Vom Künstlerjournalisten zum Historienmaler

Eine Monographie bewertet das Spätwerk Max Lingners neu

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sein Hauptwerk in der DDR-Zeit gilt das 1950 bis 1952 entstandene Wandbild am  früheren Haus der Ministerien, dem heutigen Finanzministerium der Bundesrepublik, in der Leipziger Straße. Mit fünf anderen namhaften Künstlern war Max Lingner aufgefordert worden, einen Entwurf für ein Mosaik-Wandbild einzureichen, „auf dem die Bedeutung des Friedens für die kulturelle Entwicklung der Menschheit und die Notwendigkeit des kämpferischen Einsatzes für ihn“ dargestellt werden sollte. Zwar ist Lingner dann auf Geheiß von Ministerpräsident Otto Grotewohl mit dem Wandbild beauftragt worden, aber er wurde sofort Gegenstand dogmatischer Kritik im Rahmen der von Walter Ulbricht betriebenen Formalismus-Kampagne. Er musste einen Leidensweg beschreiten und war immer wieder zu politischen und künstlerischen Zugeständnissen gezwungen.

Ursprünglich sollte ein durchgehender Rhythmus die aufeinander bezogenen Figurengruppen in heiterer Beschwingtheit und Lebendigkeit zusammenschließen. In der erzählenden Darstellung fröhlicher junger Menschen wurde aber dann das Fehlen der Industrialisierung, des Prinzips des demokratischen Zentralismus, vor allem aber der führenden Rolle der Arbeiterklasse bemängelt. In der zweiten Fassung wirkten die Figuren dann schon viel statischer, wie aufgereiht, die Gruppen wurden weiter aufgeteilt, waren nicht mehr einander zugeordnet. Die tragenden Schichten des Staates sollten repräsentativ vertreten sein: Vom Volkskammerabgeordneten mit Aktentasche auf der linken Seite als Ausdruck des „demokratischen Zentralismus“ über die verschiedenen Waffengattungen der Volkspolizei bis zum werktätigen Bauern und dem stellvertretend für die Industrie stehenden „Eisenwerker“. Spannungslos verharrten nun die Figuren in dem sie umgebenden leeren Raum. Planen, Beraten, Arbeiten, Marschieren – das alles hatte Lingner zu einer „Feiertagsangelegenheit“ gemacht, wie es dem Künstler in unzähligen Beratungen von Grotewohl nahegelegt worden war. Lingner glaubte in seiner Parteidisziplin mit der erniedrigenden Kritik an seiner Arbeit „konstruktiv“ umgehen zu müssen, verwarf und veränderte immer wieder von Neuem. Erst der sechste Entwurf dieses nunmehr didaktisch belehrenden Gesellschaftszyklus fand die Billigung des DDR-Ministerrates und jetzt konnte sich Lingner auch mit der technischen Umsetzung mit Platten aus Meißner Porzellan – anstatt eines Mosaiks – beschäftigen. Er selbst war dann über das Endprodukt so unglücklich, dass er stets vermieden hat, das Wandbild wiederzusehen. 

