Nicht ganz arisch

Barbara Dröscher rekonstruiert in „Wer sagt, dass Zwiespalt Schwäche sei?“ die Geschichte ihres Vaters in der Wehrmacht

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Barbara Dröscher widmet sich in dem historisch-biografischem Buch über ihren Vater einer Thematik, die in der so umfangreichen Erforschung des Holocaust bisher nur wenig Beachtung gefunden hat: den sogenannten „Mischlingen“ in Deutschland, in der rassistischen Klassifizierung der Nazis auch „Halb-“ und „Vierteljuden“ genannt.

Auf der Grundlage von teils privaten Archivbeständen, vornehmlich Briefen und Tagebüchern, rekonstruiert Dröscher die Geschichte des späteren SPD-Bundestagsabgeordneten und Vertrauten Willy Brandts, der als Sohn einer Jüdin in der Wehrmacht bis zum Offizier aufstieg. Dies gelang dank einer Fälschung, die ihm die militärische Beförderung ermöglichte und vor allem seiner Mutter Schutz gewährte: Erst Ende der 90er Jahre, lange nach dem Tod des Vaters, fanden die Kinder Wilhelm Dröschers heraus, dass er die Religionszugehörigkeit seines Großvaters auf dessen Heiratsurkunde gefälscht hatte und damit seine Mutter Frieda, gebürtig aus Bialystok, zur „Halbjüdin“ und sich selbst zum „Vierteljuden“ werden ließ.

Die biographische Erzählung, die den Vater durch lange Auszüge vornehmlich aus den Kriegsbriefen an die spätere Ehefrau Lydia ausführlich zu Wort kommen lässt, wird komplementiert durch historiographische Quellen zum Gang des Krieges und der Rassenpolitik. Die „biopolitische Strategie der Diskriminierung“ des Naziregimes wird dargestellt, von der Konstruktion der „Rassenschande“ über das Heiratsverbot bis hin zur Zwangssterilisierung. Dröscher zitiert Verordnungen, Anweisungen des „Führers“ und Gesetzeslagen, die den enormen Aufwand spiegeln, der mit der Definition von sogenannten Mischlingen betrieben wurde. Zugleich war diese Anstrengung aber auch durch eine grundlegende Uneindeutigkeit gekennzeichnet. So wurden für Leitlinien, die die Ausgrenzung der „Mischlinge“ betrieben, willkürlich anmutende Ausnahmen zugelassen – sei es die „privilegierte Mischehe“ oder die von Hitler persönlich zu unterzeichnende Erlaubnis, den „Mischling“ zum Offizier zu berufen. Unter Rückgriff auf historiographische Studien macht das Buch deutlich, wie undurchsichtig das Klassifizierungs-„System“ und insbesondere seine Auswirkungen waren. Kein Zweifel wird jedoch daran gelassen, dass der Schritt vom „Halb-“ zum „Vierteljuden“ das berufliche Fortkommen in der Armee ermöglichte und der Familie eine Sicherheit gewährte, die aber immer nur relativ und von potenziellen Neuregelungen und Verschärfungen bedroht war.

Wie der klug gewählte Titel – ein Zitat des Vaters – bereits andeutet, ist Ambivalenz ein Schlüsselbegriff dieses Buches. Die Autorin legt das Augenmerk auf den inneren Druck, der auf dem Vater gelastet haben muss – deutschnational gesinnt und potenzielles Opfer jenes Regimes, das er militärisch vertrat; die Ängste und Zweifel, die aus der Brandmarkung als „Mischling“ erwuchsen; die Suche nach Anerkennung und die Konfrontation mit den eigenen Widersprüchen. Teil dieser ambivalenten Existenz ist auch, dass der Vater die Fälschung für den Rest seines Lebens verschwieg, auf dem Speicher aber einen geschlossenen Umschlag mit der Anweisung „zu öffnen nach meinem Tod“ aufbewahrte, in dem sich die Gummiplatte jenes Stempels fand, mit dem Dröscher aus seinem Großvater einen Katholiken machte. Diesen Beleg hob der Vater ungeachtet seines Schweigens auf – in der Gewissheit, dass er wohl eines Tages von den Kindern gefunden würde.

