Unser Schmerzensmann

In seinem neuen Roman erzählt Michael Kumpfmüller von männlicher Identitätsbildung in der Gegenwart

Von David BrehmRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Brehm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Verkopft, gehemmt, unsicher, nervös und ängstlich, melancholisch und ratlos“. Mit diesen nicht eben schmeichelhaften Worten hat vor einigen Jahren die „Zeit“-Autorin Nina Pauer einen neuen sozialen Typus zu charakterisieren versucht: den „Schmerzensmann“. „Der junge Mann von heute“, so Pauers Diagnose, wisse überhaupt nicht mehr, wie er sich verhalten solle in einer Welt mit immer unklarer definierten Geschlechterrollen. Anstatt für die Freiheit dankbar zu sein, nicht mehr den immer gleichen, stereotypen Männlichkeitsidealen genügen zu müssen, verheddere er sich in endlosen Selbstzweifeln, werde zusehends passiv und entscheidungsschwach. Pauers Artikel gehört zu den prononciertesten Wortmeldungen innerhalb einer anhaltenden Debatte zur, wie allenthalben zu lesen ist, offenbar akuten „Krise der Männlichkeit“.

Michael Kumpfmüllers neuer Roman Die Erziehung des Mannes ist nun als literarischer Beitrag zu dieser Debatte angetreten. Sein Ich-Erzähler Georg, ein Komponist, ist als typischer Vertreter der Babyboomer-Generation modelliert und stellt eine Art Vorläufer der von Pauer ins Visier genommenen „Schmerzensmänner“ dar. Wie diese ist er notorisch willensschwach und besitzt lange keine klare Vorstellung davon, wer er ist und wer er sein will. Am Anfang des Romans trennt sich Georg von seiner langjährigen Freundin, die nie mit ihm schläft, ihm immer fremder wird und irgendwann wie ein Gespenst erscheint. Er lernt Julika kennen, mit der alles anders werden soll. Von ihr fühlt er sich „wiederhergestellt“, „als Mann, als sexuelles Wesen“. Die beiden beginnen ein gemeinsames Leben, heiraten, bekommen Kinder, alles auf Julikas Initiative hin. Georg scheint sein Leben einfach so zu passieren. So wie es ihm eines Tages auch einfach so passiert, dass er sich neu verliebt. Seine Ehe ist längst ein Trauerspiel, er verlässt Julika und die drei Kinder. Es beginnt ein zäher, jahrelanger Scheidungskrieg. Jetzt aber, als er um seine Kinder kämpfen muss, macht Georg tatsächlich eine spürbare „Erziehung“ durch, er übernimmt Verantwortung und entwickelt Selbstvertrauen, fast so etwas wie Gleichmut.

Kumpfmüllers Figuren, das fällt schnell auf, haben schwergewichtige literarische Vorbilder: Der junge, passive und handlungsträge Georg ist Frédéric Moreau nachgebildet, dem Protagonisten von Gustave Flauberts Erziehung des Herzens, das schon der Romantitel Die Erziehung des Mannes unübersehbar zitiert. Und zurecht hat Ursula März in der schönen, stolzen, irgendwann enttäuschten und verbitterten Julika eine entfernte Verwandte der gleichnamigen Geliebten von Max Frischs Stiller erkannt, diesem vielleicht radikalsten Selbstverleugner der deutschen Literatur. Wie Stiller bewohnt Georg sein Leben zeitweilig wie eine Gefängniszelle – und kann nicht ausbrechen aus der Enge seines Ichs. Irgendwann aber lernt er, wundersam genug, sich mit sich selbst zu arrangieren. Anders als Flaubert, so merkt man am Ende des Romans, bemüht Kumpfmüller den tonnenschweren Erziehungsbegriff daher auch keineswegs, um ihn zu entlarven oder zu parodieren. Er hängt tatsächlich an diesem Konzept.

Deutlich wird das auf allerdings fast schon komische Weise auf den letzten Seiten des Romans, als der Erzähler sich mit seiner wiedergefundenen Jugendliebe aufs Land zurückgezogen hat, wo er einen Garten anlegt, sich seiner erwachsen gewordenen Kinder erfreut und auf eine erfolgreiche Karriere als Komponist zurückblickt. Seine „Erziehung“ hält er „für weitestgehend abgeschlossen“. Dieser versöhnliche Ausgang unterscheidet Kumpfmüllers Männerlebensentwurf diametral vom Flaubert’schen, dessen Protagonist am Ende wehmütig sein verpasstes Glück beklagt. Den gealterten Georg dagegen sollen wir uns tatsächlich als glücklichen Menschen vorstellen. Ohne jede Ironie empfindet er sich ineins mit sich selbst und der ländlichen Natur: „Auch in der Stadt wiederholten sich die Abläufe, aber hier, im Wald, schien es sinnfällig zu sein, es war nicht anders denkbar. Im Herbst rechte man das Laub, im Frühling machte man neue Erde; irgendwann blühte es, im Sommer stieg man in die Bäume, um das Obst zu ernten, bevor man im Herbst von Neuem das Laub rechte.“