Lingner war 1949 nach 20-jährigem Aufenthalt aus seinem Exilland Frankreich nach Ost-Berlin zurückgekehrt und starb bereits zehn Jahre später. Sein Schaffen war von sozialem und politischem Engagement geprägt. Er hatte als Pressezeichner der „Humanité“, des Zentralorgans der KPF, sowie anderer linker Presseorgane in Paris gearbeitet und in scheinbar alltäglichen Dingen des proletarischen Lebens und in weniger auffälligen Momenten des politischen Tageskampfes Gestaltungswürdiges und Allgemeingültiges zu finden und im Kleinen das geschichtlich Große zu entdecken versucht. Er war zu einem „Klassiker der Zeitungsgraphik“ geworden, auch seine „schönsten Malereien“ (Lothar Lang) waren in Frankreich entstanden. Mit dem in Berlin vollendeten Gemälde „Weintraubenverkäuferinnen in Südfrankreich“ (1949) hatte er zwar Abschied von Frankreich genommen, aber Motive seiner Pariser Arbeit fanden sich noch weiter in seinen Berliner Arbeiten, so auch in den naiv-fröhlichen Szenen der ersten Wandbild-Fassung für das Haus der Ministerien. Dem Bild eines jungen – französischen – Mädchens gab er den auf die DDR zugeschnittenen symbolhaften Titel „Junge Ernte“ (1951). Er konzipierte einen Zyklus von Historienbildern zu revolutionären Ereignissen der deutschen Geschichte, von denen der „Große Deutsche Bauernkrieg“ (1954) vollendet wurde und die Gemälde „1848“, „Kieler Matrosenaufstand 1918“ und „Gründung der DDR“ (alle 1952) in unterschiedlich weit ausgeführten Vorarbeiten und Varianten vorliegen. Mit seinen Wandbildern setzte sich Lingner immer wieder dem  Druck der staatlichen Auftraggeber und ihrer inhaltlich-ideologischen Erwartungen aus, so dass er dem ihm eigenen Stil nicht mehr folgen konnte. Er vermochte dann noch das Gemälde „Straße nach Rummelsburg“ (1958) zu vollenden, das analog zu seinem Aquarellzyklus der Pariser „Banlieue“ eine Folge über die Berliner Arbeiterbezirke einleiten sollte, ebenso „Das Volkslied“ (1958), in dem er noch einmal das Motiv der singenden Mädchen aufnahm, das ihn durch sein ganzes Schaffen begleitet hatte.

Der Architekturhistoriker Thomas Flierl, zugleich Vorsitzender der Max-Lingner-Stiftung, hat zusammen mit anderen Wissenschaftlern eine reich mit Abbildungen, Fotografien, Lingner-Texten und offiziellen kunstpolitischen Dokumenten versehene Monographie über das Spätwerk Lingners vorgelegt. Sie behandelt die Spannungen, Brüche und Konflikte Lingners in seinem letzten Lebensjahrzehnt, seine Ausübung von kulturpolitischen Funktionen und Übernahme von Kunst-Aufträgen, die durch die Formalismus-Kampagne und die Durchsetzung des Staatssozialismus sowjetischen Typs in der DDR behindert wurden, den Versuch seiner Selbstbehauptung bei Projekten, die er – nicht zuletzt auch wegen seiner schweren Krankheit – nicht mehr realisieren konnte.

Eine von Katharina Köpping und Jens Semrau erarbeitete Chronik der Berliner Jahre Max Lingners gibt den folgenden Aufsätzen die biographisch-historische Grundlage. Semrau analysiert im Anschluss die Situation der Berliner Kunst im ersten Nachkriegsjahrzehnt und zeigt, wie das spannungsgeladene Konglomerat von widersprüchlichen Positionen, Einflüssen und Orientierungen zunehmend im Kunstleben der DDR erstarrte und sich verfestigte. Lingner blieb in den heterogenen Ost-Berliner Kunstverhältnissen weitgehend isoliert und seine Positionen fanden trotz einer gewissen Wertschätzung keine Fortsetzung.

Thomas Flierl zeichnet die Stationen des Weges Lingners von den Pariser Festdekorationen  zu dem mit enormer Kraftanstrengung geschaffenen Wandbild am Haus der Ministerien nach, das zum „Gründungsbild“ der DDR wurde. Mit seinem „sensualistisch begründeten, mit der modernen Kunst vertrauten optimistisch-schwärmerischen Realismus als einem utopischen volksdemokratischen Programm“ (Flierl) kam Lingner bald in Konflikt mit dem in den 1950er-Jahren dekretierten „Sozialistischen Realismus“. Ausführlich beschäftigt sich Flierl mit den Gründen, die zum Scheitern des Wandbildes geführt haben. Die Kombinatorik bisher erprobter Bildbausteine funktionierte nicht mehr. War Lingners Ästhetik bis dahin zirkulär-egalitär, so wurde die Bildwelt des Wandbildes dualistisch verengt – und diesen Bruch sieht Flierl als das „Geheimnis“ der künstlerischen Selbstaufgabe und damit des Scheiterns von Lingner an.  