Vor diesem Hintergrund unternimmt Dröscher den Versuch, „die mit dem Verschweigen verbundene Verleugnung und Scham“, die sich noch auf die nachfolgende Generation übertrug, durch Erzählen zu überwinden. Denn die jüdische Herkunft der Oma war in der Familie durchaus kein Geheimnis, aber auch nicht mehr als ein verschwommenes Wissen, über das nicht näher gesprochen wurde. Auch habe die moralische Genugtuung der Linken, auf der richtigen Seite zu stehen – so merkt die Autorin selbstkritisch an – dazu geführt, in den 60ern und 70ern nichts von „Bedrückung und Scham“ wissen zu wollen, die mit der Geschichte des Vaters verbunden waren. Mit dem Aufdecken der Fälschung,  die – so Dröscher folgerichtig – als solche erst in dem von den Nazis etablierten Rassensystem relevant werden konnte,  wird auch danach gefragt, was eigentlich die Scham auslöse: „Gibt es auch eine Scham, die von der Ambivalenz zugleich Opfer und verschont zu sein herrührt, oder gar eine Übertragung der Scham sich mit dem ‚unlauteren‘ Mittel der Fälschung einen Vorteil gegenüber den Todesopfern des Holocaust verschafft zu haben?“ In jedem Fall verschiebe die Fälschung nur die rassistische Einordnung der Jüdin als „Halbjüdin“, da der Fälscher hier die Ordnung der Nazis übernehme. Es sei also nicht damit getan, diesen Akt wieder ins Gedächtnis zu heben. In solchen Beobachtungen spricht nicht (nur) die Tochter, sondern auch eine Autorin, der es um die erkenntnispolitische Relevanz dieser Vergangenheit geht.

„Wer sagt, dass Zwiespalt Schwäche sei?“ ist nicht das Buch einer Historikerin; es ist aber auch nicht ohne weiteres der seit der Jahrhundertwende so virulenten Väterliteratur zuzurechnen – es zielt weder auf eine Abrechnung noch auf eine subjektive Betrachtung der familiären Beziehungen. Ganz im Gegenteil ist Dröscher um Distanz bemüht – auf die eigene Position als Tochter wird nur im Vor- und Nachwort eingegangen; der Vater wird aufgeführt unter den Initialen WD. Es ist ein Kunstgriff, der an Christa Wolfs Wahl der dritten Person zur Erzählung ihrer Kindheit und Jugend in ihrem autobiographischen Roman Kindheitsmuster erinnert; ein Text, der in diesem ungewöhnlichen Vater-Buch als ein Schlüsseltext erwähnt wird. Eine weitere Schreibstrategie, die ins Auge fällt, besteht im offensiven Aufwerfen von Fragen: Anders als in einigen neueren Biographien werden Wissenslücken nicht durch eine Art „empathische Fiktion“ gefüllt. Vielmehr sind diese Lücken, das, was weder Autorin noch Leserin wissen können, durch Fragen markiert. Flankiert werden die offenen Fragen durch ein Zwischen-den-Zeilen-lesen. Das ist einerseits, der Zensur eingedenk, zwingend notwendig bei Briefen von der Front; andererseits bewährt sich hier aber auch der literaturwissenschaftliche Hintergrund der Berliner Privatdozentin.

Wiederholt verschränkt sie kulturwissenschaftliche Erkenntnisse mit der biographischen Erzählung, die sich besonders stark für den psychischen Druck interessiert, der den Vater zum Handeln bewegt und zur Innenschau anregt. Die „prekäre Position“ der Mischlinge habe „ein heftiges Ringen um Identitäten“ zur Folge gehabt – genau das, was der Forschung zufolge „transkulturelle Identitätskonstruktionen“ ausmacht, wie die Autorin anmerkt. „Insbesondere Wehrmachtsangehörige, die Kenntnis von den Massenverbrechen an der jüdischen Bevölkerung im Osten hatten, muss die Frage des eigenen Verhältnisses zur Rassendifferenz […] in die Knochen gefahren und nur durch extreme Verdrängung aus dem Kopf gegangen sein.“ Die Unsicherheit ihrer Lage erkläre laut Historikern auch, weshalb „Mischlinge“ nur in geringem Ausmaß am Widerstand beteiligt gewesen seien. Umgekehrt besaßen sie in den Augen der Nazis besonders „gefährliches Potenzial“, da befürchtet wurde, sie könnten sich aufgrund der Lage ihrer jüdischen Angehörigen gegenüber dem Regime als illoyal erweisen. Die „Unschärfe der Ausgrenzungsmechanismen“ habe zudem die Entstehung eines Gruppenbewusstseins verhindert.

