Revolution und Gegenrevolution

Thankmar von Münchhausen erzählt die Geschichte der Pariser Kommune von 1871

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschen Regimenter standen im Frühjahr 1871 Gewehr bei Fuß und schauten den Ereignissen in der französischen Metropole gelassen zu. Echte Gefahr drohte ihnen davon nicht. Frankreich war militärisch besiegt, das Kaiserreich zusammengebrochen, Napoleon III. in Kassel-Wilhelmshöhe interniert. Paris hatte nach mehrwöchiger Belagerung kapituliert. Das bonapartistische Regime war durch die Republik abgelöst worden. Deren Repräsentanten, in Europa ohne Bundesgenossen und ohne diplomatische Unterstützung, sahen sich gezwungen, einen Waffenstillstand zu vereinbaren, der Anfang März 1871 durch die neu gewählte Nationalversammlung und die dort tonangebende konservative Mehrheit ratifiziert worden war. In der Hauptstadt empfanden dies viele als Verrat, die Mehrheit der Nationalgarde, die ihre Waffen behalten durfte, dachte so, auch in den Quartieren der Arbeiterschaft und im Kleinbürgertum gärte es. Die Situation spitzte sich zu, als am 18. März Armeeeinheiten versuchten, Geschütze der Nationalgarde in ihren Besitz zu bringen. Nach dem Scheitern dieser mangelhaft koordinierten Aktion, bei der zwei Generäle von der aufgebrachten Menge zu Tode gebracht wurden, zog sich die Regierung unter Adolphe Thiers mitsamt den ihr ergebenen Truppen ins benachbarte Versailles zurück; wenige Tage später konstituierte sich die Kommune von Paris. Dem Parlament und der Exekutive in Versailles galten die Kommunarden als Aufrührer. Der Beschluss, gegen sie zu Felde zu ziehen, konnte auf teils passive, teils aktive Unterstützung des deutschen Militärs rechnen. Denn schließlich: Der „Aufstand in Paris“, so Kanzler Bismarck Ende April, sei ein gegen alle bürgerliche Ordnung gerichteter „Versuch zur Verwirklichung sozialistischer und kommunistischer Phantasien“. Dem einen Riegel vorzuschieben, lag im beiderseitigen Interesse.

Im historischen Bewusstsein der Deutschen spielen die 72 Tage der Pariser Kommune eine nur marginale Rolle. Die Frage, ob damit der Revolutionszyklus seit 1789 ans Ende gelangt, oder ein neuer, bis zu den sozialistischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts reichender eröffnet worden sei, scheint kaum noch jemanden zu interessieren. Das Buch des langjährigen Frankreich-Korrespondenten der „FAZ“, Thankmar von Münchhausen, könnte hier einen Wandel einläuten, könnte Anstöße liefern, sich den Ereignissen von 1871 jenseits ideologisch verfestigter Vorannahmen noch einmal zuzuwenden. Denn der Autor erzählt die Geschichte der Kommune ebenso anschaulich wie kenntnisreich und detailliert, und er nennt sie – durchaus provokativ – die erste „Diktatur des Proletariats“, gleichsam eine Präfiguration dessen, was sich 1917 als revolutionäre Machtergreifung der Bolschewiki in Rußland vollzog. Anders als diese entbehrten die Kommunarden in Paris jedoch einer entschlossenen, in den eigenen Reihen unbestrittenen Leitfigur. Von einer selbsternannten, theoretisch wie programmatisch sattelfesten und von ihrer welthistorischen Mission überzeugten revolutionären Avantgarde konnte keine Rede sein. In den führenden Positionen waren zwar etliche Angehörige aus den unterbürgerlichen Schichten zu finden, aber das waren überwiegend Handwerker aus den kleinen Werkstätten, kaum Industriearbeiter. Das Proletariat im engeren Sinne glänzte hier eher durch Abwesenheit, zu den Stichwortgebern der Bewegung gehörte es jedenfalls nicht. Diese Funktion war den Journalisten vorbehalten, ehemaligen Studenten, Bohemiens, heimgekehrten Exilanten, Leuten mit bürgerlichem Hintergrund.