Eckhart Gillen untersucht am Beispiel des Zyklus „Die revolutionäre Geschichte des deutschen Volkes“ die von Lingner verfolgte „Logik der Geschichte“. Von den vier Stationen des Zyklus, an denen Lingner 1950 bis 1955 arbeitete, sind ja nur „1848“ in zwei Fassungen und „Der große deutsche Bauernkrieg“ als Gemälde in Tempera auf Leinwand ausgeführt worden. Aber zu allen gibt es eine Vielzahl von Studien und Skizzen. Auffallend an allen Bildern des Zyklus ist die Abkehr Lingners von seinem typischen Stil, den er aus Frankreich mitgebracht hatte und den er in den Transparenten zur Mai-Kundgebung und den ersten Fassungen des Wandbildes am Haus der Ministerien auch noch praktiziert hatte. Lingner – so Gillen – verleugnete den eigenen Stil, weil er sich der jeweiligen „Wirklichkeit“ der historischen Epoche so getreu wie möglich anpassen wollte. So orientierte er sich für die Bauernkriegs-Darstellung an der altdeutschen Malerei, an Lucas Cranach und Albrecht Dürer, für die 1848er-Revolution an Menzel und für die Novemberrevolution 1918 an dem proletarischen Realismus Hans Baluscheks und Otto Nagels. Diese tiefe Verunsicherung ist von der Formalismus-Kampagne ausgelöst worden. Angelika Weissbach befragt das im Auftrag der Regierung der DDR 1950/54 entstandene großformatige Panneau „Der Große Deutsche Bauernkrieg“ nach seinen Vorbildern, erläutert, wie „die vorwärtstreibende Gruppe der Bauern wie eine Welle auf die gerade stehenden Fürsten und Landsknechte zurollt und dort gebrochen wird“, und erkennt, dass Lingner hier letztlich doch auf vertraute stilistische Mittel zurückgegriffen hat, die der Darstellung den Charakter einer Illustration und damit Allgemeingültigkeit verleihen.

In seinen Buchillustrationen kann Lingner an frühere Arbeiten aus Frankreich anknüpfen. Hier sind ihm überzeugende Arbeiten gelungen, auf die Martin Groh hinweist. Der erzählerische Ausdruck von Lingners Zeichnungen blieb erhalten. Seinen Stil, die spezifische Art, seine Motive zu zeichnen, hat er in der DDR-Zeit nicht mehr verändert. Er experimentierte nicht mit neuen Formen und Inhalten. Was sich geändert hat, war die Form der Buchpräsentation. Die Zeichnung gewann nunmehr eine große Eigenständigkeit als „Erzählung in sich“. Fritz Jacobi beschäftigt sich mit dem Verhältnis Lingners zur Nationalgalerie, die den Großteil seiner „Schenkung an das deutsche Volk“, eines Konvolutes von 40 Werken aus seiner französischen Zeit, verwahrt. Ulrike Möhlenbeck wertet Quellen des Archivs der Akademie der Künste aus, berichtet über die Amtszeit Lingners als Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie, als Leiter einer „Meisterklasse für Grafik“, die Ausrichtung eines Max-Lingner-Preises und die Einrichtung eines Max-Lingner-Archivs. Heute verwahrt die Max-Lingner-Stiftung den künstlerischen Nachlass des Künstlers, während sich der schriftliche Nachlass in der Akademie der Künste befindet.

Zeitgenössische Kommentare von Erhard Frommhold, Günter Feist und Harald Metzkes verweisen schließlich aus einer jeweils anderen Perspektive ebenso auf die „Freundlichkeit“ der Lingnerschen Botschaft (Metzkes) wie die Widersprüchlichkeit seines Spätwerkes.

Will man ein Fazit aus den Erkenntnissen dieses Buches ziehen, könnte man sagen: Frankreich hat Lingner geprägt, die DDR hat den Remigranten zunächst geehrt, um ihn dann schnell ins DDR-Normative einzubinden. Im Konflikt zwischen seinen künstlerischen Ansichten und der Parteidisziplin, der sich der Kommunist Lingner immer wieder unterordnete, hat er in seinem letzten Lebensjahrzehnt ein Werk geschaffen, das von ungeheurem Aufbruchswillen wie Anpassung und Verlust an künstlerischer Kraft, von Erschöpfung und Ernüchterung, aber auch von immer wieder neu versuchter Selbstbehauptung geprägt war.

Titelbild

Thomas Flierl (Hg.): Max Lingner: Das Spätwerk 1949–1959. Chronik, Aufsätze, Erinnerungen, Dokumente.
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2013.
222 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783867321549

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