Welche diskriminierenden Erfahrungen die Familie in Kirn im Hunsrück auch vor der Machtergreifung machen musste, darüber wissen die Nachkommen eher wenig. Einschneidend muss allerdings für den Vater gewesen sein, dass ihm der Weg zum Abitur verwehrt wurde. Im Sommer 1939 trat er in die Wehrmacht ein und stieg dank Ausnahmeregelungen und der späteren Fälschung bis zum Oberleutnant auf. An der Ostfront beobachtete er 1941 bis 1942 die zunehmende Verrohung der Wehrmacht, die an zahlreichen Kriegsverbrechen beteiligt ist, flüchtet sich in Heroismus und Kolonialfantasien. Der Wechsel nach Italien, wo er Ende 1943 eintrifft, ändert und erweitert die Perspektive. Zunehmend erhält der Offizier Einsicht in den Krieg der Nazis gegen die Partisanen, von ihnen als „Banditen“ verunglimpft – Erfahrungen, die später auch seine Position als Sozialdemokrat in verteidigungspolitischen Fragen in den heftigen Rüstungsdebatten prägten. Wilhelm Dröscher war ausgehend von diesen Erfahrungen einerseits gegen die dauerhafte Präsenz der alliierten Truppen im Lande und vertrat in der Ablehnung der Aufrüstung andererseits eine Position der Defensive.

Wilhelm Dröschers Vorstellungen von Führertum, geistiger Elite und Masse waren stark durch seine bündische Jugend und hier insbesondere durch sein Engagement bei der jugendbewegten Organisation der Nerother beeinflusst. Diese bezeugten in manchen Fragen eine Nähe zu nationalsozialistischen Ideen, jedoch ermöglichte die Prägung durch den Jugendbund auch eine Abgrenzung, da Herkunft und Rassismus hier kaum eine Rolle gespielt hatten. Für heutige Leser sicher schwer nachzuvollziehen ist die – von Dröscher auch in höchster Bedrängnis in Briefen so bezeichnete – Vaterlandsliebe, die für uns kaum mit der Position und Gefährdung des „Mischlings“ vereinbar scheint. Den Ausweg aus diesem Zwiespalt habe der Vater „in Selbstüberhöhung oder auch in Anpassung (Mimikry)“ gesucht. Das machen auch die Briefe deutlich, die einen jungen Mann auf der Suche nach einem eigenen Platz in der engmaschigen Hierarchie der Wehrmacht zeigen.

In diesem Sinne macht sich tatsächlich, wie von der Autorin nachgezeichnet, in den Zeugnissen des Vaters ein „Eigensinn“ aus, „der sich dem Zeitgeist sperrte“. Dies zeigt sich noch 1957, als Dröscher einen Beitrag zur Verteidigungsfrage mit dem Titel „Europa den Partisanen“ verfasste und darin, wie angedeutet, ausgehend von den Erfahrungen in Italien mit dem verbrecherischen Kampf der Nazis gegen die Partisanen für eine „Verteidigungsgemeinschaft von unten“ plädierte.

Nach dem Krieg kehrte Dröscher zurück in seine Heimatstadt. In den ersten Nachkriegsjahren aktiv in der Kommunistischen Partei und rasch zum Amtsbürgermeister aufgerückt, wechselte er 1949 in die SPD. Der als „guter Mensch von Kirn“ bekannte Politiker engagierte sich für soziale Angelegenheiten, gegen die Wiederaufrüstung und die Notstandsgesetze. Gerade deshalb mutet der Autorin dieses wichtigen Buches das Schweigen des Vaters so bitter an. In einem der wenigen Dokumente, in denen er zur eigenen Geschichte als „Mischling“ explizit Stellung nimmt, einem Brief von 1946, ist das unvollständige Wort „Viertel“ durchgestrichen und ersetzt durch „nicht ganz arisch“. Die handschriftliche Korrektur zeigt auch, wie mühsam das nationalsozialistische Klassifizierungsmuster zu durchbrechen und – das macht die Tochter besonders deutlich – wie schwierig noch das Abschütteln dieser Diskriminierung in Worte zu fassen war.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Barbara Dröscher: Wer sagt, dass Zwiespalt Schwäche sei? Das Leben des jungen Wilhelm Dröscher. 1920-1948.
Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2015.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783801204723

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