Auf den öffentlichen Gebäuden der Stadt wehten rote Fahnen, das Symbol gesellschaftlicher Gleichheit, das „schließlich alle Franzosen in einer einzigen Klasse, der Arbeiterklasse, zusammenbringen“ werde, wie es am 30. März 1871 im „Journal Officiel“ hieß. Selbst auf der Kuppel des Panthéon, jener zur nationalen Ruhmeshalle umfunktionierten Kirche Ludwigs XV., musste dafür das vergoldete Kreuz weichen. In Versailles bestimmte die Trikolore das Bild, das Tuch der Großen Revolution von 1789. Deren Erbe reklamierte die Exekutive unter Thiers, die Kommune hingegen richtete den Blick in die Zukunft, beglaubigt durch die von ihr getroffenen und diskutierten sozialpolitischen Reformen, die den Radikalen als Vorstufe einer sozialistischen Umwälzung galten, tatsächlich über punktuelle Maßnahmen nicht hinausgelangten.

Greifbarer war aber auch hier die Anlehnung an die Traditionen von 1789, die je nach Standort des Betrachters den negativen oder positiven Referenzrahmen bildeten. Dazu gehörten revolutionäre Klubs und die Errichtung eines Wohlfahrtsausschusses, dessen Kompetenzen indes unklar blieben, ferner die Trennung von Kirche und Staat und als deren Konsequenz die strikt laizistische Erziehung in den Schulen, dazu gehörten Presseorgane und politische Fraktionen, die sich mit den Namen der Vergangenheit schmückten, und die demokratische, aber nie in Kraft getretene Verfassung von 1793 zum Modell erhoben. Nicht zuletzt vor diesen Horizonten schlummerten die nationalen und globalen Perspektiven, von denen manche der Akteure träumten, steckte die Erwartung, dass Paris der Ort sei, von dem aus sich die Erlösung nicht allein Frankreichs, sondern der Menschheit ins Werk setzen ließe. Jedenfalls sah man sich am Beginn einer neuen Epoche. Mit ihr verschwinde, wie die Erklärung an das französische Volk vom 19. April formulierte, „die alte Welt von Regierung und Kirche, von Militarismus und Beamtenherrschaft, von Ausbeutung, Spekulation, Monopolen, Privilegien“ im Orkus der Geschichte.

„Eine Atmosphäre des Unwirklichen“ habe die Beratungen der gewählten Vertreter des revolutionären Paris umgeben, schreibt Thankmar von Münchhausen. „Die Kommune verliert zu viel Zeit mit Bagatellen und persönlichen Querelen“, kommentierte am 13. Mai 1871 Karl Marx, der von London aus die Geschehnisse jenseits des Kanals mit intensivem Interesse verfolgte. Unter den Funktionsträgern der Kommune herrschte ein erhebliches Maß an Fluktuation, von kontinuierlichem Verwaltungshandeln konnte kaum die Rede sein, zumal nur ein geringer Teil der öffentlichen Bediensteten auf ihren Posten geblieben war. Die alltäglichen Bedürfnisse der Einwohnerschaft zu befriedigen, gelang zunehmend weniger. Da es an zahlungskräftiger Kundschaft mangelte, schlossen Restaurants, Fleischer, Bäcker und Kaffeehäuser ihre Pforten, viele der sonst dicht bevölkerten Boulevards wirkten menschenleer, der amerikanische Gesandte, der in der Stadt ausharrte, sah allenthalben „Verwüstung, Elend, Ruin“. Die „großen Fabriken und Werkstätten“, auch „die Kaufhäuser“, wo man gewöhnlich „die Wunder der Pariser Industrie“ besichtigen könne, seien geschlossen: „Vermögen, Geschäft, privater und öffentlicher Kredit, Industrie, Arbeit, Finanztätigkeit sind in einem Gemeinschaftsgrab beerdigt.“

