Eine schrecklich nette Familie

Tilmann Lahme erzählt aus liebevoller Distanz von den Manns

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nur in den rätselhaften Gleichungen der Liebe lässt sich Logik finden“, lässt Ron Howard in seinem Film A Beautiful Mind (2001) den Mathematiker Nash in dessen Nobelpreisrede sagen. Auch Thomas Mann hat den Nobelpreis bekommen. Um Liebe ging es da nicht. Am 12. November 1929 brachte ihm die Lieblingstochter das Telegramm aus Stockholm ins Arbeitszimmer. Er gab sich bescheiden. Arno Holz (inzwischen verstorben) hätte den Preis „mindestens ebensogut verdient“. Einen Monat zuvor hatte Mann noch gegen eine Wahl von Holz intrigiert, „absurd und skandalös“ wäre das, sagt er zu Gerhart Hauptmann. Der „Zauberer“ als scheinheiliger Patron: Tilmann Lahme scheut sich in Die Manns. Geschichte einer Familie nicht, auch von den unangenehmen Seiten des Genies zu erzählen. Und zwar im Rahmen der Mannschen Familiengeschichte, die wahrlich Bände füllt. Wohlgemerkt: Es geht um die Familie. Werk und „Autorherrschaft“ (Alexander Honold) bleiben über die Geschichte des egozentrischen Patriarchen erhaben. Keine Kommentare zu den Romanen und Erzählungen.

Von der Veröffentlichung der Tagebücher Manns (1977–1995) bis zu Heinrich Breloers dreiteiligem Fernseh-Epos Die Manns. Ein Jahrhundertroman (2001) spannt sich ein Bogen der Neugier auf eine Familie, die sehr vorzeigbar und zugleich ziemlich abschreckend war. Sechs Kinder, reihum im Internat, vier beim Familientherapeuten: „auch kein Spaß“ (Hermann Kurzke). Familiengeheimnisse, Tabus, Querelen, Depressionen, Ressentiments kommen da zur Sprache, Drogen, Homosexualität, latent und manifest, Suizide, auch bekanntlich nicht sehr nette Äußerungen übereinander. Ob das „Monstrum“ zuhause sei, fragte die Ehefrau Katia Mann (1883–1980) manchmal. Die „Kronprinzessin“ Erika Mann sagte über ihre Schwester Monika Mann, die Problemtochter sei so „nutzlos“ wie die Ziervasen der Urgroßmutter. Andererseits darf man nicht vergessen, dass Thomas Mann die Extravaganzen seiner Künstlerkinder reichlich und regelmäßig finanzierte, noch im Todesjahr 1955 blieben aus dem Erbe je 38.000 Mark jährlich für die noch lebenden Kinder.

Das waren Erika (1905–1969), die eine erfolgreiche Schauspielerkarriere machte und mit dem Bruder Klaus (1906–1949) durch die Welt tourte, Golo (1909–1994), der nach dem Krieg als Historiker berühmt wurde, aber als einziger nicht im Familiengrab bestattet werden wollte, Monika (1910–1992), die Kinderbücher schrieb, Elisabeth (1918–2002), die Meeresforscherin, und Michael (1919–1977), der zuerst Musiker wurde, dann Germanist in Berkeley.

Lahme trägt die Fakten der Jahre 1922 bis 2002 in Seelenruhe zusammen, mit dem Laborblick des Chemikers, der die Elemente kennt, die er mischt, ohne Eifer und ohne Zorn. Das macht die Darstellung sympathisch. Wie das funktioniert, erhellt bereits das „Vorspiel“. Es ist das Jahr 1936, im Dezember, die vielleicht größte Wende im Leben der Manns. Thomas Mann wird ausgebürgert, dessen beraubt, worüber er schrieb und wofür er stand. Die Schmach, keine Deutsche mehr zu sein, sondern in der Sprache der Unmenschen als „Volksschädlinge“ zu gelten, traf die Familie tief. Alle Kinder, Katia zumal, standen hinter ihm, ja waren ihm teilweise mit ihrer öffentlichen Ablehnung des Nationalsozialismus schon voraus, als er, endlich, als Repräsentant des besseren Deutschland, ganz in der Tradition der „Göttinger Sieben“, seinen Protestbrief an den Dekan der Bonner Universität schrieb, der ihm den Ehrendoktor aberkannt hatte.

Michael Mann, siebzehn Jahre alt, hatte gerade einen Skandal provoziert: eine Ohrfeige für den Direktor des Konservatoriums, der ihn ermahnt hatte, wurde von den Eltern als „Recontre“ beschönigt. Elisabeth hatte sich gerade in den 17 Jahre älteren Freund des Bruders Klaus verliebt, in Fritz Langhoff, der aber Erika Mann begehrte. Und die liebte am meisten ihre Freiheit und ihr Kabarett Die Pfeffermühle. Klaus wiederum hatte gerade seinen Roman Mephisto veröffentlicht, seine grimmige Lesart des Faust-Themas, doch was die amerikanischen Verleger wollten, waren Vorträge des Sohnes über den Vater. Und Monika lag Weihnachten 1936 mit Depressionen im Bett.

In diesem Brettspielrhythmus sortiert Lahme ein Familienleben, das in seinen Zerreißproben ein deutsches, europäisches und transatlantisches Jahrhundert erfasst. Erfolg und Missgunst, Bekenntnis und Geheimniskrämerei, Pflicht und Vergnügen liegen nah beieinander, ein Bühnenstück mit vielen unausweichlich tragischen Abgängen. Es ist die Familien- und Alltagsgeschichte, nicht die Kulturgeschichte, die den Biographen interessiert. Nicht als erster, aber als wohl bislang souveränster Erzähler hat sich Lahme des gesamten Künstlerclans angenommen. An Material hat es ihm nicht gemangelt. Neben den 3.000 Familienbriefen gibt es Autobiographien und Tagebücher von Katia und den Kindern (und nur zu Michael fehlt bisher eine Biographie), dazu die noch längst nicht ausgewertete Autobiographie von Frido Mann, dem Enkel (Achterbahn, 2008).

Klaus Mann hat in sein Tagebuch geschrieben: „Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.“ In die rätselhaften Gleichungen dieses Familienlebens hat Lahme eine polybiographische Logik gebracht. Und das durchaus mit großer Liebe zu den sonderbaren Geschichten, die darin stecken.

Titelbild

Tilmann Lahme: Die Manns. Geschichte einer Familie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
448 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100432094

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