Das könnte in seiner symbolischen Bedeutungsschwere glatt in einem Text des Poetischen Realismus stehen, dem es ja am Ende auch stets auf „Sinnfälligkeit“, auf Verklärung ankam. Überhaupt liest sich der Roman – obwohl er auf kluge Weise gegenwartsgesättigt ist – streckenweise so, als sei er mit der Nadel des 19. Jahrhunderts gestrickt. Denn was Kumpfmüller ohne jede Brechung reaktiviert, sind eben die klassischen Strukturen des großen, bürgerlichen Entwicklungsromans, in dem sich – wie es pointiert schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel formuliert hat – „das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt“. Genau diese Entwicklung, „die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit“, wie sie der Realismus immer wieder durchspielt, hat Georg am Ende des Romans durchlaufen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kumpfmüller dieses Modell in die Gegenwart verlegt, ist eigentlich ungeheuerlich. Aber es funktioniert.

Im konventionellen Sinne realistisch ist auch die Sprache des Romans, die betont unterorchestriert ist, sich nie verselbständigt, nie zum Problem wird, den reibungslosen Handlungsfluss nie unterbricht. Und in der Tradition des Realismus steht auch das konsequente Bemühen des Autors, Georgs Fall als exemplarisch erscheinen zu lassen, sein Leben immer auch auf männliche Identitätsfragen als solche hin transparent zu machen. Dabei vermeidet der Roman es glücklicherweise sorgfältig, ins Phrasenhafte, Thesenscheppernde, rein Schablonenhafte abzugleiten. Ganz im Gegenteil: Kumpfmüllers Text ist bei aller formalen Konventionalität von beeindruckender Leichthändigkeit und Menschenkenntnis, seine Komposition souverän, sein Ton dezent und seine Figuren plastisch.

Auch auf die Frage, warum er so in sich geschlossen und realistisch erzählt ist, gibt der Text auf subtile Weise eine Antwort: Die Erziehung des Mannes nämlich ist, ganz nebenbei, auch ein Künstlerroman. Als junger Mann, so erfahren wir, quält sich Georg mit seinen Kompositionen, laboriert lange an seinen wissenschaftlichen Texten herum und reagiert wohl deshalb auch so empfindlich darauf, dass seine Freundin „Probleme mit dem Schreiben“ hat, „Wochen für die ersten Sätze ihrer Seminararbeiten“ braucht, ihre Briefe „sprunghaft“ und zusammenhanglos formuliert. Angesichts solcher Angst vor dem Unfertigen und Bruchstückhaften von Texten ist die Souveränität, mit der Georg als älterer Mann sein Leben vor uns auffächert, als erfolgreiche Kompensation zu verstehen. Ein Werk geschaffen, seine (künstlerische) Potenz bewiesen hat er – der vorliegende Roman legt davon Zeugnis ab – eben nicht nur als Komponist, sondern auch als Erzähler. So, erzählend, kann Georg eine Form von Autorschaft, von Verfügung über sein Leben beanspruchen, die er faktisch kaum je hatte.

In einem Interview mit „Deutschlandradio Kultur“ hat Michael Kumpfmüller schelmisch seine Vorfreude darauf bekundet, wohl „Prügel zu beziehen“ für sein trotz des gütlichen Endes, wie man meinen könnte, allzu männerweinerliches Buch. Und natürlich kann man sich, wie etwa in der „Welt“ geschehen, aufregen über die vermeintlich allzu „bequeme Wohlfühl-Ästhetik“, über die „monotone Gelsenkirchen-Atmosphäre“ dieses Romans, und über seinen „zwischen Empfindsamkeit und schlaffem Selbstmitleid“ mäandernden Protagonisten.

Man kann diesem Buch Larmoyanz vorwerfen, gewiss. Man kann spöttisch herabsehen auf seinen Erzähler, auf seine Verklemmtheiten und auf sein enges Weltbild und mit alldem nichts zu tun haben wollen. Man kann aber auch – wenn man sich nicht verpanzert – in Georgs Unsicherheit, in seinem Opportunismus, in seinen Ängsten und trüben Hoffnungen etwas von sich selbst erkennen. Die eigene Ratlosigkeit dem Leben gegenüber oder die Furcht davor. Dann, unversehens, rückt einem dieser Roman beklemmend nah und schaut tief in einen selbst hinein. Und fragt, ganz vorsichtig: Georg, der Schmerzensmann, bist das nicht auch ein bisschen Du?

Titelbild

Michael Kumpfmüller: Die Erziehung des Mannes. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044812

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