In den Straßen hatte man hier und da Barrikaden errichtet, aber „ein Gesamtplan“ dafür, notiert von Münchhausen, war nicht auszumachen. Gleiches galt für die Vorbereitungen zur Verteidigung gegen die Armeekorps der Regierung, die sich von Versailles aus in der zweiten Aprilwoche anschickten, verlorenes Terrain wieder gutzumachen, im Süden und Westen – also da, wo keine deutschen Truppen standen – einen Belagerungsring um Paris zu ziehen und seit dem 21. Mai Schritt für Schritt die Quartiere der Metropole zurückzuerobern. In den Milieus des Bürgertums hatte man darauf lange gewartet. Edmond de Goncourt, der das Treiben der Kommunarden voller Abscheu verfolgt hatte, hörte des Nachts die Marschtritte der sich zur Abwehr sammelnden Einheiten der Nationalgarde, die sie begleitenden Trommeln und Trompeten. Der Klang der Sturmglocken, der von den Kirchen zu ihm herüberdrang, erfüllte ihn, wie er seinem Tagebuch anvertraute, „mit Freude“, denn es war ihm das untrügliche Signal dafür, das nun der „Todeskampf der verhaßten Tyrannei“ eingeläutet würde.

Beide Seiten fochten mit einem hohen Maß an Erbitterung. Pardon wurde nicht gegeben, weder hüben noch drüben. Verteidiger und Angreifer überboten einander an monströsen Scheußlichkeiten, entfesselten eine unkontrollierte Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Die Erschießung von Geiseln, darunter der Erzbischof von Paris und zahllose Geistliche, lieferte den Regierungstruppen den Vorwand für beispiellose Mordaktionen. Dabei kamen, resümiert von Münchhausen, „mehr Menschen ums Leben, als Kämpfer hinter den Barrikaden standen“. Es war der „Drang nach Vergeltung“ und die „Lust am Töten“, die sich hier austobten, toleriert von den politisch Verantwortlichen, die der Armee „carte blanche“ gaben, um die Bedrohung der bürgerlichen Ordnung durch die Arbeiterschaft, um die „soziale Gefahr“, die in ihren Augen von der Kommune ausging, „auf absehbare Zeit zu beseitigen“.

Zwei Dutzend Ausnahmegerichte, die jeder gesetzlichen Grundlage entbehrten, verrichteten ganze Arbeit, Massenexekutionen waren an der Tagesordnung. „Zwischen Schuldigen und Unschuldigen wird kein Unterschied mehr gemacht“, beobachtete ein Journalist: „Der Verdacht ist in aller Augen. Anzeigen nehmen überhand. Für ein Ja oder Nein wird man festgenommen und erschossen.“ Paris, die Stadt des Lichts, wurde zum großen Friedhof. Wie viele Menschen dem mörderischen Treiben zum Opfer fielen, ist nicht bekannt. Zeitgenössische Schätzungen beliefen sich auf 17.000. Edmond de Goncourt, um noch einmal ihn zu Wort kommen zu lassen, war vollauf überzeugt von der historischen Notwendigkeit dessen, was sich vor seinen Augen abspielte, denn es gewähre einen willkommenen Aufschub: „Das bedeutet zwanzig Jahre Ruhe, die die alte Gesellschaft vor sich hat, wenn die Staatsmacht alles wagt, was sie in diesem Augenblick wagen kann.“

Der Sieg im Krieg um Paris, die Niederwerfung der Kommune war die eigentliche Ge-burtsstunde der Dritten Republik. Sie vollzog sich im Zeichen der Gegenrevolution. Von Adolphe Thiers stammt der Satz: „Die Republik wird konservativ sein oder nicht bestehen.“ Deren Referenzpunkt wurde zwar nicht die jakobinische Schreckensherrschaft, wohl aber – in liberalem Gewand – die Revolution von 1789 mitsamt der darin eingeschriebenen Verheißung von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Die Kommune von 1871 ist hingegen kein erinnerungspolitischer Merkposten. Im offiziellen Gedenken fand sie, so der Autor abschließend, „keinen Platz“: sie figuriert als „unbegreiflicher Ausbruch nationaler Zwietracht.“ Allein den Marxisten blieb es vorbehalten, die Kommune – um eine schon vor Jahren vom Historiker Charles Bloch geprägte Formulierung aufzugreifen – zum „leuchtenden Wahrzeichen der sozialistischen Revolution“ zu erheben.

Titelbild

Thankmar von Münchhausen: 72 Tage. Die Pariser Kommune 1871 – die erste „Diktatur des Proletariats“.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
528 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044402

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