinen Besitzern für eine Stunde oder für ein Jahr verlassen wurde; in beiden Fällen starb es fast vor Entbehrung.“ Die Hündin wird krank, weil sie den Verlust Ancsas nicht begreifen kann, und das im wahrsten Sinne. Die Existenz des Hundes ist unmittelbar mit der Tragödie verwoben, allerdings kommt der Text wider Erwarten ganz ohne Pathos aus. Seine Kraft zieht er allein aus der aufmerksamen Beschreibung der Hündin und ihrer Welt. Dabei hütet sich Déry vor menschlichen Attributen, sämtliche Regungen des Tieres bleiben der Spekulation überlassen. Man ist geneigt, nach einer politischen Aussage zu suchen, aber der Autor verpackt seine Anliegen – Verantwortung und soziale Gerechtigkeit – in feiner Ironie. Er kehrt der Politik den Rücken und findet im Kleinen, Alltäglichen etwas, das über alle Ideologien erhaben scheint. Bei genauerer Betrachtung schon fast ein Akt des Widerstands.

Titelbild

Tibor Déry: Niki oder Die Geschichte eines Hundes. und Liebe oder „Fragen Sie nicht so viel“. Erzählungen.
Mit einem Nachwort von Ivan Nagel.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Ivan Nagel.
Verlag Das Arsenal, Berlin 2015.
142 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783931109677

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